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14.03.2022 von Roland Fischer

Neue Metabolisten braucht die Welt!

Ein Drittel des Baumaterials landet beim Abbruch direkt auf der Halde. Und auch sonst ist es mit dem Recycling beim Bauen kompliziert. Bis zur echten Kreislaufwirtschaft ist noch ein weiter Weg. Vielleicht bräuchten wir radikal neue Ideen?

Artikel in Thema bauen. wohnen. klima.
Illustration: Claudine Etter
Fangen wir mit etwas für Architektur-Nerds an, dem Nakagin Capsule Tower in Ginza, Tokio. Eine städtebauliche Legende, ziemlich genau 50 Jahre alt, erbaut vom japanischen Architekten Kisho Kurokawa. Der Tower ist der vielleicht einzige stehende Vertreter des «Metabolismus», der – laut Rem Koolhaas, seines Zeichens einer der einflussreichsten Architekten der Welt – «letzten Bewegung, die die Architektur veränderte». Der Nakagin Capsule Tower sieht tatsächlich einigermassen futuristisch aus: Grundstruktur bildet ein 13-stöckiger, rostroter Doppelturm, der 144 gleichförmige Module trägt, ein wenig wie eine Ähre. Die Kapseln erinnern an Schiffscontainer, sind aber deutlich kleiner, jede hat ein Bullauge. Die Nutzung der jeweils knapp 20 Kubikmeter grossen Kapseln war offen: Wohn- oder Büroraum, je nach Bedürfnis. Inzwischen sind nicht wenige dem Vernehmen nach zu externen Rumpelkammern verkommen – der Tower hat seine besten Tage eindeutig hinter sich und steht ziemlich verlassen inmitten charakter­loser Bürogebäude.

Eine Architektur, die der Logik des Werdens und Vergehens folgt

Im Grunde widerspricht es der Grundidee des Metabolismus, dass der Tower überhaupt noch steht. «Europäische Schönheit war für die Ewigkeit geschaffen», meinte Kurokawa in einem Gespräch mit Koolhaas. Dem wollten die Metabolisten «eine neue Ästhetik, die auf Bewegung basiert», entgegenstellen. Architektur im Fluss, Stoffwechsel eben, Metabolismus, die biologische Logik des Wachsenden, Werdenden und Vergehenden. Beim Nakagin Capsule Tower zum Beispiel sollten die Kapseln ohne grossen Aufwand austauschbar sein. Die Inspiration dazu fanden die Metabolisten in einem der Grundprinzipien des Schintoismus: Alles befindet sich in einem ewigen Kreislauf. Das widerspiegelt sich auch im Bauen: Seit dem Jahr 690 wird das wichtigste japanische Heiligtum, der Ise-Schrein, alle 20 Jahre neu gebaut. Sehr nachhaltig ist das natürlich nicht, jedes Mal werden rund 10 000 Bäume für den Neubau gebraucht. Bald waren die umliegenden Wälder von Ise leergeholzt, und die Bäume mussten von weither aus Japan in den Süden gebracht werden. Inzwischen hat ein Umdenken stattgefunden: Während die Konstruktionen früher einfach verrotteten, werden sie heute recycelt. Zwei besonders grosse Säulen werden zum neuen Schreintor, nach weiteren 20 Jahren wird dieses Holz wiederum für andere, kleinere Schreine auf dem Gelände verwendet. 
Das erinnert ein wenig an die Bauteilbörsen, die sich auch um die Wiederverwertung von Abrissmaterial kümmern. Oder überhaupt an das Konzept des «zirkulären Bauens», wie es beispielhaft vom Baubüro in situ aus Basel und Zürich praktiziert wird. Hört man dessen Wiederverwendungsexperten Marc Angst zu, wie er den Planungsprozess am Beispiel des preisgekrönten Ate­lierhauses K 118 in Winterthur schildert, spürt man allerdings vor allem die grossen Hürden und die nötige Improvisationsgabe der Architektinnen und Architekten. Auch bei den Bauteilbörsen fällt der Reality-Check eher ernüchternd aus. «Für die professionelle Anwendung für PlanerInnen funktionieren die Bauteilbörsen entweder zu umständlich oder verfügen schlicht nicht über die notwendige Breite des Angebots», liest man zum Beispiel im Online-Magazin «Architektur Basel». Kein Wunder, ist die Bauindustrie doch nach wie vor ganz auf den Zyklus von Bauen und Zerstören ausgerichtet – Wiederverwenden ist kaum vorgesehen. Wenn man es trotzdem versucht, stolpert man bereits beim Sammeln: Beim Abriss stört man nur, wenn man einzelne Teile retten will. Und anschliessend passt nichts so recht zusammen, man muss während des ganzen Planungs- und Bauprozesses mit Normen, Vorschriften und Materialien jonglieren. Das kann im Einzelfall inspirierend sein, ohne Zweifel. Aber im grossen Stil ist das alles andere als praktikabel.

Vom hyperindividualistischen zum modularen Bauen

Das Problem liegt natürlich wesentlich tiefer: Wir bauen hyperindividualistisch, auch wenn die grosse Zeit von Frank Gehry oder Zaha Hadid vielleicht ein wenig vorbei ist. Der Sündenfall dabei: einmal mehr der Superbaustoff der Moderne, der Beton. Dieser hat nicht nur eine katastrophale Klimabilanz, er steht stellver­tretend für die «Einwegmentalität» des Bauens. Die Schweiz präsentiert sich zwar gern als Recyclingweltmeister beim Beton, aber wirklich zirkulär ist solches Bauen natürlich nicht: Der Beton muss aufwendig zerkleinert und dann wieder aufgearbeitet werden. 
In einem solchen Recyclingprozess steckt nach wie vor jede Menge grauer Energie. In den letzten Jahren gab es eine Reihe von Initiativen, die den Kreislauf beim Bauen schliessen wollen, indem als wichtiger erster Schritt Transparenz über die verbauten Materialien geschaffen wird. In der Schweiz kümmert sich die Stiftung Madaster, die eng mit der Bauindustrie zusammenarbeitet, darum; in Deutschland hat die neue Bundesregierung angekündigt, einen Ressourcenpass einführen zu wollen. Man wird aber das Gefühl nicht los, dass diese Initiativen eher ausgehend vom «Urban Mining» gedacht sind, von der Idee nämlich, dass Abfallmaterialien schlicht zu wertvoll sind, um einfach auf der Deponie zu landen. Zumindest manche von ihnen.
Es gibt aber ein radikales Gegenprinzip: modulare Architektur. Am ehesten kennt man das von Containerbauten, denen aber immer noch der Ruch des Provisoriums anhaftet, so baut man nicht «richtig». Die Containerbau-Industrie hätte aber längst Lösungen parat, die sich in Raumqualität und Erscheinungsbild kaum mehr von klassischer Bauweise unterscheiden. Und die sich im Prinzip viele Male auf-, ab- und in anderer Forma­tion wieder neu bauen liessen. Auch beim Baustoff gibt es längst eine grosse Vielfalt: Während Containerhäuser in der Regel aus Metall oder Stahl bestehen oder aus ausrangierten Schiffscontainern, werden Modulhäuser meist aus Holz gefertigt. Auch preislich ist das natürlich interessant: Wie wäre es mit einem Home-Office im Garten, als Bausatz geliefert? «Büro für den Aussenbereich Home-Office Nr. 2 aus komplett ab Werk zusammengestellten Wandelementen» – kann man bequem online bestellen, derzeit im Ausverkauf: 6419 Franken.

«Konsequenterweise bräuchten wir eine Art Lego-Architektur. Keine Logik von Aufbau und Abriss mehr, sondern eine von Zusammenbauen und Auseinandernehmen, ein ums andere Mal.»


Mit Lego-Architektur zur Klimaneutralität?

Ein Gedanke aus dem Vortrag von Marc Angst bleibt da vor allem hängen: Vielleicht müsste sich nicht das verbaute Material den planerischen Ideen anpassen, sondern umgekehrt die Ideen – auch jene zur Nutzung  – dem Verfügbaren. Da denkt man unweigerlich an den Lego-Baukasten und die spielerischen Möglichkeiten, die sich gerade aus der Reduktion der Elemente ergeben. Konsequenterweise bräuchten wir also eine Art Lego-Architektur. Keine Logik von Aufbau und Abriss mehr, sondern eine von Zusammenbauen und Auseinandernehmen, ein ums andere Mal. Das Ende des Lebenszy­klus eines Hauses würde damit nicht das Ende der verbauten Elemente bedeuten – im Grunde gäbe es gar kein Abbruchmaterial mehr. Auch dafür gibt es historische Referenzen: Viele Burgruinen in unseren Gegenden wurden zu Materiallieferanten für nachfolgende Bauten in der Nähe. Um Umweltschutz ging es damals noch nicht, aber bestimmt um Ressourcen. 
Interessanterweise war schon bei den Metabolisten das Klima ein treibender Faktor: Einer der stärksten Taifune in der Geschichte Japans tobte 1959, nur ein Jahr vor der Gründung des Metabolismus. «Der Ise-Bucht-Taifun zerstörte viele Städte», erinnert sich Kurokawa, «und ich war in einer von ihnen.» Nach dem Weltkrieg war das gewissermassen das zweite Trauma, das eine Revolution im architektonischen Denken auslöste – Architektur sollte sich diesen krisenhaften Umweltbedingungen anpassen können. Es wäre wohl an der Zeit für eine ähnlich radikale Neuordnung des Bauens. Wo sind die Metabolisten von heute?
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