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09.12.2020 von Fabio Peter

Die Natur als Klägerin

Nicht nur Menschen und Unternehmen sollen vor Gericht ziehen dürfen, sondern auch der Wolf, der Aletsch­gletscher oder der Rhein. Das fordern Umweltschützer und -philo­sophinnen. Mit unserem Rechtssystem absolut unvereinbar, findet der Bundesrat.

Artikel in Thema Umwelt im Recht
Illustration: Claudine Etter
Verfahrensbeteiligte: Rhein gegen Kanton Schaffhausen. Gegenstand: Forderung nach kompletter Renaturierung. Sachverhalt: Der Rhein macht geltend, dass sein Ökosystem durch bauliche Massnahmen des Kantons Schaffhausen beschädigt worden ist. Der Fluss fordert deshalb, wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt zu werden. Die Kosten habe der Kanton Schaffhausen zu tragen.
So könnte eine Klage aussehen, wenn Teile der Natur den Status einer juristischen Person erhielten – also auf gleicher Stufe ständen wie Unternehmen oder Stiftungen. Verschiedene Vorstösse wie der «Appel du Rhône» oder ein Postulat der grünen Parlamentarierin Lisa Mazzone fordern eine solche Ausweitung des Rechtssystems.

Gletscher schmelzen trotz rechtlichem Schutz

Ein ganzes juristisches Arsenal macht es heute möglich, gegen die Schädigung der Umwelt vorzugehen. Besonders wichtig ist das Verbandsbeschwerderecht. Damit können Umweltschutzorganisationen seit über 50 Jahren überprüfen lassen, ob Projekte die Umweltgesetze einhalten (siehe auch «Durchzogene Bilanz» und «Beim Vollzug fehlen die Ressourcen»). Eine Skipiste, die von den Behörden genehmigt wurde, aber die Bio­diversität bedroht? WWF, Pro Natura oder Greenpeace können erreichen, dass das Bauprojekt ökologisch verbessert oder unter Umständen ganz abgebrochen wird.
Gewisse Landschaften sind darüber hinaus besonders geschützt, wie der Bundesrat in seiner Antwort auf einen Vorstoss der grünen Parlamentarierin Lisa Mazzone hervorhebt. Die Genfer Politikerin wollte von der Landesregierung wissen, ob die Schweiz Gletschern Rechtspersönlichkeit zugestehen könne. Der Bundesrat verneint, macht aber darauf aufmerksam, dass Gletscher Teil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler sind. Die Schweiz ist deshalb verpflichtet, sie intakt zu halten. Allerdings haben Gletscher seit der Jahrtausendwende 17 Prozent ihres Volumens verloren. Offensichtlich vermag die aktuelle Gesetzgebung sie nicht ausreichend zu schützen.

Zeit für eine «Revolution des Rechts»

Laut Frédéric Pitaval «ist das juristische Arsenal den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen». Der Mitbegründer des «Appel du Rhône», einer neuen Bürgerinitiative, welche die Anerkennung der Rhone als juristische Person anstrebt, verweist unter anderem auf die beschränkten Möglichkeiten des Verbandsbeschwerderechts. So müssen Umweltschutzorganisationen seit mindestens zehn Jahren auf nationaler Ebene und im betroffenen Bereich aktiv sein, um davon Gebrauch machen zu dürfen – und auch dann nur in speziellen Fällen. Laut Pitaval ist es an der Zeit, eine «Revolution des Rechts» zu starten und die Rechte der Natur im Gesetz zu verankern. 
Die Schweiz wäre keine Vorreiterin in dieser Sache. Jährlich steigt die Zahl der Länder, die solche Rechte einführen. 2017 hat Neuseeland den gesamten Fluss Whanganui als «lebendes Wesen» anerkannt. Dieser Status als juristische Person soll den Schutz des Flusses stärken, der den Maori heilig ist. Im selben Jahr hat der Hohe Gerichtshof des indischen Bundesstaates Uttarakhand dem Ganges Rechtspersönlichkeit zugesprochen. Ecuador wiederum hat bereits 2008 die Rechte der Natur in der Verfassung festgeschrieben.

Will die Natur überhaupt? Und wenn ja, was?

Von einer solchen Erweiterung des Rechts möchte der Bundesrat nichts wissen. In seiner Antwort auf das Postulat von Lisa Mazzone verweist er unter anderem darauf, dass eine juristische Person (wie ein Unternehmen oder eine Stiftung) gemäss dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch einen «inhärenten Zweck» verfolgen muss. So sind Unternehmen verpflichtet, anzugeben, ob sie Medikamente herstellen, Kleider verkaufen oder Fahrräder reparieren wollen. «Ein Gletscher beziehungsweise andere Sachen verfügen hingegen über keinen solchen inhärenten Zweck», schreibt der Bundesrat. Ihn mit Rechtspersönlichkeit auszustatten, widerspräche unserem Rechtsverständnis.
«Wenn man einer Stiftung Rechte verleihen kann, dann kann man dies auch natürlichen Entitäten», widerspricht Jörg Leimbacher, selbstständiger Jurist und Autor des Buches «Die Rechte der Natur», denn «Stiftungen sind im Grunde ja nichts anderes als ein Haufen Geld». Aber anders als Menschen (und Unternehmen oder Stiftungen, die von Menschen geführt werden), sagen uns Gletscher nicht, ob sie ein Ziel haben und wie es lautet. Wollen sie wachsen, gleich gross bleiben oder gar schmelzen? Für Elisabeth Bürgi Bonanomi, Rechtswissenschaftlerin und Dozentin zu Recht und nachhaltiger Entwicklung an der Universität Bern, ist das heutige Konzept der juristischen Person zu stark an den Menschen angelehnt, um auf Teile der Natur angewandt zu werden. «Besser wäre, andere bekannte Rechtsprinzi­pien auf das Umweltrecht zu übertragen.» Zum Beispiel könnte auch dem Umweltrecht ein Kerngehalt zugestanden werden, der unantastbar ist – so, wie wir es von den Grundrechten her kennen.
In diese Richtung geht die Primaten-Initiative im Kanton Basel-Stadt. Sie fordert das «Recht von nichtmenschlichen Primaten auf Leben und auf körperliche und geistige Unversehrtheit». Dieses dürfte auch dann nicht verletzt werden, wenn ein starkes menschliches Interesse an Tierversuchen besteht.

Ohne Verteidigung keine Rechte

Unabhängig davon, ob der Natur ein Kerngehalt analog zu den Grundrechten oder der Status als juristische Person zugestanden wird: Wer darf ihre Interessen verteidigen? In Neuseeland vertreten jeweils zwei Anwälte den Fluss Whanganui: Einen davon bestimmen die Maori, den anderen die Behörden. In Ecuador hingegen dürfe jedes Individuum, jede Gemeinschaft oder jede Bevölkerungsgruppe die Rechte der Natur geltend machen, erklärt Alberto Acosta, der 2007/2008 Präsident der Verfassunggebenden Versammlung war. In der Schweiz wäre denkbar, dass die anerkannten Umwelt­organisationen diese Kompetenz erhielten. Ihre demokratische Legitimität wurde von der Bevölkerung 2008 erneuert, als diese sich gegen die Abschaffung des Verbandsbeschwerderechts aussprach.
Die grossen Umweltschutzorganisationen Pro Natura, der WWF und Greenpeace haben sich bisher noch nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob Elemente der Natur Rechtspersönlichkeit erhalten sollen. Franziska Rosenmund, Medienverantwortliche von Pro Natura, sagt dazu: «Die Schweiz verfügt über gute Gesetze zum Schutz von Natur und Umwelt, diese werden jedoch zu oft ungenügend vollzogen.» Ein Problem, das auch Bürgi Bonanomi anspricht. In anderen Staaten gebe es neben dem Verbandsbeschwerderecht zusätzlich Ombudsbehörden oder Umwelt-Staatsanwaltschaften, um die Umsetzung des Umweltrechts sicherzustellen.

Das Recht ist nicht in Stein gemeisselt

Die ökologische Krise verpflichtet uns, unser Verhältnis zur Natur zu überprüfen. Dies betrifft auch die Gesetzgebung zu ihrem Schutz. Oder, wie Frédéric Pitaval sagt: «Das Recht ist eine Fiktion, dessen Status sich nach den Bedürfnissen der Gesellschaft richtet.» Die Schweiz zeigt zurzeit keinen Willen, Elementen der Natur den Status einer juristischen Person einzuräumen. In absehbarer Zeit dürfte der Rhein den Kanton Schaffhausen somit nicht anklagen.

Politische Rechte für die Natur

Ein anderer Weg, der Natur ­eine Stimme zu verleihen, führt über die Legislative: Der Philosoph und Soziologe ­Bruno Latour schlägt ein «Parlament der Dinge» vor, in dem Vertreterinnen und Vertreter von Tierarten, Bäumen und weiteren Naturelementen Einsitz nehmen. Aktuell ­erproben verschiedene politische und künstle­rische ­Experimente die Idee ­einer politischen Vertretung, etwa das Parlament der Loire in Frankreich. Darin sind alle Lebewesen repräsentiert, die Teil des Ökosystems der Loire sind. Ein anderes Projekt ist die die Organismendemokratie, die unter anderem in einem alten Gewächshaus in Wien gelebt wird. Ob Weichtiere, Gliederfüsser, Kräuter oder Pilze: Jede Art hat ihre eigene Fraktion. Menschen setzen sich im Einklang mit einer Verfassung für deren Interessen ein.
Auch hier stellt sich die Frage der Vertretung: Hat die ­Natur überhaupt Interessen? Wer ­bestimmt sie und wie? Und können wir uns überhaupt Interessen der ­Natur vorstellen, die nicht dem Menschen dienen?
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