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12.06.2024 von Simon Rindlisbacher

«Das Denken in gigantischen wirtschaftlichen Räumen hat uns ­entmündigt» 

Radikal lokale Gastronomie gewinnt an Bedeutung. Ein Beispiel ist das Restaurant Zum Goldenen Fass in Basel, das ausschliesslich Produkte aus der Region und der Schweiz verwendet. Hier baten wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Tisch und fragten nicht nur: «Wie schmeckts?», sondern auch: «Ist das die Lösung?» 

Artikel in Thema Global - Lokal
Illustration: Claudine Etter

Bevor wir starten, möchte die Gastgeberin und Co-Chefin des ­Restaurants Zum Goldenen Fass, Bettina Larghi, von uns wissen: Wer isst vegan, wer vegetarisch, wer ohne Fisch? Alle Vorlieben sind vertreten.


moneta: In einem kürzlich veröffentlichten Leit­faden zur Ernährung hierzulande steht: «Ohne rasches Handeln kann die globale Ernährungssicherheit – auch in der Schweiz – dauerhaft nicht gewährleistet werden.» Wann also ist Nahrung zukunftsverträglich? Was muss erfüllt sein?

Christoph Meili Aus Sicht der Gesamtökobilanz ist klar: Es werden viel zu viele tierische Produkte konsumiert. Zudem ­wird zu viel in beheizten Gewächshäusern und mit giftigen ­Pestiziden produziert. Gut für die Welt und die individuelle Gesundheit ist eine Ernährung gemäss der sogenannten Planetary Health Diet, die idealerweise auf einer regenerativen Landwirtschaft fusst. Darin sind Wasserkreisläufe, Bodenfruchtbarkeit und Artenvielfalt wiederhergestellt beziehungsweise sogar verbessert und werden nicht weiter ­degeneriert. Zentral ist bei beiden Prinzipien die standortangepasste Produktion. In der Schweiz beispielsweise ist die Milchproduktion und der Milchkonsum in bestimmten Regionen zu einem gewissen Grad sinnvoll, woanders passt dafür eine eher fischlastige Ernährung besser. 

Piera Waibel Das sehe ich auch so. Etwas möchte ich ergänzen: In den Herkunftsländern vieler Nahrungsmittel produzieren Menschen zum Teil seit Jahrzehnten für uns. Wir sollten uns bei mehr lokaler Produktion deshalb überlegen, was es für sie bedeutet, wenn wir plötzlich nicht mehr bei ihnen einkaufen.


Bettina Larghi trägt die Vorspeise auf:
  • Ziegenfrischkäse-Crème brûlée, weisser Spargelsalat, Minzgurke, Himbeere
  • Vegan: Wildkräuter-Spargelsalat, Minzgurke, Himbeere 
  • Wein: Wiesen-Naturwein, gekeltert in der Stadt
Die Teller sehen fantastisch aus. En Guete!

Basil Bornemann Ernährung ist heute hochgradig entfremdet: Zwischen Produzierenden und Konsumierenden gibt es kaum noch Berührungspunkte. Mich treibt deshalb die Frage um: Wie schaffen wir es, dass die Leute sich wieder mehr für Fragen rund um Ernährung interessieren und engagieren, sodass diese demokratischer wird?

Adrian Müller Ich nerve mich zunehmend über Ernährungs­diskussionen, denn die Lösungen sind längst bekannt – gehandelt wird aber nicht. Wir brauchen Ernährungssysteme, bei denen nur so viel Futtermittel auf dem Acker produziert wird, wie es in gescheiten Fruchtfolgen angezeigt ist. Allein damit wäre schon viel erreicht. Ich möchte auch die Detailhändler mehr in die Pflicht nehmen. Wenn diese sagen, die Nachfrage sei gesetzt – etwa nach Fleisch –, sind sie Teil des Problems, nicht der Lösung. Als Wissenschaftlerfinde ich manchmal: Warum forschen wir eigentlich noch? Wir wissen ja, was die Lösungen sind – und die sollten längst umgesetzt werden! 

Urs Niggli Die Landwirte und Landwirtinnen stehen unter wirtschaftlichem Druck, und die Nachfrage nach billigen Lebensmitteln ist gross, das bewirkt das Gegenteil von Vielfalt, nämlich Monopole. Dabei ist Diversität die Lösung – für das Leben im Boden, die Feldfrüchte, das Saatgut, die Landschaft. Es ist längst an der Politik und dem Einzelhandel, zu handeln. Übrigens: Wenn man allein das, was uns die Ernährungswissenschaftler seit 40 Jahren sagen, umsetzen würde, hätten wir zwei positive Wirkungen: Die Ernährung wäre gesünder und ökologischer zugleich.

Gilbert Engelhard, Sie sind Gründer und Mit­inhaber dieses Hauses. Warum haben Sie sich der strikt lokalen Gastronomie verschrieben? 

Gilbert Engelhard Wir fingen vor rund sechs Jahren damit an. Die ganzjährige Verfügbarkeit aller Nahrungsmittel war mir zuwider geworden. Auch dass all diese Produkte so günstig verfügbar sind – dabei verursacht dieses umweltschädliche System ja immense Kosten, und es stärkt die Monopole. Also haben wir umgestellt. Es gab damals erst wenige Produzierende in der Region. Das ist inzwischen anders. Ein grosser Vorteil der Regionalität ist: Man fördert die lokale Wirtschaft. Tatsächlich nimmt die Diversität an Produzierenden in der Region wieder zu. Eine kleine Firma produziert in Eigenregie Tempeh und Sojasaucen, eine Frau kultiviert mit viel Liebe in ihrem Permakulturgarten 400 Kräuter für Salate – um nur zwei Beispiele zu nennen. 

Basil Bornemann Vielfalt kann also mit Begrenzung einher­gehen. Grenzen können bereichernd sein und Innovation ermöglichen: Das ist eine interessante Entdeckung!

Adrian Müller Ja, nur: Wie stark ist das lediglich eine Nische, die man so bedient? Die grosse Frage aus Nachhaltigkeitsperspektive lautet: Wie schafft man es, im ökologischen und sozialen Sinn gute Ernährung für jene anzubieten, die sich gar nicht so sehr für Ernährung interessieren?

Piera Waibel Die Masse kann man nur mit Geld überzeugen. Also: Die falschen Subventionen weg, die richtigen her! Denn es darf nicht sein, dass eine ökologisch schlechte Ernährung billiger ist als eine ökologisch bessere. Und momentan ist das komplett verkehrt.

Sind die Leute nicht bereit, für Qualität und Nachhaltigkeit zu bezahlen?

Piera Waibel Vielen fehlt die Information, was tatsächlich ökologisch und sozial ist. Sie werden mit irreführender Werbung berieselt und haben dadurch falsche Vorstellungen. Bei den Produkten vom Bauern nebenan denkt man etwa, dort einzukaufen sei in jedem Fall gut – aber vielleicht ­produziert der mit starkem Pestizideinsatz, während einer in Italien dasselbe Produkt super nachhaltig herstellt. 

Christoph Meili Stimmt, es braucht mehr Information. Umfragen zeigen regelmässig: Viele Leute halten Aktivitäten, die eigentlich eine grosse Umweltschutzwirkung haben, für unwichtig, zum Beispiel mit dem Zug zu fahren, anstatt zu fliegen, oder pflanzenbasiert zu essen anstatt tierisch. ­Zugleich halten sie Aktivitäten für wichtig, die der Umwelt nur wenig Entlastung bringen, wie etwa das Plastikrecycling.


Die zweite Vorspeise wird aufgetischt: 
  • Vitello «Pollato», Bärlauchkapern, Radiesli, Rucola, Liebstöckelöl
  • Vegan Belugalinsenragout, Radiesli, Haselnuss, Rucola, Liebstöckelöl

Adrian Müller (schaut auf den Teller des Nachbarn) Was hat dieses Huhn wohl gegessen?

Gilbert Engelhard Ribelmais.

Ist die Rückkehr zur lokalen Produktion ein Ansatz, der überall auf der Welt ökologisch funktionieren könnte und mit dem weltweit alle ernährt werden könnten?

Adrian Müller Eine wichtige Frage ist, wo man sich befindet, was es in einer Region hat. In Schweden dürfte es schwieriger sein, sich lokal zu ernähren, als hier in Basel oder in Italien. Und ich weiss nicht, ob man überall die Menschen aus einem Umkreis von 40 Kilometern ernähren kann. Denken wir an grosse Städte wie Schanghai mit Dutzenden von Millionen Menschen! Grundsätzlich ist es aber schon möglich, für alle Menschen innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen genügend Essen zu produzieren. 

Piera Waibel Vorausgesetzt, die Ernährungsgewohnheiten ändern sich…

Adrian Müller Ja, weniger tierische Produkte und weniger Lebensmittelabfälle sind die Voraussetzung. 

Hierzulande spielt der Bauernverband eine wichtige Rolle bei der Frage, was auf die Teller kommt.

Urs Niggli Und leider hat der Schweizer Bauernverband Ver­änderungen besonders ungern. Tragischerweise versteht er noch immer nicht, dass er die Interessen der Bauern schlecht vertritt, wenn er sie vor Veränderungen bewahrt. Er könnte seine Aufgabe ja auch so verstehen, dass er seine Mitglieder in der Vorbereitung und dem Umgang mit den grossen Veränderungen, denen sie ausgesetzt sind, be­gleitet und unterstützt. Das zu begreifen, wäre aber eine Revolution.

Adrian Müller Dieser Schritt würde in der Schweiz am meisten bewirken und die Bauern auch gegenüber dem Detail­handel ermächtigen. Aber dazu müsste der Bauernverband mehr zu einer Art Gewerkschaft für die Bauern werden. Ich frage mich schon lange, warum das nicht passiert. 

Piera Waibel Weil es in der Schweiz so viele etablierte, mächtige Quasimonopolisten hat. 

Ist auch deshalb eine Transformation im Ernährungssystem hierzulande so schwierig?

Piera Waibel Ja. Ein Beispiel ist der Zucker. Aber auch beim Weizen, den pflanzlichen Ölen oder der Milch haben die Bauern und Bäuerinnen praktisch keine Auswahl mehr bei der Frage, an wen sie verkaufen. Das ganze System funk­tioniert so, und es profitieren nur wenige davon.

Basil Bornemann Die Machtverhältnisse im Ernährungssystem sind aus dem Gleichgewicht geraten. Wir haben es mit einer starken Konzentration zu tun. Würden Restaurants und Detailhändler mit­machen, wenn die Bauern sagten: «Wir machen es jetzt besser»?

Christoph Meili Restaurants und Detailhandel sind als Schnittstelle zwischen Konsumierenden und Produzierenden zen­tral. Der Wandel geht viel einfacher, wenn der Detailhändler oder die Gastronomin mitmacht – und die Gross­küchen: Eine Kantine kann viel bewirken, indem sie das gesunde und ökologische Produkt besser anpreist, sogenanntes «nudging» betreibt. 

Bitte ein Beispiel dafür!

Christoph Meili Wenn das Menü 1 häufiger vegetarisch ist, sinken der Fleischkonsum und der dazugehörige Carbon-Footprint in der Kantine massiv. Denn viele Leute wählen aus Gewohnheit immer das Menü 1.


Der Hauptgang wird aufgetragen:
  • Gebratener Swisslachs, Kurkuma-Verjus-Beurre blanc, Pak Choi, frittierter Knoblauch, Belugalinsen
  • Vegetarisch Ricotta-Gnocchi, Steinpilzrahm, Rüeblicoulis, Kohlrabi, Spinat
  • Vegan Grünspargeltempura, Soja-Kräuterseitling, Kafirlimetten-Chili-Tomatensalsa, Frühlingszwiebel, Sorghum-Hirse

Grossküchen wie Kantinen, Schulhorte und Spitäler können also eine grosse Hebelwirkung haben. Ist eigentlich überhaupt noch Zeit für kleine Schritte, für Gemächlichkeit in der Transformation? 

Urs Niggli Ich sehe nirgendwo eine schnelle Lösung. Man müsste die Rahmenbedingungen ändern, um beschleunigen zu können. 

Christoph Meili Zentral ist auch, was Gilbert macht: attraktive Menüs auf den Tisch bringen. In der Haushaltskunde und der gastronomischen Ausbildung müssen pflanzenbasierte Menüs attraktiver werden. In der neusten Überarbeitung des «Tiptopf» wird das gut umgesetzt, was mich freut. Es hat zwar noch viele Fleischgerichte drin, aber auch dort gibt es jeweils einen Hinweis, wie man es auch vegetarisch kochen kann. 


Es gibt Kaffee, wer möchte aus Lupinen?
Alle wollen.


Das Essen war köstlich, die Diskussion belebend. Wir nehmen unter anderem mit: Es gibt Wachstum und Vielfalt in der Begrenzung. Und die Zukunftsstrategie der Landwirte und anderer Produzentinnen von Nahrung heisst Ermächtigung. Was nehmt ihr mit?

Gilbert Engelhard Radikal regional ist nicht die Lösung. Aber…

Basil Bornemann …radikal divers! Dazu braucht es eine Öffnung des Ernährungssystems. 

Adrian Müller Ich bin für standortangepasst und radikal lokal im Anbau und der Produktion – aber nicht im Konsum. Wenn ich mir für den Bauernverband eine Radikalität wünschen dürfte, dann lautete sie: radikal in der Begleitung der Veränderung statt im Stillstand.

Piera Waibel Mich beschäftigt ebenfalls der Bauernverband. Den Gedanken von der «Bottom-up»-Revolution innerhalb des Verbands werde ich nicht so schnell vergessen. 

Christoph Meili Bei pflanzlichen Nahrungsmitteln sind Qualität und die attraktive Zubereitung wichtig. Ich konnte das Essen heute sehr geniessen! 

Urs Niggli Nach diesem Essen bin ich nicht mehr objektiv (lacht). Aber meine globale Vision ist, in Regionen zu denken – das Denken in Nationalitäten hat uns Kriege gebracht. Und das Denken in gigantischen wirtschaftlichen Räumen hat uns entmündigt. Es ist zwar eine angenehme Entmündigung, sie hat uns viel Ärger abgenommen, aber sie ist verheerend. Ich sehe Gegenbewegungen zur Monopolisierung, die sich wieder stärker in Regionen organisieren. Dazu gehört, sich so viel wie möglich solidarisch von den Produkten der Bauern der Region zu ernähren.



Teilnehmende

Basil Bornemann, Sozialwissenschaftler (Uni Basel und Uni Zürich) und Co-Autor des wissenschaftlichen Leitfadens «Ernährungszukunft Schweiz»

Gilbert Engelhard, gelernter Koch sowie Gründer und Mitinhaber «Zum Goldenen Fass» und Gastgeber des Abends

Adrian Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL)

Christoph Meili, Umweltingenieur, Fachperson für Ökobilanzen bei ESU-Services und WWF Schweiz

Urs Niggli, Agronom, Präsident Institut für Agrarökologie für Forschungssysteme der Zukunft

Piera Waibel, Ökonomin und selbständige Unternehmensberaterin, spezialisiert auf nachhaltige Nahrungsmittelproduktionssysteme, auch im globalen Süden

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