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09.12.2020 von Florian Wüstholz

Durchzogene Bilanz

Die Rothenthurm-Initiative verankerte 1987 den Moorschutz in der Verfassung und war ein Meilenstein in der Schweizer Natur- und Umweltschutzgesetzgebung. Aber wie hat sich die Rechtsprechung seither ent­wickelt? Ein Blick zurück mit Anwalt ­Martin Pestalozzi zeigt wichtige Erfolge, aber auch, wie viel noch zu tun ist.

Artikel in Thema Umwelt im Recht
Illustration: Claudine Etter
An einer Holzscheune prangt in riesigen weissen Buchstaben das Wort «nie». Offizielle Aushänge des Mili­tärdepartements sind mit der Anklage «Enteigner» übermalt. Solche ikonischen Bilder prägten 1987 die ­Abstimmung um die fürs Umweltrecht wegweisende Rothenthurm-Initiative. Diese wollte den Schutz der wenigen verbliebenen Schweizer Moore in die Bundesverfassung schreiben – und damit gleichzeitig den Bau eines Waffenplatzes mitten im Moorgebiet ausserhalb des Dorfs Rothenthurm verhindern.
Mit Erfolg, denn zur Überraschung vieler wurde die Volksinitiative deutlich angenommen. Auch für den Anwalt Martin Pestalozzi bedeutete der verfassungsmässige Schutz von Moorlandschaften eine Sensation. «Das war so nicht zu erwarten», erinnert er sich beim Gespräch in seiner Wohnung in Rüti. Seit über 40 Jahren kämpft der bald 70-jährige Pestalozzi vor Behörden und Gerichten für das Umweltrecht – oft im Namen von Umweltorganisationen, manchmal auch für Einzelpersonen. So auch im Rechtsstreit um den Waffenplatz bei Rothenthurm, bei dem Pestalozzi den WWF und betroffene Bauern vertrat.

Streitfall Oberlandautobahn

Wenige kennen die Entwicklung im Schweizer Umweltrecht der letzten Jahrzehnte besser als Pestalozzi. Das Jahr 1987 mit dem richtungsweisenden Moorschutz nimmt für ihn selbstredend eine besondere Stellung ein. «Mit der Annahme der Rothenthurm-Initiative standen Moore und Moorlandschaften von besonderer Schönheit und nationaler Bedeutung plötzlich unter praktisch absolutem Schutz», erklärt Pestalozzi. Nun war der Schutz der Moore vor Gericht wichtiger als andere öffentliche Interessen, was auch das Bundesgericht mit seiner Rechtsprechung mehrmals bestätigt hat.
Als Beispiel für den juristischen Einfluss der Rothenthurm-Initiative nennt Pestalozzi die seit Jahrzehnten unfertige Oberlandautobahn zwischen Uster und Hinwil – ein neuralgischer Verkehrspunkt im Zürcher Oberland. Weil die geplante Lückenschliessung durch eine Moorlandschaft verlaufen sollte, wehrten sich Umweltverbände bis vors Bundesgericht gegen den Kanton. «Bei der Abgrenzung der schützenswerten Moorgebiete hatte dieser noch versucht, durch eine interessengeleitete Zonierung den geplanten Autobahnabschnitt nicht zu gefährden», erinnert sich Pestalozzi.
Doch der taktische Versuch des Kantons ging schief. Das Ausklammern eines kleinen Moorgebiets aus der geschützten Moorlandschaft sei nicht rechtens abgelaufen, entschied das Bundesgericht. Es hiess im Juni 2012 mehrere Beschwerden von Birdlife und Privatpersonen gut. Das Fazit: Bei der Projektierung der Oberlandautobahn wurde der Moorschutz nicht genügend berücksichtigt. Nun muss neu geplant werden – und die Umwelt besser geschützt.

Wo kein Kläger, da kein Richter

Trotz diesem Erfolg im Fall der Oberlandautobahn gibt es nach wie vor einen grossen Notstand in der Durchsetzung des Umweltrechts. Neben dem Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) und dem Gewässerschutzgesetz vereint vor allem das Umweltschutzgesetz (USG) von 1983 diverse Rechtsnormen, die den Schutz der verschiedenen Ökosysteme gewährleisten sollen – sei es bei der Luftqualität, dem Lärmschutz, der nicht­ionisierenden Strahlung oder der Altlastenentsorgung. Zum Vollzug dieses Umweltrechts sind die Behörden verpflichtet. Diese hätten aber oft zu wenig Ressourcen und stünden auch unter politischem Druck. «Als Anwalt kann ich nur punktuell dafür sorgen, dass bestehendes Recht auch tatsächlich umgesetzt wird», gibt Pestalozzi zu bedenken. 
«Wir dürfen nicht vergessen: Wo kein Kläger, da kein Richter», ermahnt Pestalozzi. Denn Umweltrechtsfälle kommen nur dann überhaupt vor Gericht, wenn Beschwerde eingereicht wird. Glücklicherweise gibt es die Möglichkeit, dass Verbände dies im Namen der Umwelt tun können – und sich dabei oft den Ruf als «Verhinderer» einholen. «Dabei geht es bloss darum, geltendes Recht durchzusetzen», sagt Pestalozzi.

Angriff aufs Verbandsbeschwerderecht abgewehrt

Ungefähr 30 Umweltorganisationen – wie der VCS, der WWF, Pro Natura oder die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz – sind gemäss dem USG und dem NHG aktuell beschwerdeberechtigt. Wie wichtig diese Möglichkeit ist, zeigt die Erfolgsquote bei Verbandsbeschwerden. Sie liegt im langjährigen Schnitt bei rund 60 Prozent. «In all diesen Fällen wäre ansonsten gegen das geltende Recht verstossen worden», erklärt Pestalozzi. Trotz dieser wichtigen Funktion ist das Beschwerderecht manchen ein Dorn im Auge. So sorgt es zum Beispiel ab und zu dafür, dass bei grossen Bauprojekten wie Einkaufszentren oder neuen Strassen eine Umweltverträglichkeitsprüfung auch tatsächlich sorgfältig gemacht wird. Das bedeutet zusätzlichen Aufwand und Kosten – zum Schutz der Umwelt. Die FDP wollte dieses Recht 2008 mit einer Volksinitiative kippen und scheiterte an der Urne klar. Ein Erfolg? «Nicht unbedingt», meint Pestalozzi. «Der Bundesrat hatte bereits vorher durch Verordnungsänderungen das Beschwerderecht geschwächt.» So müssen heute beispielsweise weniger Projekte überhaupt eine Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen.
Und dennoch: Dank den Beschwerdemöglichkeiten gab es in den letzten Jahrzehnten einige wichtige Erfolge zu verbuchen. So erwirkten zwischen 1993 und 1999 verschiedene Umweltverbände, dass beim Bau der SBB-Neubaustrecke zwischen Olten und Bern zusätzliche Wildquerungen über die geplante Strecke realisiert wurden. Nur so konnten letzte wichtige Wanderkorridore für Wildtiere im ohnehin schon stark zergliederten Mittelland erhalten bleiben. Und zwischen 2002 und 2005 kämpften WWF, Pro Natura und Birdlife dafür, dass das Kies- und Betonwerk Silos Ferrari in der Bolle di Magadino nicht weiter Material ausbaggern durfte. Denn an der Mündung des Flusses Ticino in den Lago Maggiore befindet sich mit 14 Moorbiotopen und zwei Auenwäldern die grösste Feuchtwasserzone der Schweiz  – ein national geschütztes Gebiet für fast 250 verschiedene Vogelarten.

Grosse Versäumnisse und Lücken

Nicht immer endet der mühselige Gang vor Gericht für Umweltschützerinnen und -schützer jedoch positiv. «Die Erhöhung der Grimselstaumauer ist der wohl grösste Ausrutscher», sagt Pestalozzi. Durch den Bau der höheren Mauer würden bedeutende und geschützte Moorlandschaften überflutet und für immer zerstört werden – ein klarer Verstoss gegen den Moorschutz. Dennoch wurden die Beschwerden der Umweltverbände gegen die Konzession vom Bundesgericht abgewiesen. Die Bauarbeiten begannen im Sommer 2019. «Hier zeigt sich leider exemplarisch, warum das Bundesgericht in Lausanne bei vielen Juristen als ‹Loterie Romande› bekannt ist», erzählt Pestalozzi. Gerät ­eine Beschwerde an die falsche Gerichtsperson, stehen die Chancen für einen Erfolg mitunter sehr schlecht. Noch immer ist eine Beschwerde gegen die Erhöhung der Grimselstaumauer – geführt von Aqua Viva und der Schweizerischen Greina-Stiftung – beim Bundesgericht hängig. Der Entscheid dürfte zeigen, wie wichtig der Moorschutz wirklich ist, wenn es um nationale Inter­essen geht.
Pestalozzi erwähnt auch andere wichtige Stationen für das Umweltrecht im weiteren Sinn. So zum Beispiel die Annahme der Alpeninitiative von 1994. «Diese gab uns zwar keine neuen Rechtsmittel in die Hand», rela­tiviert Pestalozzi. Doch sie festigte die Bedeutung des Umwelt- und Landschaftsschutzes in der Bevölkerung. Und auch das erst kürzlich knapp abgelehnte Jagdgesetz war für Pestalozzi wichtig. «Nur wenigen war bewusst, dass darin auch die so wichtigen Verbandsbeschwerderechte deutlich eingeschränkt worden wären», sagt er. Entsprechend hoch ist der knappe Sieg den Umweltverbänden anzurechnen, die fast im Alleingang das Referendum gestemmt hatten.
Trotz diesen Erfolgen sei die Lage heute nicht sehr erfreulich, meint Pestalozzi. Lediglich beim qualitativen Schutz der Seen und Flüsse könne man zufrieden sein. Beim Klimaschutz, bei der Biodiversität, beim Landschaftsschutz, bei der Luftqualität, beim Lärmschutz: Überall sieht Pestalozzi grosse Versäumnisse und Lücken. «Ich blicke leider eher pessimistisch in die Zukunft.»
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