moneta: Wir erlebten letztes Jahr erneut eine lang andauernde, extreme Trockenheit. Wie geht es dem Wald inzwischen?
Michael Reinhard: Er ist gestresst und im Wandel. Die Auswirkungen der Erwärmung sind anhaltend. Die Extreme werden extremer. Wenn mehrere trockene Jahre aufeinander folgen und sich die Borkenkäfer stark vermehren, entstehen Kumulationseffekte.
Eine andere Folge der Klimaveränderung sind früher einsetzende Vegetationszeiten, gefolgt von Spätfrost. Leiden Waldbäume ebenso unter diesem Effekt wie Obstplantagen?
Absolut! Wenn der Baum im Saft ist – im wahrsten Sinn des Wortes –, und es friert, werden die Gefässe geschädigt. Betroffen sind nicht nur die Blätter, sondern auch der Stamm und die Äste. Ein Baum kann deswegen sogar absterben. Zum Glück waren die Effekte bis jetzt relativ mild, ausser an manchen Standorten im Frühjahr 2017. Aber hat ein Baum seine Blätter einmal verloren, braucht er Extra-Energie, um noch einmal neue zu bilden.
Hat das Folgen für ihn?
Wenn er wieder wächst, bedeutet das: Er ist vital. Aber es hat tatsächlich einen Effekt aufs Wachstum und auf die Holzqualität. Stop-and-Go-Effekte gibt es auch bei Trockenheit – da hat man in den Kronen der jurassischen Buchenbestände viele Schäden gesehen. Die Bäume sterben nicht direkt ab, aber nach mehreren trockenen Jahren sieht man, wie krass selbst diese Tiefwurzler darunter leiden, weil die Böden dann bis in die Tiefen austrocknen.
Zusätzlich macht ja auch der Stickstoff den Wäldern zu schaffen. Aber anders als in den 1980er-Jahren spricht heute niemand mehr von einem Waldsterben. Ist das Problem vernachlässigbar?
Gar nicht! In knapp 90 Prozent der Schweizer Wälder werden die Schwellenwerte überschritten. Der weitaus grösste Teil des Ammoniaks, nämlich 94 Prozent, stammt aus der Landwirtschaft – in Europa haben nur die Niederlande und Belgien noch höhere Emissionen pro Hektare Landwirtschaftsfläche. Ein kleinerer Anteil der Einträge in die Wälder stammt aus den Stickstoffoxiden aus dem Verkehr und der Industrie.
Was bewirkt die hohe Stickstoffbelastung?
Zunächst wächst der Baum stärker, was an der düngenden Wirkung des Stickstoffs liegt. Bei hohen Einträgen werden aber zu hohe Nitratmengen aus dem Boden zusammen mit basischen Nährstoffen ausgewaschen, was zu dessen Versauerung führt. Vielerorts stellte man auch eine geringere Anzahl und Vielfalt an Mykorrhiza-Pilze an den Baumwurzeln fest. Diese symbiontischen Pilze sind für die Phosphor-Aufnahme wichtig. Über die Jahre wird die Ernährung vieler Bäume dadurch schlechter und sie wachsen weniger gut. Wenn der Boden versauert, sind die Bäume weniger vital und können weniger gut mit Trockenheit umgehen. Das zeigten Daten aus den letzten Jahren. Es gibt Waldböden, die bereits so stark versauert sind, dass man testweise mit Beigabe von Kalk versucht, sie zu sanieren.
Sieht man das den Böden an?
Man sieht es den Bäumen an: Sie werden instabiler, und wenn es stürmt, kippen sie schneller. Wir müssen die Lage ernst nehmen: Die Kombination von Trockenheit und Bodenversauerung hat einen starken Effekt auf die Baumvitalität. Die Emissionen aus der Landwirtschaft müssen dringend reduziert werden.
Werden wir ein grosses Baumsterben erleben oder ist das ein über Jahrzehnte dauernder Prozess, mit parallel dazu verlaufender Erneuerung durch andere Baumarten?
Bei uns vollzieht sich dieser Wandel bisher schleichend, baumgruppenweise. Ein grossflächiges Absterben, wie man es vielerorts in Deutschland gesehen hat, gab es hier – noch – nicht. Aber vor allem die Schutzwälder in den Bergen bereiten uns Sorgen. Würde ein solcher Wald ausfallen, wegen eines Sturms oder durch starken Borkenkäferbefall, müssten wir mit Schutzbauten reagieren. Bis jetzt haben wir zum Glück keinen flächendeckenden Fall.
Sind unsere Wälder weniger anfällig für grossflächige Schäden?
Wir haben dank unseres strengen Waldgesetzes vergleichsweise gute Voraussetzungen: Es gibt bei uns keine Kahlschläge. Und die Wälder werden nach dem Prinzip des naturnahen Waldbaus bewirtschaftet: Der Wald verjüngt sich auf natürliche Weise. Man arbeitet mehrheitlich mit dem, was schon vorhanden ist. Wo es Störungen gab, wandelte sich der Wald in den letzten Jahren bereits vom Nadel- zum Mischwald. Das ist auch eine Folge von Lothar: Man weiss, dass ein Wald resilienter und robuster ist, wenn er breit gemischt ist. Das Grundprinzip der Ökologie lautet: Je mehr Arten und Struktur, desto resilienter ist das System.
Unser Wald soll Holz liefern und gleichzeitig ein Hotspot der Biodiversität bleiben. Ist beides zusammen auch in Zukunft möglich?
Bei einer stabilen Artenvielfalt zugleich mehr Holz ernten zu können, ist unser Ziel. Vor allem für eine hochwertige Holzverwendung wie im Holzbau. Denn Holz bindet CO2 und dies für lange Zeit, wenn es verbaut wird. Die Frage aber ist: Was leistet der Wald wo? Im Mittelland werden wir eine andere Strategie verfolgen als in den Voralpen oder auf der Alpensüdseite.
Der aktuelle Bericht des Bundes zur Anpassung des Waldes an den Klimawandel vermittelt den Eindruck, dass unser Wald ernsthaft gefährdet ist …
Uns überrascht die Geschwindigkeit, mit der sich die Bedingungen verändern. Ende der 1990er hiess es: Jedes zweite oder dritte Jahr werde etwa ab den 2050er Jahren ein Trockenjahr sein. Jetzt sind wir Anfang der 2020er-Jahre, und wir sind bereits an diesem Punkt. Das heisst: Es fehlen uns fast 30 Jahre Forschungszeit. Wir müssen jetzt Methoden und Instrumente für die Anpassung finden. Sicher, es wird bei uns immer Wald geben …
… aber?
Es wird nicht mehr der Wald sein, den wir jetzt kennen. Unsere Wälder werden anders aussehen, sie werden teilweise auch instabiler und können gefährlicher sein, selbst in der Nähe von Siedlungen. Es können Äste herunterfallen, ganze Bäume kippen.
Braucht es Sicherheitsmassnahmen?
Ja. Der Hardwald in Basel beispielsweise musste vor wenigen Jahren zeitweise aus Sicherheitsgründen gesperrt werden. In Zukunft wird es vermutlich vermehrt Waldsperrungen geben. Grundsätzlich soll aber jeder Wald frei zugänglich bleiben.
Sie erarbeiten die Wald- und Holzstrategie 2050. Was ist dabei wichtig?
Wir wissen viel und haben die Möglichkeit zu gestalten. Eine grosse Herausforderung wird sein, die Wald- und Holzbranche zu sensibilisieren. Wir müssen verstehen, dass der Wald nicht mehr nur einen «Brotbaum» liefern wird, wie es die Fichte bis anhin war.
Welche Baumartern werden in unseren Wäldern künftig wachsen?
Im Voralpen- und Alpenraum wird man immer noch Nadelbäume wie die Fichte finden, aber insgesamt wird man mehr Bäume verschiedenen Alters und mehr Arten sehen. Wir haben auch in der Schweiz Baumarten, die trockenheitsadaptiert sind, die werden wir jetzt primär fördern müssen. Allerdings gibt es Standorte, wo die Bedingungen sich so krass ändern, dass wir nicht die sanfte Naturverjüngung fördern können, sondern aktiv gestalten müssen.
Zusammen mit der Forschungsanstalt Wald, Schnee und Landschaft WSL haben wir fast überall in der Schweiz Testpflanzungen eingerichtet. Beispielsweise mit Baumarten, die bei uns heimisch sind und die auch im Balkan, in der Toskana und in Südfrankreich wachsen, deren Genotypen – quasi Cousins – aber an trockene und wärmere Bedingungen angepasst sind. Etwa Buchen oder Weisstannen, die Trockenheit vertragen.
Wird man auch gänzlich fremde Baumarten pflanzen?
Ja, dort wo einheimische Baumarten alleine nicht mehr zum Erhalt des multifunktionalen Waldes beitragen können, wird man bestimmte gebietsfremde Arten beimischen dürfen.
Was bedeutet das für das Zusammenspiel mit anderen Lebewesen – Pilzen, Pflanzen, Käfern, anderen Insekten?
Man muss sorgfältig vorgehen. Wir investieren gezielt in Forschungsprogramme und -projekte und denken multifunktional – die Biodiversität ist dabei ein Aspekt, die Schutzwirkung der Wälder ein anderer.
Es kommt viel Arbeit auf Forscherinnen und Förster zu …
Ja, auch auf die Holzwirtschaft, die Kantone und Gemeinden, Waldeigentümer und den Bund. Es werden sich alle der Veränderung stellen müssen und es können alle mitwirken.