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08.06.2022 von Roland Fischer

Digitales Geld, quo vadis?

Unter dem Schlagwort «Decentralized ­Finance» ist ein Kampf um die Geldhoheit entbrannt: ­Kryptowährungen fordern die ­regulierende Macht der Zentralbanken heraus und versprechen  einen demokratischeren, inklusiveren ­Umgang mit Geld. Was ist davon zu halten?

Artikel in Thema Digitales Geld
Illustration: Claudine Etter
Geld – was ist das eigentlich? Beziehungsweise: Wie funktioniert es? Eigentlich, denkt man, ist es ganz einfach: Ich bekomme meinen Lohn aufs Konto, einen Teil davon überweise ich meinem Vermieter, der Krankenkasse und so weiter. Ich hole Bares am Automaten, zahle mal einen Kaffee, mal ein Kinobillett, und so geht es immer auf und ab in der persönlichen Bilanz. Aber Geld ist nur zu einem ganz kleinen Teil das, was im Portemonnaie klimpert. Der ganze Rest ist von einer atem­beraubenden Komplexität und unterliegt historischen Ver­änderungen, von denen wir uns als Gesellschaft normalerweise kaum einen Begriff machen. Ausser es kommt zu Verwerfungen wie in der Finanzkrise. Dann hört man plötzlich von Derivaten, Spekulationsblasen und Investmentbankern, die mit Geldwerten umso lieber jonglieren, je weniger fassbar diese für uns Konsumentinnen und Konsumenten sind.

Eine Zeitenwende?

Der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch hat es in einem Feuilletonbeitrag in der «Süddeutschen Zeitung» zum «Wendejahr» 1972 schön auf den Punkt gebracht. Im Jahr zuvor hatte Präsident Nixon den Goldstandard aufgehoben – der Dollar und in rascher Folge sämtliche Währungen der Welt wurden nun «free-floating», sie waren an keinen konkreten Wert mehr gebunden. Verantwortlich für die Revolution war der Ökonom Paul Volcker, der bald zum US-Zentralbankchef aufsteigen sollte. Felsch: «Volcker ist der erste in der Ahnen­galerie legendärer Zentralbanker, die wie Alan Greenspan oder Mario Draghi aus der Physiognomie unserer globalen Wirtschaft nicht mehr wegzudenken sind. Daran kann man erkennen, dass wir uns in der Ära des Zentralbankkapitalismus befinden, in der die Zentralbanken zu politischen Akteuren ersten Ranges aufge­stiegen sind.» 50 Jahre später sieht es ganz so aus, als stünde wieder eine Zeitenwende an. Dankt der Zentralbankkapitalismus gerade ab, dieses System, das die Kontrolle über das Geld einigen wenigen machtvollen Akteuren überlässt – haben also die schönen Theorien von der souveränen Kontrolle von oben bald ausgedient? Viele sehen genau darin das gesellschaftlich-utopische Potenzial von Kryptowährungen oder, allgemeiner, von Decentralized Finance. Für den eingefleischten Tech-Optimisten Daniel Jeffries war die Sache jedenfalls schon 2017 klar: «Wenn wir in den nächsten Jahren mit neuen ökonomischen Systemen experimentieren, wird sich die ganze aktuelle Wirtschaftstheorie als etwa so fortgeschritten erweisen wie Felszeichnungen.»

Die Utopie von der Befreiung des Geldes

Bei Decentralized Finance, kurz DeFi, geht es um neuste Versionen der Blockchain-Technologie (siehe «Wissen ist die neue Eintrittsschwelle»), aber auch um etwas viel Grundsätzlicheres: um einen Frontalangriff auf die Zentralbanken und ihre Geldhoheit. Die DeFi-Akteure wollen ein Geldsystem etablieren, das sich selbst reguliert und das Geld privatwirtschaftlich erzeugen und stabilisieren kann. Manche sehen das als Befreiung des Geldes von macht- und geldhungrigen Institutionen. Seit der Finanzkrise ist nicht nur das Vertrauen in die grossen Investmentbanken angeknackst, sondern auch das in die Zentralbanken: Haben die Zentralbanker nicht vor allem ihre Kumpel in den oberen Etagen der Geschäftsbanken rausgehauen, obwohl diese viel zu hoch gepokert hatten, wohl wissend um die Risiken?
DeFi kommt dagegen wie die «grass roots»-Bewegung der Finanzwelt daher. Gründe für eine demokra­tischere, inklusivere Handhabung des Geldes gäbe es genug: Über zwei Milliarden Menschen auf der Welt haben kein Bankkonto, können also keine regulären Transaktionen innerhalb unseres Wirtschaftssystems tätigen. Kein Wunder, haben digitale Geldsysteme, die auf der Blockchain beruhen, nicht nur in Tech-Kreisen des Westens, sondern ebenso sehr in Afrika Konjunktur.

Zentralbanken bieten Stabilität in Krisen

Aber man sollte sich nicht allzu viele Illusionen machen, was die Player auf dem DeFi-Feld angeht: Alfred Eibl, Finanzmarkt-Experte bei der globalisierungskri­tischen NGO Attac (Deutschland), hat 2020 ein lesenswertes kleines Buch zum Thema geschrieben. Er sieht bei DeFi vor allem Schumpeters legendäre «kreative Zerstörung» am Werk: neue Business-Ideen, die alte Player verdrängen möchten. Es gehe um ein möglichst grosses Stück vom Kuchen, «nicht um gesamtgesellschaftliche Perspektiven aufs Geld», so Eibl. So wird die Dezentralisierung des Finanzsystems plötzlich zur Dystopie, in der libertäre Fantasien vom total unregulierten Markt vorherrschend sind. Für Eibl ist die Sache klar: «Die Gesellschaft kommt nicht ohne Zentralbank aus, ganz einfach.» In der Geschichte des Geldes seit Beginn des Kapitalismus ist das tatsächlich ein ums andere Mal deutlich geworden: Die Gesellschaft war immer wieder auf eine gesamtverantwortliche Bank angewiesen, die für Geldstabilität sorgte. Auf einen «Gelderzeuger letzter Instanz». Oder anders gesagt: Die Zentralbank ist eine Art Rückversicherung für Krisen, und laut Eibl muss diese Absicherung eben «gesamtgesellschaftlichen, nicht privatwirtschaftlichen Anforderungen gerecht werden».

Letztlich läuft das gemäss Eibl auf die Frage hinaus, wie viel Kontrolle die Finanzwirtschaft braucht. Genau das werde im Zusammenhang mit digitalem Geld gerade verhandelt, weltweit. «In den USA läuft die Aus­einandersetzung entlang den Linien von freiem vs. kon­ ­­t­rolliertem Kapitalismus», parteipolitisch sei das eher schwer zuzuordnen. China dagegen hat den Hebel unlängst umgelegt, harsche Regeln definiert und mächtigen Digitalinitiativen wie Alipay so den Stecker gezogen. Kontrolle geht da vor. In der Schweiz wie in der EU sind erste Initiativen zum Verbot von Kryptowährungen im Sand verlaufen, nun werden Regulierungen im finanzwirtschaftlichen Rahmen angestrebt. Die Schweiz ist da eher auf der strikteren Seite, zumindest im Zusammenhang mit Geldwäscherei, aber Schlupflöcher bleiben natürlich immer.

Wildwest-Mentalität im Umgang mit Daten

Alfred Eibl glaubt nicht, dass die Zukunft den klas­sischen Kryptowährungen gehört. Schon eher kann er sich vorstellen, dass sich sogenannte Stablecoin-Ansätze, die an reale Geldwerte gebunden sind, als Alternativen zum staatlichen Geld etablieren werden. Dass die Zentralbanken die Zeichen der Zeit erkannt haben und in vielen Ländern auch Experimente mit digitalem Geld starten, begrüsst der Attac-Experte. Man versteht seinen Standpunkt, wenn man sich einige der Akteure, die sich im Zusammenhang mit digitalem Geld in den letzten Jahren in Stellung gebracht haben, ein wenig genauer ansieht. Und vor allem ihre Geschäftsstrategien. Vielleicht erinnert man sich noch an Libra, das von Facebook lancierte Bezahlsystem, das eigentlich 2020 hätte an den Start gehen sollen? Oder an den Wirecard-Skandal in Deutschland? Beides wunderbare Beispiele, was grossspurige Versprechen und skandalöser Umgang mit Daten angeht. Unsere Bezahlgewohnheiten offenbaren so intime Details über uns wie sonst kaum ein Datensatz. Diesen Schatz zu Geld zu machen, war das Ziel von Libra wie von Wirecard, auch wenn das natürlich nur im Kleingedruckten stand.

Wem gehört das Geld?

Diese ersten Initiativen für ernsthafte Zentralbank-Konkurrenz im Geldsystem müssen wohl als gescheitert gelten, aber es werden neue kommen. Laut Eibl geht es bei digitalem Geld letztlich um eine simple Frage: «Wer ist Eigentümer? Wer profitiert davon?» Bloss, dass es für einmal nicht um Vermögenswerte, sondern um das Eigentum am Geld selbst geht. Die aktuelle Wildwest-Mentalität im Umgang mit sensibelsten Daten kann sich im finanzpolitischen Zusammenhang niemand wünschen. «Es gibt ein eher links-anarchistisches und ein eher rechts-libertäres Lager. (…) Wie beim Dynamit erzeugt die Zusammenführung zweier unterschiedlicher Stoffe erhebliche Sprengkraft», beschrieb Ijoma Mangold unlängst Bitcoin in der «Zeit» – er will das Tech-Experiment ausdrücklich als politische Bewegung verstanden wissen. Es ist die alte schizophrene Erzählung aus dem Silicon Valley. Sie wurzelt in den Anfängen der Tech-Welt, die sich als Gegenkultur verstand und das Internet als eine Art «Demokratisierungsmaschinerie des Wissens» sah. Wenn man sieht, was aus diesen schönen Versprechungen unter der Ägide von Facebook und Amazon geworden ist, kann man in Sachen digitales Geld nicht wirklich optimistisch sein.

Literatur: Alfred Eibl, Johannes Priesemann: «Das Geld gehört uns allen! Statt Paypal, ‹­Libra›, AliPay: Alter­nativen zur digitalen Überwachung und Kontrolle». Attac-Basistexte Bd. 58, 2020.
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