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19.09.2018 von Muriel Raemy

Ein Film für die Gerechtigkeit

«Cleveland Versus Wall Street» ist ein Dokumentarfilm über ein Verfahren, das nie stattfand. Der Lausanner Filmemacher Jean-Stéphane Bron inszenierte den Prozess, den die Stadt Cleveland vergeblich gegen jene Banken anstrengte, die für die Subprime-Krise verantwortlich waren. Obwohl fiktiv, spielen in Brons Filmprozess Wahrheit und Authentizität die grössten Rollen.

Artikel in Thema Finanzkrise
Regisseur Jean-Stéphane Bron ist bekannt für seine politischen Dokumentarfilme.

Die Gesichtszüge von Josh Cohen erstarren, als er das Verdikt der Geschworenen liest. Der Anwalt vertritt die Interessen der Stadt Cleveland (Ohio) und deren Einwohner gegenüber 21 Banken. Die Nahaufnahme fängt die ganze Enttäuschung ein, die sich in seinem Gesicht widerspiegelt. Dann ändert die Kameraeinstellung und zeigt die Siegesfreude von Keith Fisher, dem unerbittlichen Verteidiger der angeklagten mächtigen Finanzinstitutionen. Keinen Cent Schadenersatz werden sie der Stadt bezahlen müssen, niemand wird sie für ihren Anteil an der Subprime-Krise zur Verantwortung ziehen. Jean-Stéphane Bron bringt diese Ungerechtigkeit ans Licht, indem er einen Gerichtsprozess filmt, der in der Realität nie stattgefunden hat. Seit seinem Erscheinen im Jahr 2010 hat «Cleveland Versus Wall Street» zahlreiche Preise gewonnen.

moneta: Wie sehen Sie die Krise heute, acht Jahre nach Erscheinen des Films?
Jean-Stéphane Bron: Niemand wurde in dieser Sache verurteilt. Abgesehen von einem oder zwei Brokern, die ins Gefängnis mussten, gab es keine Konsequenzen für die Banker, die diese Hypotheken verbrieft hatten. Und es läuft immer noch so: Auch heute verteidigen um die 5000 Lobbyisten die Interessen der Wall Street in Washington. Der Staat hat solche Transaktionen weder reguliert, noch überwacht er sie – und dies bis zum heutigen Tag.

Wie kamen Sie auf Cleveland?
Mein vorhergehender Film, «Mais im Bundeshuus» (2003), stellte die Frage nach der Macht der Wirtschaft über die Politik. Ich wollte mich eingehender mit dieser Thematik befassen und suchte während vieler Jahre einen Ort, wo sich diese Machtverhältnisse herauskristallisieren. Schliesslich hörte ich im April 2008 von einer Klage, die Cleveland drei Monate zuvor eingereicht hatte. Die Stadt hatte das Problem der Hypothekarkredite mit geringer Bonität vor allen anderen erkannt. Der Bürgermeister erzählte mir von seinen Nachforschungen: Er wollte verstehen, was wirklich hinter der massiven Zunahme von Zwangsräumungen steckte. Die Ergebnisse seiner Recherchen übergab er schliesslich in die Hände von Anwälten. Er erhoffte sich, dass sie das Fehlverhalten der Banken aufzeigen und sie zur Zahlung von Schadenersatz bringen würden.

Wieso machten Sie daraus einen fiktiven Dokumentarfilm?
Ich ging eigentlich nach Cleveland, um den richtigen Prozess zu filmen. Ich war schon über ein Jahr dort, aber nichts passierte. Die Banken hatten das Verfahren blockiert. Die Verzweiflung darüber brachte mich schliesslich auf die Idee eines fiktiven Prozesses. Ich kannte ja alle Protagonisten, ich war am Tatort und hatte schon viele Stunden Bildmaterial – daraus wollte ich etwas machen.

Einen fiktiven Prozess inszenieren – wie packt man das an?
Ich musste die Realität, die ich filmen wollte, kreieren. Ich hatte eine klare Vorstellung davon, wie ich die Zuschauer dazu einladen wollte, der Wahrheitssuche zu folgen. Mein Ansatz war sehr zielgerichtet. Was aber vor der Kamera abläuft, ist dokumentarisch. Wir haben in einem richtigen Gerichtsgebäude gefilmt, mit richtigen Geschworenen und einem richtigen Richter. Die Zeugen erzählen von ihrer persönlichen Situation, ihrer Realität. Der Gerichtssaal war während der gesamten zehn Drehtage nie leer, die Leute kamen in Strömen. Alle wollten wissen, was wirklich passiert war.

Ihre Filme sind sehr engagiert. Kann man sie als aktivistisch bezeichnen?
Nicht aktivistisch, nein, aber ich versuche schon, den Nerv der Zeit zu treffen. Die undurchsichtigen Regeln der Finanzwelt und ihre unverhältnismässig grosse Macht prägen unsere Gegenwart. Wie soll man so etwas zeigen? Wie behandelt man ein Thema von solch immensem Ausmass? Ich habe mich an die Figuren gehalten, ihre Schwächen, ihre Probleme, aber auch ihre Stärken. Ich stand – meiner Meinung nach – auf der Seite der Gerechtigkeit. Mein Film hat zwar nichts an den realen Geschehnissen geändert, aber ich wollte die Zuschauer mittels Unterhaltung zum Nachdenken bringen.

Es wird also nie zu einem echten Prozess kommen?
Nein. Die beiden Anwälte Kathleen Engel und Josh Cohen, die in meinem Dokumentarfilm die Stadt Cleveland vertreten, sind bis vor Bundesgericht gegangen. Doch die Banken haben sich mit allen Mitteln gegen die Prozesseröffnung gewehrt. Aber Barbara Anderson zum Beispiel kämpft weiter, in einer Bürgervereinigung, die den rund 20 000 Familien, die ihre Häuser verloren haben, eine Stimme verleiht. Wie sie am Ende des Films sagt, handelt es sich um ein Beispiel für einen perversen Mechanismus, mit dem auf Kosten der Armen Geld gemacht wird.

Der Staat erscheint hier ziemlich machtlos...
Ja, die Krise hat die extreme Abhängigkeit der Politik von den Banken, ihre völlige Vereinnahmung durch die Finanzwelt aufgezeigt. Die Subprimes sind hier nur die Tatwaffen, sie stehen am Ausgangspunkt der globalen Finanzkrise. Wer hat von diesen Verbrechen profitiert? Die Antwort findet man meiner Ansicht nach bei der extremen Rechten und den populistischen Bewegungen. Überall auf der Welt profitieren sie von einem allgemeinen Misstrauen gegenüber Institutionen, dessen Ursprung zumindest teilweise in dieser Ohnmacht der Politik liegt. Auch die Schweiz kann sich dieser Tendenz nicht entziehen. Das habe ich in meinem Film «L’expérience Blocher» von 2013 zu zeigen versucht.

Was für einen Film über die Finanzkrise würden Sie heute machen?
Genau den gleichen! Aber ich würde mit einem hoffnungsvollen Ausblick abschliessen, denn aus den Trümmern dieser Krise sind zahlreiche Projekte entstanden. Seit 2008 gibt es ein globales Bewusstsein dafür, dass es alternative Lösungen braucht, dass man Antworten ausserhalb des bestehenden Systems suchen muss. Der Staat Ohio beispielsweise hat die Cuyahoga Land Bank gegründet, eine öffentlich-rechtliche Bank, die 2009 damit begann, Häuser zurückzukaufen und zu renovieren, um sie so aus der Spekulationsblase herauszuholen.

Weitere Informationen

Jean-Stéphane Bron, mehrfach ausgezeichneter Filmemacher, ist bekannt für seine politischen Dokumentarfilme. Neben «Cleveland Versus Wall Street» sind dies etwa «Connu de nos services» (1997) über den Fichenskandal, «Mais im Bundeshuus – Le génie helvétique» (2003), der einen Blick hinter die Kulissen des Parlamentsbetriebes wirft und zu den meistgesehenen Dokumentarfilmen der Schweiz gehört, bis zu «L’expérience Blocher» (2013), einem Porträt des Milliardärs und SVP-Politikers Christoph Blocher. Jean-Stéphane Bron gehört dem Kollektiv Bande à part Films an.

Den Film «Cleveland Versus Wall Street» findet man auf www.lekino.ch, einer Website für Video-on-Demand,  die Independent-Filme unterstützt.

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