In der Schweiz werden dieses Jahr geschätzte 95 Milliarden Franken vererbt und verschenkt. Das ist beispielsweise doppelt soviel wie die Summe aller ausbezahlten AHV-Renten. Während die AHV explizit darauf abzielt, Einkommensunterschiede zu reduzieren, werden Erbschaften gemeinhin als Treiber der wirtschaftlichen Ungleichheit betrachtet. Die Initianten der eidgenössischen Erbschaftssteuervorlage von 2015 priesen ihre Idee denn auch in erster Linie als «Gegensteuer» zu einer immer ungleicheren Verteilung der Vermögen. Die Vorlage wurde deutlich verworfen. Könnte es nun sein, dass die Initianten nicht nur mit ihrer Einschätzung der Volksmeinung, sondern gar mit ihrer zentralen Prämisse falsch lagen? Befeuern Erbschaften die Vermögensungleichheit überhaupt?
Seit der Diskussion von 2015 wurden zwei auf Schweizer Daten beruhende Studien zu diesem Thema veröffentlicht. Die Berner Soziologen Ben Jann und Robert Fluder haben Steuerdaten aus dem Kanton Bern über den Zeitraum 2002–2012 ausgewertet. Die Studie dokumentiert, dass 18 Prozent der Erbschaften an Erben fliessen, die ohnehin schon zum Top-1-Vermögensprozent gehören. Die Autoren schliessen aufs Matthäus-Prinzip: «Wer hat, dem wird gegeben». Es ist allerdings denkbar, dass Erbschaften die Vermögenungleichheit verringern, auch wenn Reiche im Schnitt mehr erben als Arme. Nehmen wir ein einfaches Zahlenbeispiel. Ein «armer» Erbe mit 50‘000 Franken Vermögen erhält 100‘000 Franken, und sein reicher Nachbar mit 5 Millionen Franken Vermögen erbt eine Million. Der Reiche erbt zehnmal mehr als der Arme: Wer hat, dem wird gegeben.