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12.06.2024 von Pieter Poldervaart

«Biodiversität und Lebensmittel­produktion gehen Hand in Hand»

Die Biodiversitätsinitiative will die Artenkrise auf die politische Agenda setzen. Die Opposition des Bauernverbandes gegen das Volksbegehren sei haltlos, so Marcel Liner von Pro Natura. Zusammen mit Braida Dür, Landwirtin und ABS-Verwaltungsrätin, diskutiert er über eine biodiversitätsfreundliche ­Landwirtschaft. 


Beitrag der ABS
Artikel in Thema Global - Lokal
Foto: Ruben Hollinger
Braida Dür und Marcel Liner auf dem Biohof der ABS-Verwaltungsrätin im Val-de-Travers. Ihre standortange­passte ­Bewirtschaftung ermöglicht eine nachhaltige und die Bio­diversität fördernde Landwirtschaft.

moneta: Braida Dür, vor fünf Jahren hast du mit ­deiner Familie in Couvet im Val-de-Travers einen Biohof übernommen. Was tut ihr, um die Biodiversität zu stärken?
Braida Die Hälfte unserer 50 Hektaren besteht aus ­artenreichen Waldweiden, auf einem Viertel unserer Flächen finden sich ökologisch besonders wertvolle Arten. Wir beweiden diese Flächen mit unseren Kühen, wo nötig entfernen wir Unkräuter und Büsche, die sonst überhandnehmen. Damit sichern wir vielfältige Lebensräume für eine hohe Artenvielfalt. Hofdünger verteilen wir nur auf den intensiveren Wiesen. Und mit 30 Kühen auf 50 Hektaren gibt es relativ wenig Hof­dünger pro Fläche.

Was ist die Kehrseite dieser Art der Bewirtschaftung?
Braida Es ist sehr arbeitsaufwendig, weil wir die Tiere teilweise über weite Strecken auf die Weide und zurück treiben müssen. Zudem führt der knappe hofeigene Dünger zu tiefen Erträgen. Wir ernten bedeutend weniger Heu als unsere Nachbarn, die mehrmals güllen und mit synthetischem Dünger nachhelfen. Direktzahlungen und die vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer machen diese Bewirtschaftungsweise im Moment möglich.

Marcel Liner, sind Naturschutz und Biodiversität in der Landwirtschaft nur mit Selbstausbeutung möglich?
Marcel Nein, denn das Schweizer Direktzahlungssystem entschädigt spezielle ökologische Leistungen. Für die Lage dieses Hofs auf 1100 Metern über Meer ist die extensive Nutzung ideal. 

Doch längst nicht alle wollen so wirtschaften wie die Familie Dür.
Marcel Das müssen sie auch nicht, auch nicht bei einer Annahme der Biodiversitätsinitiative. Das Verrückte ist, dass der Bauernverband ein Volksbegehren bekämpft, das für die Landwirtschaft keine neuen Anforderungen mit sich bringt.

Wie meinst du das?
Marcel Die Landwirtschaft hat mit den «Umweltzielen Landwirtschaft» seit 2006 klare Vorgaben zum Schutz der Natur. Würden diese umgesetzt, hätten wir schon heute genügend «Flächen zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität», wie die Initiative sie fordert. Was den Schutz der Biodiversität angeht, haben andere Branchen einen mindestens so grossen Nachholbedarf wie die Landwirtschaft. 

Zum Beispiel?
Marcel Nehmen wir den Finanzsektor: Hier ist Biodiversität erst ansatzweise ein Thema. Dem Bund fehlen die gesetzlichen Grundlagen, um biodiversitätsschädigende Investitionen und Kredite zu minimieren. Angesichts der Grösse der Schweizer Banken- und Versicherungsindustrie ist es dringend, hier nachzubessern.

Die Biodiversitätsinitiative enthält keine Zahlen und ist sehr allgemein gehalten. Was bringt ein Ja überhaupt?
Marcel Die Initiative verankert den Schutz der Biodiversität stärker in der Verfassung. Das hilft gegen den Nutzungsdruck, dem unsere Natur zunehmend ausgesetzt ist. 

Braida, ist diese Botschaft bei der Landwirtschaft nicht angekommen?
Braida Die Biodiversitätsinitiative ist sehr offen formuliert, das lässt viel Deutungsspielraum und führt zu Verunsicherung. Wir Landwirtinnen und Landwirte möchten gesunde Lebensmittel produzieren und nicht prioritär Landschaften pflegen und Biodiversität sicherstellen. Die Befürchtung, dass die Initiative zu neuen Einschränkungen führt, kann eine ablehnende Haltung auslösen.

Also Ertrag oder Naturschutz?
Braida Diese Entweder-oder-Betrachtung finde ich nicht zielführend. Für die Biodiversität ist eine standortangepasste Bewirtschaftung zentral. Ist diese auf Boden, ­Topografie, Klima und Betriebsstruktur abgestimmt, ist eine nachhaltige Lebensmittelproduktion möglich; ­Biodiversität und Lebensmittelproduktion gehen Hand in Hand.

Was heisst das für unser Ernährungssystem?
Braida Kühe, Schafe und Ziegen auf Dauergrünland verwerten das vorhandene Raufutter hervorragend. Gesundes Gras, Klee und Kräuter ergeben erstklassige Milch und hochwertiges Fleisch. Das ackerfähige Land hingegen sollte für die direkte menschliche Ernährung reserviert sein. Als Tierfutter sollten ausschliesslich Nebenprodukte aus der Lebensmittelindustrie verwendet werden. Entsprechend hat in einem nachhaltigen Schweizer Ernährungssystem die Hühner- und Schweinehaltung nur noch in Nischen Platz.

Ein solcher Umbau wäre eine Revolution.
Marcel Natürlich ist die Wende nicht von heute auf morgen realisierbar. Doch bis in 15 Jahren hat auf der ­Hälfte der Bauernbetriebe ein Generationenwechsel stattgefunden. Bei jeder Betriebsübergabe sollte die Produktion überdacht und nachhaltiger ausgerichtet werden, damit sie der geografischen und topo­grafischen Lage entspricht.

Aber zu Ende gedacht bedeutet dies, dass der Selbstversorgungsgrad mit Lebensmitteln, der heute schon bei bescheidenen 50 Prozent liegt, nochmals sinken würde.
Marcel Wir müssen unseren Konsum ändern. Auf 60 Prozent der Ackerfläche im Mittelland wird heute Tierfutter angebaut. Zusätzlich importieren wir jährlich 1,2 Millionen Tonnen Tierfutter. Wenn wir diese pflanzlichen Kalorien direkt konsumieren, statt damit Tiere zu mästen, erhöht sich die inländische Versorgung enorm.
Braida Ich bin überzeugt, dass eine standortangepasste und biodiversitätsfreundliche Lebensmittelproduktion nicht automatisch zu einer Reduktion des Selbstversorgungsgrads führt. Zudem sollten wir die Biodiversität nicht isoliert thematisieren: Biodiversitäts-, Ernährungs- und Klimakrise hängen eng zusammen, auch die Konsumentinnen und Konsumenten müssen in die Pflicht genommen werden. Wir können diese Herausforderungen nur gemeinsam meistern.


Foto: Ruben Hollinger
Braida Dür ist Landwirtin mit ­Fokus auf umfassende Nach­haltigkeit landwirtschaft­licher Produktions­systeme. Gemeinsam mit ihrem Mann bewirtschaftet sie einen Biohof in Couvet NE im Val-de-Travers. Dür ist Verwaltungsrätin der ABS.

Foto: Ruben Hollinger
Marcel Liner studierte ­Agro­nomie an der ETH Zürich und ist ­Verantwortlicher ­Agrarpolitik beim Naturschutz­verband Pro Natura. 

Die ABS sagt Ja zur Biodiversitäts­initiative

Am 22. September 2024 kommt die Biodiversitäts­initiative zur ­Abstimmung. Die ABS empfiehlt, die Initiative anzu­nehmen, und ­unterstützt als Partnerorga­nisation die Abstimmungskampagne.

Die ­Initiative deckt sich mit den Werten und Zielen der ABS: In ihrer Nach­haltigkeitsstrategie hat die ABS für die ­eigene Geschäftstätigkeit den Schutz der Biodiversität und des Klimas als wichtige Schwerpunktthemen definiert. Nach­haltige Landwirtschaft ist einer von neun Förderbereichen der Bank. Die ABS schliesst die industrielle Landwirtschaft und intensive Tierhaltung konsequent aus ihrer Geschäfts­tätigkeit aus. Zudem finanziert sie keine ­Immobilien, die zur Zer­siedelung beitragen.Eine biodiversitätsfreundliche Flächenplanung hingegen wird unterstützt.

Die Biodiversitätsinitiative verankert die ­Forderung nach mehr Fläche und finanziellen Mitteln für den ­Bio­diversitätsschutz in der Verfassung und gibt dem ­An­liegen damit grosses Gewicht. Diese Priorisierung ist aus Sicht der ABS notwendig, um wirksame Schutzmass­nahmen zu ­erreichen und für deren Dringlichkeit zu sensibilisieren. Zugleich lässt die Initiative die konkrete Umsetzung und quantitative Ziele offen und nimmt auch nicht einzelne Branchen explizit in die Pflicht. Dadurch bewahrt sie viel ­Gestaltungsspielraum für die Gesetzgebung. Verschiedene Interessen und ­Zielkonflikte können so angemessen ­berücksichtigt werden, zum Beispiel in ­Bezug auf die Tragbarkeit für die Landwirtschaft oder den Selbstversorgungsgrad der Schweiz bei Lebensmitteln.

Weitere Infos:
Stellungnahme der ABS zur Initiative
Initiative unterstützen



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