Rundgang durch einen gewöhnlichen Nutzwald auf einem Hügel im bernischen Zollikofen: Am Wegrand türmen sich meterhohe Asthaufen, auf dem Waldboden sind Abdrücke schwerer Fahrzeuge der Forstarbeitenden auszumachen. Waldökologe Thibault Lachat, der unten am Hügel an der Berner Fachhochschule angehende Forstingenieurinnen und -ingenieure ausbildet, führt uns durch einen Mischwald mit viel Nadelbäumen. Er gehört der Burgergemeinde Bern. Auf einmal weist Lachat auf einen Strunk einer Bunke, der rund 6 Meter in den kalten Winterhimmel emporragt. «Vor fünf Jahren hätte die Waldbesitzerin diesen noch rausgenommen und das Holz verwertet», sagt er. Beim Näherkommen entdecken wir darauf einen frischbraunen Zunderschwamm, mit dem unsere Urahnen noch Feuer machten. Der Rest des Buchenstamms liegt am Boden. Obschon das Holz hier regelmässig geschlagen wird, lässt man einzelne Bäume stehen.
Es mag paradox klingen, aber solches Totholz ist überlebenswichtig für viele Tier- und Pflanzenarten sowie für Pilze. Unter Totholz versteht man abgestorbene Äste, Baumstrünke oder umgefallene Bäume. «Jede dritte Art im Wald ist auf Totholz angewiesen», sagt Lachat. Dazu gehören mehrere hundert Käferarten, wie etwa der prächtige blauschwarze Alpenbock. Oder auch der Weissrückenspecht, eine Art Urwaldspecht, der totholzliebende Käfer verzehrt. Doch davon später.
Bund subventioniert Altholzinseln und Habitatsbäume
Lachat sieht Fortschritte bei diesem wichtigen Lebensraum. Und er findet, dass bei vielen Waldbesitzerinnen und -besitzern ein Umdenken eingesetzt habe: «Die Menge an Totholz hat sich in den letzten 30 Jahren in der Schweiz rund verdoppelt», hält er fest. Im Mittelland sind es zurzeit rund 15 Kubikmeter pro Hektare. In osteuropäischen Urwäldern kann man laut der Plattform waldwissen.net 50 bis 200 Kubikmeter finden. Soviel dürften es auch bei uns einmal gewesen sein, in den vergangenen 200 Jahren wurden die Wälder jedoch grossflächig ausgeräumt. Weil die Menschen so viel Holz brauchen, erreicht in einem wirtschaftlich genutzten Wald kaum ein Baum sein natürliches Alter: Buchen können laut einem WWF-Bericht nämlich bis 350 Jahre alt werden, Eichen gar bis zu 1000 Jahre. Die allermeisten Stämme werden lange vorher geschlagen.
Der Bund und die Kantone wollen jedoch Gegensteuer geben und das Totholz und damit die Artenvielfalt im Wald fördern. So möchte der Bund 10 Prozent der Waldfläche als Waldreservate ausscheiden: in der Hälfte davon soll auf jegliche Bewirtschaftung verzichtet werden, in der anderen Hälfte ist eine eingeschränkte Nutzung möglich. Weiter werden in Wirtschaftswäldern teilweise Altholzinseln oder zumindest einzelne alte Bäume stehengelassen (man spricht von sogenannten Habitatsbäumen). Für solche Massnahmen erhalten Waldbesitzerinnen und -besitzer Entschädigungen. Das System sei vergleichbar mit den Subventionen in der Landwirtschaft, die verteilten Summen aber deutlich niedriger. Für das Stehenlassen eines alten Baums zum Beispiel erhält man rund 300 bis 500 Franken. «Das ist zwar nicht alle Welt», sagt Lachat. «Aber vielleicht ist der Baum etwas krumm und das Holz deshalb nicht so schön, dann ist es für einen Waldbesitzer in Ordnung.»
Sihlwald und Bois du Jorat: zwei Waldreservate in Stadtnähe
Ein gutes Beispiel für ein Waldreservat ist der Naturerlebnispark Sihlwald im Kanton Zürich, den Lachat wissenschaftlich untersuchte. Dieser Wald wurde früher intensiv genutzt, seit dem Jahr 2000 wird er praktisch sich selbst überlassen. Er ist unterteilt in eine Naturerlebniszone, die an Wohngebiet anschliesst und frei betreten werden darf, und einer Kernzone. Dort darf man die Wege nicht verlassen und keine Pflanzen und Pilze pflücken. «Der Widerstand gegen das Projekt war gross. Dass man es dennoch realisieren konnte, ist bemerkenswert», findet Lachat. Es handelt sich um einen Buchenmischwald auf einer Fläche von rund 1100 Hektaren, das Gebiet gehört der Stadt Zürich. Viele auf Totholz angewiesene Pilzarten und weniger anspruchsvolle Käferarten sind inzwischen zurück, wie Lachat in seiner Untersuchung herausgefunden hat.
Der Alpenbock braucht etwas länger, er ist noch nicht im Sihlwald zu finden. Es gibt den majestätischen Käfer mit langen Fühlern, der auch schon auf einer Schweizer Briefmarke abgebildet war, bei uns zurzeit nur in den Voralpen (vor allem im Prättigau) und im Jura. Sein Verhängnis ist, dass er die Eier gerne in frisch abgestorbenes Buchenholz legt und die Larven für ihre Entwicklung drei Jahre benötigen. Die meisten enden mit dem Brennholz in einem Ofen, bevor die Käfer ausgewachsen sind. Der Lebensraum für diesen Bockkäfer sei im Sihlwald inzwischen aber vorhanden, sagt Lachat. Es wäre sogar denkbar, dass der seltene Gast künftig in den eingangs besuchten Wald nach Zollikofen zurückkehrt, wenn man genügend alte Buchen stehenlässt. Auch der Weissrückenspecht, von dem es in der Schweiz bloss noch etwa 20 bis 30Paare gibt, ist im Sihlwald bisher nicht aufgetaucht. Er brütet erst in der Ostschweiz. Lachat geht davon aus, dass der Weissrückensprecht «irgendwann im Sihlwald ankommen» wird.
Auch der Bois du Jorat, welcher der Stadt Lausanne gehört, hat den vom Bund anerkannten Status eines «Naturerlebnisparks» Er umfasst eine Fläche von 930 Hektaren und wurde vorher nicht so intensiv bewirtschaftet. Gleich wie im Sihlwald gibt es in der Waadt eine Kernzone, die vollständig geschützt wird, und eine Übergangszone.
Neuer Schutzstatus für unbewirtschaftete Wälder?
Trotz all dieser Fortschritte sei die Biodiversität im Schweizer Wald generell «noch nicht so gut, wie wir sie gerne hätten», findet der Waldökologe. So gelten laut einem Monitoring aus dem Jahr 2016 von 256 untersuchten totholzliebenden Käferarten 47 Prozent als bedroht. Und mit jeder Art, die ausstirbt, geht ein Stück Natur unwiederbringlich verloren. Das hat Auswirkungen auf andere Tierarten in der Nahrungskette. Auch ist Totholz für Säugetiere wie etwa den Siebenschläfer oder – neben dem Weissrückenspecht – auch für weitere in Höhlen brütende Vögel überlebenswichtig.
Lachat geht davon aus, dass die angestrebten 10 Prozent Waldreservate in der Schweiz nicht reichen werden, um die Biodiversität im Wald zu erhalten. Er kennt aber noch eine Zahl, die ihn positiv stimmt: 20 Prozent der gesamten Schweizer Waldfläche wurden in den letzten 50 Jahren nicht bewirtschaftet. Auch in solchen Wäldern gebe es mehr Totholz. Es bestehe jedoch das Risiko, dass diese von einem Tag auf den anderen wieder bewirtschaftet würden. «Vielleicht findet sich für solche ökologisch sehr wertvollen Wälder ein Status, um sie ebenfalls zu schützen, ohne sie gleich zu einem Reservat zu erklären.»
Indirekte Auswirkungen der Klimaerwärmung
Wie wirkt sich die Klimaerhitzung auf die Artenvielfalt im Wald aus? Für viele Tiere und Pflanzen, die auf Totholz angewiesen sind, hat der Temperaturanstieg laut Lachat sogar einen positiven Effekt. Das Problem sei allerdings, dass die Forstwirtschaft zunehmend «klimafitte» Bäume anpflanze. Statt Fichten werden zum Beispiel die aus den USA stammenden Douglasien gesetzt. Wir haben im Wald oberhalb von Zollikofen auch solche rotstämmigen Nadelbäume entdeckt, und Lachat zupfte bei einem alten Strunk, der löblicherweise stehen gelassen wurde, ein Stück Rinde ab. Darunter waren ein paar Löcher von Totholzkäfern auszumachen. «Douglasien können aber weniger Arten beherbergen als Fichten, und wir reduzieren auf diese Weise die Biodiversität im Wald.»