Erben

Der Einfluss von Erbschaften auf die Verteilung von Wohlstand wird immer grösser, besonders in der Schweiz, wo die Summe der vererbten Vermögen rasant ansteigt. Diese moneta beleuchtet verschiedene - individuelle und gesellschaftliche - Facetten des Erbens.
Illustration: Claudine Etter

Moneta #1-2020
Editorial

Erben und Chancengleichheit

Übers Erben schweigt man gern. Sei es aus schlechtem Gewissen, ohne Leistung ein ­Vermögen erhalten zu haben, sei es, weil Nicht-Erbende nicht als indiskret oder neidisch erscheinen wollen. Das Unbehagen hat mit einer grundsätzlichen Ambivalenz zu tun: Erben widerspricht dem Leistungsprinzip und der Chancengleichheit. Dass die einen von Geburt an besser­gestellt sind und mehr Chancen auf ein sozial und wirtschaftlich erfolgreiches Leben haben als die anderen, widerspricht den Grundsätzen einer liberalen und demokratischen Gesellschaft. Erben wirkt in aufgeklärten Demokratien wie ein feudales Relikt, ein seltsames Überbleibsel aus vergangenen Jahrhunderten, als die gesellschaftliche Position der oder des Einzelnen durch die familiäre Abstammung bestimmt war.
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Diese Ungleichzeitigkeit – und Ungerechtigkeit – tritt immer deutlicher hervor. Die Analyse des französischen Star-Ökonomen Thomas Piketty zeigt, dass Erbschaften volks­wirtschaftlich immer mehr Gewicht erhalten. Dieser Befund gilt auch für die Schweiz: Gemäss einer aktuellen Studie von Marius Brülhart von der Universität Lausanne wachsen die vererbten Vermögen in der Schweiz rasant. 2020 werden sie geschätzte 95 Milliarden Franken betragen – 1990 waren es noch 36 Milliarden. Gleichzeitig ist die steuerliche Belastung auf Erbschaften als Folge des interkantonalen Steuerwettbewerbs gesunken: Während 1999 ein geerbter Franken mit durchschnittlich 4,1 Rappen besteuert wurde, sind es heute noch 1,4 Rappen.

Die mangelhafte Besteuerung verstärkt also die Ungerechtigkeit des Erbens: Während erarbeitete Einkommen progressiv versteuert werden, sind Erbschaften steuerlich kaum noch belastet, in vielen Kantonen überhaupt nicht mehr. 
Das grosse mediale Echo auf Pikettys neues Buch (das dieser Tage unter dem Titel «Kapital und Ideologie» auf Deutsch erscheint) und auf die Lausanner Studie ist ein Hinweis darauf, dass die Zeit reif sein könnte für eine grundsätzliche Diskussion über das Erben, Chancengleichheit und Erbschaftssteuern.

Ich wünsche Ihnen darum viel Vergnügen mit unserer neuen moneta, die verschiedene – individuelle und soziale – Facetten des Erbens beleuchtet.
 
Katharina Wehrli
Redaktionsleiterin moneta
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