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09.06.2022 von Esther Banz

«Wissen ist die neue Eintrittsschwelle»

An der Bushaltestelle zieht ein Laden mit Geldautomaten für digitale Währungen ein. Ein alter Kumpel wird Experte für dezentrale Finanzangebote. Und eine Freundin verliert mit Bitcoin ihr Erspartes. Was tut sich da gerade um mich herum, mit dem Geld?

Artikel in Thema Digitales Geld
Illustration: Claudine Etter

Bis vor Kurzem lebte ich in der Annahme, weltbewegende Entwicklungen irgendwie mitzubekommen. Ich lese Zeitungen, höre Radio, bin in regem Austausch mit anderen interessierten Menschen. Aber in letzter Zeit mehrten sich die Anzeichen: Um mich herum verschiebt sich etwas, eigentlich seit Jahren schon – und ich habe es nicht bemerkt. Was genau passiert, begreife ich noch nicht, geschweige denn, wie es funktioniert. Aber ich habe mitbekommen, dass es nebst den digitalen Währungen mehr und mehr neue Angebote von bankenunabhängigen Finanzdienstleistungen gibt.

Bitcoin steht am Anfang einer immensen Entwicklung

Angefangen hat alles mit der digitalen Währung Bitcoin und der ihr zugrundeliegenden Blockchain-Technologie. Bitcoin-Überzeugte sehen in der Kryptowährung einen Wertspeicher, in dem es nie zu einer Inflation kommen kann, weil die Anzahl Bitcoins auf maximal 21 Millionen Einheiten beschränkt ist. In Ländern mit eher instabilen Währungen gibt es deshalb viele, die mit Bitcoins ihr Erspartes schützen wollen. Gerade führte Zentralafrika den Bitcoin als offizielles Zahlungsmittel ein, nach El Salvador das zweite Land, das diesen Weg geht.

Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Der andere ist die weitere Entwicklung der Blockchain-Technologie. Was dadurch in den letzten Jahren entstanden sei, habe wenig mit dem Bitcoin zu tun, erklärt mir Kurt*, ein ehemaliger Arbeitskollege. Das Stichwort ist «DeFi», es steht für «dezentrale Finanzangebote», und Kurt hat sich als Experte dafür selbständig gemacht. Er sagt: «Es ist riesig. Es explodiert gerade.» Und er erklärt: Neben Bitcoin und wenigen weiteren Währungen – die nur das sind – , gibt es rund 20 «Betriebssysteme», die mit eigenen Währungen arbeiten. Am bekanntesten ist Ethereum. Und schliesslich gibt es Apps mit sogenannten Tokens, die sich gerade explosionsartig vermehren. Sie werden oft als Kryptowährung bezeichnet, sind aber eher mit Aktien von Start-ups zu vergleichen.

Ich suche in der realen Welt einen Einstieg in diese Blockchain-Welt. Wenige Schritte von meinem Büro entfernt finde ich tatsächlich eine Verbindungstür.    

Ein Geldautomat für Bitcoin

In einem Ladenlokal unmittelbar bei meiner Bushaltestelle an der Zürcher Langstrasse sind während der Pandemie neue Mieter eingezogen. Am Schaufenster prangt orange und kursiv die Aufschrift «House of Satoshi – Switzerlands first store for bitcoin, blockchain and friends». Nakamoto Satoshi gilt als Erfinder des Bitcoins. Es ist das Pseudonym eines Genies oder Kollektivs; seit zehn Jahren gilt Satoshi als verschollen.

An einem Vormittag trete ich ein. Ein Mann sitzt mit dem Rücken zur Tür am Laptop. Ich will mich gerade bei ihm bemerkbar machen, da stürmen zwei kräftige, schwarz gekleidete Gestalten ins Lokal. Schnellen Schrittes durchschreiten sie, ohne jemanden anzuschauen oder zu grüssen, den Raum. Zuhinterst angekommen kniet der eine hin, der andere greift zu seinem Schalenkoffer. Ich erkenne jetzt einen Geldautomaten und dass sich die beiden Männer an ihm zu schaffen machen. Alles geht schnell, nach weniger als drei Minuten haben die beiden das Lokal wieder verlassen. Auf ihren Jacken trugen sie die Aufschrift «Loomis». Das Unternehmen bietet unter anderem die Betreuung von Geldautomaten an, wie ich später erfahre. Es waren also keine Diebe. Und es stimmt, was im Schaufenster steht: Hier kann man am realen Automaten Bitcoin kaufen. Das möchte ich auch. Aber zuerst will ich die Entwicklung verstehen, die ich bisher verpasst habe.

Tiefgreifende Veränderung der Finanzindustrie

Das «House of Satoshi» ist nicht nur ein Geldbezugslokal, sondern auch ein Ort der Wissensvermittlung. «In den letzten zwölf Monaten haben wir hier 400 Leute ausgebildet», sagt Rino Borini, Co-Inhaber des Ladens, Experte für Digital Finance und Krypto-Banking und Dozent an der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ). Zusammen mit seinem Geschäftspartner Patrick Widmer organisiert Borini auch die «Finance 2.0», ein Eventformat zur digitalen Transformation der Finanzindustrie – nach einer covidbedingten Pause soll sie dieses Jahr wieder stattfinden. Borinis Begeisterung fürs Thema scheint auch nach jahrelanger Beschäftigung damit ungebrochen. Die beiden Gründer des «House of Satoshi» arbeiteten früher für Banken, Borini als strategischer Berater im Zinsbereich, Widmer als Broker.

Dass die Blockchain-Technologie nicht auf den Bitcoin beschränkt bleiben würde, sondern der Anfang einer grossen Dezentralisierung der Finanzdienstleistungen sein könnte, erkannten die beiden früh: 2009 entstand das Bitcoin-Netzwerk, 2013 fingen Borini und Widmer an, sich mit der digitalen Transformation zu beschäftigen. Sie sprechen von einer tiefgreifenden Veränderung der Wertschöpfungskette der Finanzindustrie; denn neue Anbieter können Finanzdienstleistungen dank Blockchain-Technologie sicher erbringen. Schon mit wenigen Franken könne man heute in gute, kostengünstige Anlagelösungen digital investieren, erklärt Borini. Und weiter: «Auch für Fremdwährungsüberweisungen, die bei traditionellen Banken oftmals teuer sind und versteckte Kosten aufweisen, gibt es von jungen Anbietern kostengünstige und transparente Alternativen. Mit den heutigen Möglichkeiten auf dem Smartphone ist die bisherige Gebührenpolitik der Banken nicht mehr gerechtfertigt.»

Wie in den euphorischen Anfangsjahren des Internets

Die zweitgrösste Blockchain nach jener von Bitcoin ist Ethereum. Das dezentrale, offene Netzwerk wird von einer Stiftung in Zug gefördert und hat mit dem Ether eine eigene Währung, mit der Dienstleistungen abgewickelt werden können: Jemandem komplett selbständig und doch sicher Geld auszuleihen, sei mit Ethereum kein Problem mehr, erklärt Borini. Und er kommt ins Schwärmen angesichts der vielen weiteren Applikationen, die auf Basis der neuen Technologie entstehen. Neben dem Überweisen und Ausleihen von Geld kann man mit bestimmten Apps auch direkt und unabhängig Investitionen tätigen, Tickets für Veranstaltungen verkaufen oder sich unabhängig versichern lassen – und vieles mehrPraktisch täglich kommen neue Anwendungen auf den Markt. «Wir sind vergleichsweise im Jahr acht des Internets», sagt Borini. «Etwas wie Google war Anfang der 1990er-Jahre noch nicht vorhersehbar – auch heute wissen wir nicht, was ausgehend von den Blockchains noch entstehen wird.»

Hypes gibt es in dieser sich schnell verändernden Welt zahlreiche, und die Angebote sind nicht immer benutzerfreundlich. Unübersichtlichkeit und Komplexität erschweren Nicht-Profis den Zugang zu dem, was die «House of Satoshi»-Betreiber als die Zukunft des Finanzwesens sehen. Ausserdem sei diese neue dezentralisierte Blockchain-Finanzwelt noch kaum reguliert und fehleranfällig, deshalb könne man viel Geld verlieren. Und auf betrügerische Angebote reinfallen.

Ein Tummelfeld für Betrügerinnen und Betrüger

Das erlebte Meredith*, eine Bekannte von mir. Eines Tages, als wir uns seit langem wieder auf der Strasse begegnen, bricht sie in Tränen aus. Sie habe mit Bitcoin ihr ganzes Erspartes verloren. «Ich bin Digital-affin und hatte mich aus Interesse an Bitcoin auf einer Website eingetragen», erzählt sie. «Es riefen dann verschiedene Leute an.» Einer der Anrufer gab sich als Trader aus und lotste Meredith auf eine rundum seriös wirkende Plattform. Sie vertraute ihm und eröffnete für einen kleinen Betrag ein Krypto-Wallet. «So fing ich an. Fortan konnte ich auf der Plattform verfolgen, wie der Wert meiner Bitcoins stieg», erzählt Meredith weiter. Sie glaubte, was sie auf dem Bildschirm sah.

 

Nach einer Weile stellte ihr der Vermittler ein Projekt für eine grössere Investition vor. Da es ihren Interessen entsprach, investierten sie und ihr Partner eine grössere Summe. «Man sagte uns, das Projekt gehe an die Börse und wir hätten einen Vorsprung. Der Kurs stieg und stieg.» Schliesslich fanden sie, der Zeitpunkt sei gekommen, um auszusteigen: Die beiden wollten ihre Bitcoins verkaufen und ausbezahlt werden. Aber das Geld kam nicht, und der vermeintliche Trader war nicht mehr erreichbar. Meredith wandte sich an die Polizei, aber die meinte, es sei aussichtslos, Anzeige zu erstatten. Alles war mündlich abgewickelt worden, es gab keinen Vertrag.

Obwohl Meredith ihr Erspartes verloren hat, schliesst sie nicht aus, später wieder in Bitcoin zu investieren. Sie werde ihre Coins und Passworte dann aber selber aufbewahren, im physischen Safe und Wallet, und sich beraten lassen.

Aus 100 Franken werden 66. Vorerst.

Zurück an die Langstrasse. Eine Frau mit Kind betritt den Laden. Sie betrachtet das Produkteangebot im Regal: Bücher, Gadgets mit Bitcoin-Logo und besagte physische Aufbewahrungsgegenstände. Die persönlichen Codes sicher aufzubewahren ist zentral – sie alleine geben Zugang zum Geld. Aber jetzt möchte ich endlich selbst Bitcoin beziehen. 100 Schweizer Franken schiebe ich in den ATM, der in der dunklen Ecke des Raums steht, eine Quittung für 0,00230 Bitcoin im Wert von etwa 88 Franken kommt heraus. Der Rest wurde für Gebühren abgezogen. Ich lasse mir von Patrick Widmer ein elektronisches Wallet einrichten. Die dazugehörige App hat ein Kollege der beiden «House of Satoshi»-Gründer entwickelt. Fortan verfolge ich in der App den Bitcoin-Kurs und sehe, wie er rapide sinkt. Bald halte ich Bitcoin im Wert von nur noch 66 Franken. In den Tageszeitungen erscheinen Texte mit Titeln wie «Krypto-Anleger stehen vor einem Scherbenhaufen».

Der Kurs kann ja wieder steigen, beruhige ich mich. Aber wie bewahre ich dieses Geld und die Zugangscodes jetzt wirklich sicher auf? Antworten auf solche Fragen findet man im Buch «Bitcoins verwahren und vererben» von Marc Steiner, erhältlich im «House of Satoshi». Steiner schreibt: «Der Bitcoin hat das Geld aus den Fängen des traditionellen zentralistischen Finanzsystems befreit und dich zum alleinigen Herrn darüber gemacht. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Um die Verwahrung und Vererbung dieses Vermögenspostens musst du dich nun ganz allein kümmern, es gibt keine Helpline, die du oder deine Erben anrufen können.» Auch kann ich nirgendwo einfach ein neues Passwort anfordern.

Neue Akteure werden den Markt beherrschen

Bitcoin-Begeisterte sprechen gerne davon, wie demokratisch Bitcoin und die ganze Dezentralisierung des Finanzwesens funktioniere, wie gross die Chancen für Menschen in Ländern des globalen Südens seien. Aber welche Herausforderungen stellen sich auch und erst recht dort beim sicheren Aufbewahren von Codes? Und wer kann da überhaupt mitmachen, wer hat das Wissen, den Zugang?

Ich wende mich nochmals an Kurt, den DeFi-Berater. Er schickt mir zunächst einen Filmlink zum kürzlich durchgeführten Ethereum-Money-Hackaton in Amsterdam, das Motto lautete: «Build the future of finance». Man sieht junge Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt in einer grossen, bunt eingerichteten Halle zusammen vor Laptops sitzen und programmieren. Kurt schreibt dazu: «Diese enthusiastischen Nerds sind es, wegen denen ich für dieses Thema brenne.» Dann nimmt er sich meiner Fragen an. Er bestätigt: «Auf Banken und andere Finanzdienstleister wird man künftig zwar nicht mehr angewiesen sein – auf Wissen aber schon. Wissen ist die neue Eintrittsschwelle.»

«Wir werden das alte Spiel des Kapitalismus ­sehen. Über Skaleneffekte gibt es immer Einzelne, die gross werden.»


Gut also, weiss ich jetzt endlich ein kleines Bisschen etwas über Kryptowährungen, die Blockchain-Technologie und das dezentralisierte Finanzwesen. Ich verstehe jetzt auch ganz grundsätzlich, dass sich das Internet schubweise entwickelt und wir zurzeit einen grossen Schub erleben. Aber: wessen Leben wird sich mit den neuen Währungen und Apps verbessern – und wessen nicht? Das kann auch Kurt nicht vorhersagen. Sein kritischer Verstand lässt ihn erahnen, dass es auch bei dieser Technologie, die eigentlich das Individuum ins Zentrum stellt, am Schluss «wieder Akteure geben wird, die den Markt beherrschen. Wir werden das alte Spiel des Kapitalismus sehen. Über Skaleneffekte gibt es immer Einzelne, die gross werden.» Und doch ist er mit Blick auf die kreative, enthusiastische Basis auch hoffnungsvoll: «Es wird weiter experimentiert werden. Alles ist offen.»


*Namen von der Redaktion geändert.

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