Julia Kohli: Ist es beschämend, einen Erbstreit vor Gericht zu bringen?
Thomas Geiser: Die Schwelle für einen juristischen Schritt liegt hoch. Für eine Familie ist das immer sehr unangenehm.
Kommt es vor Gericht auch zu Versöhnungen?
In der Regel nicht. Wenn familienrechtliche Dinge einmal vor Gericht landen, sind die Chancen auf einen Ausgleich sehr gering. Da gibt es meist kein Zurück mehr.
Haben Sie selbst schon viele Erbstreitigkeiten miterlebt?
Ich bin nebenamtlich Richter am Bundesgericht, da gibt es einige Erbstreite. Auch musste ich nach dem Examen ein Praktikum auf dem Erbschaftsamt und auf dem Notariat absolvieren. Das war sehr spannend, denn dort finden die Erbverhandlungen statt. Ich konnte beobachten, wie die Leute miteinander umgehen und welche Geschichten sie haben.
Viele behaupten, dass beim Erben der wahre Charakter eines Menschen an die Oberfläche komme. Stimmt das?
Ja, meist haben die Auseinandersetzungen auch gar nichts damit zu tun, wie viel vorhanden ist – ob ganz unbedeutende Dinge oder Millionen. Oft geht es nicht ums Erben selbst. Vielmehr ist ein Erbstreit die letzte Möglichkeit, in der Familie Rechnungen zu begleichen.
Gab es auch schon Erbstreitigkeiten, die Sie absurd fanden?
Nein. Die Emotionen bei einem Erbstreit sind ja real. Es ist wichtig, zu schauen, welche Beweggründe hinter einem Streit stecken. Meistens sind es Wunden, die jemandem in der Familie zugefügt wurden und beim Erben plötzlich wieder aufreissen. In den meisten Fällen gibt es aber ausserjuristische Methoden, um solche Streitigkeiten zu lösen.
Wer schlichtet solche Streitigkeiten ausserhalb des Gerichts am besten?
Ein geschickter Willensvollstrecker kann einem potenziellen Erbstreit unter Umständen gut vorbeugen. Es muss ihm vor allem gelingen, die emotionalen von den rechtlichen Fragen zu trennen. Wenn diese zwei Ebenen gesondert behandelt werden, sind meistens auch die Probleme gelöst.
Also muss ein Willensvollstrecker gleichzeitig juristische und psychologische Kenntnisse haben?
Ja. Und manchmal wird der Willensvollstrecker sogar zum Feind der Streitparteien. Erstaunlicherweise kommt es dann oft zu guten Lösungen, weil die Verfeindeten einen gemeinsamen Gegner haben und wieder an einem Strang ziehen.
Geht bei manchen Streitigkeiten nicht die eigentliche Sache verloren, die Trauer um die verstorbene Person? Kann der Erbstreit unter Umständen auch ein Ersatz für Trauer sein?
Ja, der Erbstreit kann zu einer Ersatzbeschäftigung werden. Man darf aber nicht vergessen, dass ein Erbstreit meistens etwa ein Jahr nach dem Tod des Erblassers beginnt. Die unmittelbare Trauer ist dann vorbei. Aber die Streitigkeiten können auch viel früher beginnen. Manchmal streiten sich Verwandte schon bei der Beerdigung oder beim Aufsetzen der Todesanzeige.
Kommt es vor, dass in solche Konflikte auch Erbschleicher – also Personen, die nicht der biologischen Familie angehören – involviert sind?
Das gibt es immer wieder. Ich behaupte, dass es drei Berufskategorien gibt, in denen man überproportional vielen Erbschleichern begegnet: Juristen – also Anwälte oder Notare – sowie Pfarrer und Ärzte.
Das erstaunt mich!
Das sind alles Menschen, die eine Person auf ihrem letzten Lebensabschnitt begleiten. Sie verfügen über das nötige Wissen und haben Macht.
Kommt es auch vor, dass Erblasserinnen ihren Hinterbliebenen absichtlich einen Streit aufbürden?
Man kann seine Erben sehr gut ärgern, aber es kommt relativ selten vor. Zum Beispiel, wenn jemand will, dass etwas nicht verkauft wird und möglichst lange in der Familie erhalten bleibt. Beispielsweise gab es einen Erblasser, der eine sehr schöne Liegenschaft am See hatte und nicht wollte, dass diese verkauft wird. Er vererbte das Haus absichtlich zwei völlig verfeindeten Cousins. Dem einen sprach er es zu, dem anderen räumte er ein limitiertes Vorkaufsrecht ein. Der Zweite hätte das Haus also für einen tiefen Preis kaufen können, wenn der Erste verkauft hätte. Aber weil sie verfeindet waren, geschah dies nicht. So blieb das Haus in der Familie.
Gehören Liegenschaften zu den Erbstreitklassikern?
Ja, weil eine Immobilie meistens ein wesentlicher Teil des Nachlasses ist und es sehr häufig um das Haus geht, in dem die Erben aufgewachsen sind. Das ist natürlich emotional aufgeladen. Sofort stellt sich die Frage: Spekulation oder nicht? Will es jemand übernehmen? Interessengegensätze sind hier oft programmiert.
Worum wird sonst noch häufig gestritten?
Familienbetriebe sind oft ein ganz grosses Problem, vor allem wegen der Bewertung des Unternehmens. Da gibt es manchmal Zahlen mit erheblichen Unterschieden. Und wenn die einen Nachkommen im Geschäft tätig sind, haben sie einen Wissensvorsprung gegenüber den anderen.
Wird in der Schweiz mehr um Sachwerte oder um Geld gestritten?
Ich habe dazu keine Statistik, aber meistens werden bei Sachwerten die Gerichtskosten proportional zu hoch, als dass sich eine juristische Auseinandersetzung lohnen würde. Der Wert von Mobiliar zum Beispiel ist extrem gesunken. In den 1960ern kosteten etwa Möbel aus dem 18. Jahrhundert noch Tausende von Franken, jetzt sind es nur noch wenige Hundert.
Das geltende Gesetz in der Schweiz besagt, dass über die Verteilung des Pflichtteils (in der Regel fünf Achtel des Erbes) nicht entschieden werden darf. Die aktuelle Gesetzesrevision sieht vor, diesen Pflichtteil zu senken. Wie stehen Sie dazu?
Der Pflichtteil hat einen grossen Vorteil: Der eine Teil des Erbes ist verfangen, der andere jedoch wirklich frei. Niemand stellt bei diesem freien Anteil moralische Fragen. In anderen Rechtsordnungen wie etwa der angelsächsischen, die keine Pflichtteile kennen, wird beim Testament gefragt, ob es moralisch sei – und darüber entscheidet dann die Richterin oder der Richter. Das ist nicht mehr Freiheit, sondern weniger.
Sie stehen der Revision also kritisch gegenüber?
Ich halte das Argument mit der Patchworkfamilie für einen Irrtum. Die Pflichtteilsregelung, so wie sie heute existiert, ist für unsere Tradition sinnvoll. Je höher die frei verfügbare Quote ist, desto mehr Probleme werden auf uns zukommen.
Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Bei Unternehmen kann es kritisch werden, wenn der Pflichtteil sinkt. Stellen Sie sich einen «Kronprinzen» in einem Unternehmen vor: Damit er mehr vom Erbe bekommt, muss er nach der Geige des inzwischen vielleicht 90-jährigen Patrons tanzen und darf auf keinen Fall Neuerungen einführen, die nicht in dessen Sinne wären.
Damit werden Abhängigkeiten geschaffen?
Ja, und Innovation verhindert, was ökonomisch nicht sinnvoll ist.
Also sind wir in der Schweiz trotz hohem Pflichtteil beim Vererben relativ frei?
Ja. In der Schweiz gab es beispielsweise bereits im 19. Jahrhundert im Rahmen der freien Quote das sogenannte Geliebten-Testament, für die Konkubine. Das war damals völlig akzeptiert und nur möglich wegen des Pflichtteils: Dadurch wurde die Entscheidung, was man mit der freien Quote machte, unantastbar.
Worauf sollte man achten, wenn man aufs Notariat geht, um ein Testament aufzusetzen?
Junge Notare sind in Erbregelungen oft nicht sehr weitsichtig. Ältere Notare haben aufgrund ihrer Berufserfahrung mehr Kenntnisse und können bessere Beratungen anbieten. Aber in 80 bis 90 Prozent der Fälle ist unser Erbrecht absolut ausreichend; da bringt ein Testament nicht sehr viel. Es kann dann sinnvoll sein, wenn jemand beispielsweise Single ist, keine Kinder hat und eine relativ entfernte Verwandtschaft.
Finden Sie es eigentlich gerecht, dass man erben darf?
Im Prinzip ist gegen das Erben nichts einzuwenden. Irgendwie muss das Vermögen ja weitergegeben werden. Falsch finde ich aber, dass es keine Erbschaftssteuer gibt. Wir haben ein absurdes Steuersystem. Alles, was man sich im Schweisse seines Angesichts erarbeitet, wird hoch versteuert, und das, was einem wie Manna in den Schoss fällt, ist steuerfrei.