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18.03.2020 von Roland Fischer

Erben in verschiedenen Kulturen

Vom Emmental nach Indien: Eine interkulturelle Rundschau mit beispielhaften Einblicken offenbart, wie unterschiedlich Menschen in verschiedenen Kulturen mit dem Thema «Erben» umgehen.

Artikel in Thema Erben
Illustration: Claudine Etter

Baskenland, Spanien

Im Baskenland galt beim ­Ver­erben von Land bis in jüngste ­Vergangenheit ein Ein-Erben-­System, das den Eltern freie Hand liess, wen sie als den geeignet­sten Erben erachteten. Dabei ­konnten im Prinzip auch Töchter berücksichtigt werden. Das ­subjektive System schürte aber ­familiäre Konflikte, es stellt ­deshalb eine Ausnahme in der ­Region dar. ­Katalonien zum ­Beispiel kannte ein gegenteiliges System: eine strikte Erstgeborenen-Nachfolgeordnung, die den ältesten Sohn zum Alleinerben machte. In Familien ohne Söhne sorgten eigens einberufene Familienräte für eine möglichst konfliktfreie Regelung des Landerbes.

Emmental, Schweiz

Die Bauern im Schangnau im ­hinteren Emmental praktizieren zum Teil heute noch die (patri­lineale) Ultimogenitur, das heisst die ­Berücksichtigung des jüngsten Sohnes bei der Weitergabe des Hofs. Die Geschwister werden nicht ausbezahlt – so stellt man ­sicher, dass die grossen Höfe ­zusammenbleiben. Früher erhielten die älteren Brüder ein paar Kühe und wurden «Cowboys», sie wirtschafteten auf eigene Rechnung ohne Hof. Die Ultimogenitur ist weltweit verbreitet, zum Beispiel bei den Samen in Lappland, den Fur in der Region Darfur oder den Gagausen in der heutigen Republik Moldau. Die Mongolen pflegten lange ­eine ­eigene Mischung aus Primo- und Ultimogenitur: So ging die poli­tische ­Führung oft auf den erst­geborenen Sohn über, während der jüngste Sohn bei den ­Eltern blieb. Er erbte den meisten Besitz und übernahm die spirituelle Führung der Familie – ihm kam die Rolle des Bewahrers des ­«heiligen Herdfeuers» zu. 

China

In China ist das vorausblickende Regeln der Verhältnisse nach dem Tod ein Tabu – oder noch mehr: ein Testament zu schreiben, ist mit einem Fluch belegt. Dementsprechend haben nur gerade 1 Prozent der rund 220 Millionen Seniorinnen und Senioren einen testamentarischen Willen auf­gesetzt. Das führt immer häufiger zu Konflikten, da nach dem ­chinesischen Erbrecht nur nahe Verwandte (Ehepartner, Kinder, Eltern, Geschwister oder Gross­eltern) erbberechtigt sind. Es kommt immer häufiger vor, dass Privatbesitz nach dem Tod deshalb an den Staat oder – vor allem in ländlichen Gegenden – an ­Kollektive fällt, zum Beispiel bei schweren Verkehrsunfällen mit mehreren Opfern. Rechts­experten sprechen von einer ­ge­sellschaftlichen Zeitbombe, denn die Privatvermögen ­nehmen ­stetig zu, und damit auch die Erbkonflikte.

Meghalaya, Indien

Im indischen Bundesstaat Meghalaya, in den nordöstlichen Bergen gelegen, wird nach wie vor die traditionelle Matrilinearität praktiziert, diese ist sogar in der ­staatlichen Verfassung verankert. Der Besitz von Land und Vermögen liegt in den Händen der Frauen, die ihn für die gesamte ­Familie verwalten und ihn (vorwiegend) an ihre Töchter ver­erben. Bei den Khasi trägt die jüngste Tochter den offiziellen Titel ka Khad­duh (Verwahrerin), verliehen von der Mutter, wenn sie kein weiteres Kind möchte. Sie erbt Haus und Land der Familie, ebenso den Schmuck ihrer Mutter, der oft schon seit Generationen weitergegeben wurde. ­Ältere Schwestern erwarten einen kleinen Anteil am Erbe, besonders wenn sie vor der Gründung eines eigenen «Hauses» stehen. Söhne werden dagegen kaum berücksichtigt, sie können höchstens auf einige bewegliche Güter wie Tiere hoffen, Land können sie keines erben. 

Südkorea

Im alten Korea waren, bevor sich der Konfuzianismus als herrschende Staatsideologie etablierte, auch Frauen erbberechtigt, doch dann folgte eine Praxis der männlich dominierten Erstge­borenen-Erbschaft, die geradezu ­archaisch anmutet und noch ­heute anhält. Einer Erhebung aus dem Jahr 2005 zufolge erbte der älteste Sohn in über der Hälfte der Fälle den meisten Besitz der Eltern – in über 30 Prozent der Fälle war es sogar der ganze ­Besitz. Die älteste Tochter da­gegen kam nur in 15 Prozent der Fälle zu einer solchen Vorzugs­behandlung.
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