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19.09.2018 von Roland Fischer

Auf ins Abenteuer!

Die Finanzkrise war auch eine Krise der Finanzmethoden – insbesondere des Risikomanagements. Dabei kam der Begriff des Risikos ursprünglich ins westliche Denken durch Handelstreibende, die auf Vorsicht bedacht waren. Was ist da bloss schiefgelaufen in den letzten paar hundert Jahren? Zur Kulturgeschichte eines Begriffs, der eine erstaunliche Wandlung durchgemacht hat.

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Illustration: Claudine Etter

«Wer nichts wagt, gewinnt nichts.» Oder eher: «No risk, no fun»? Die beiden Sprichwörter stecken das Bedeutungsfeld des Risiko-Begriffs anschaulich ab: Riskiert man etwas, weil man ein gutes Geschäft wittert? Oder wagt man ein Abenteuer, um seinen Mut zu beweisen beziehungsweise des puren Nervenkitzels wegen? Mit anderen Worten: Spielcasino oder Drachenkampf? Nicht umsonst wird der Börsenspekulant in der Populärkultur gern als Hasardeur gezeichnet: immer bereit, ein wenig mehr Risiko als die anderen einzugehen, ein Draufgänger, der mit Millionen jongliert, als wäre nichts dabei. Aber tut er das aus Gier oder aus Langeweile?

Vom Ritter zum Kaufmann

Tatsächlich ist der Begriff «Risiko» via Geld in unsere Kultur gekommen, im 16. Jahrhundert. Und da zeigt sich: Das Bild vom risikobereiten Hasardeur könnte falscher nicht sein. Das Risiko, das wir hier meinen, ist eigentlich Risikoverminderung oder bestenfalls sogar -vermeidung. Es ist ein kühl kalkuliertes Wagnis, ein Ausschliessen von bösen Überraschungen. Das erste Mal von «Risiko» redeten Handelsgesellschaften im Zusammenhang mit riskanten Fahrten um die halbe Welt mit Schiffen, deren Bäuche voller wertvoller Ware waren. Da ging es nicht eigentlich um riskante Geschäfte, sondern um den Versuch, sich gegen Havarien abzusichern – damit am Schluss ein möglichst grosser Gewinn blieb, auch wenn vielleicht etwas schiefging. Das Wort geht wohl auf die griechischen Navigationsbegriffe «rhizikon», «rhiza» zurück, die sowohl Wurzel wie auch «ins Wasser reichender Felsen» bedeuten und zur Metapher für «Gefahren beim Navigieren auf See» wurden.
Zuvor war das Wagnis in der westlichen Kultur ganz anders konnotiert. Der Ritter im Mittelalter hat das Risiko – oder damals eben noch das Abenteuer («auventura») – gesucht, um seine Tapferkeit zu beweisen und damit Ansehen zu gewinnen. Bei Chrétien de Troyes heisst es, das Abenteuer komme als Windhauch ans Ohr derjenigen, die von Herausforderungen hörten. Wenn es von dort nicht den Weg ins Herz des Ritters finde und zur Tat führe, sei es verloren. Wenig später taucht das Risiko dann neben dem geläufigen Ausdruck «Abenteuer» auf, und zwar in einem Buchhaltungsbuch von 1518 – in der Wendung, dass «auf sein Auventura und Risigo» zu handeln sei. Von da ist es nicht mehr weit zum Kalkül und Sicherheitsdenken der Handelstreibenden. Zu viel Risiko und Abenteuer kann von nun an rasch ins Auge gehen und dabei rein gar nichts abwerfen. Anders gesagt: Risiko nimmt man in Kauf, Abenteuer sucht man. Der Historiker Hiram Kümper kommt im Zusammenhang mit diesen Bedeutungsverschiebungen zum Schluss, dass wir es bei der frühen Neuzeit mit einer «abenteuerlosen Zeit» zu tun haben.

Aufstieg naturwissenschaftlicher Methoden

Heute geht es allerdings wieder abenteuerlicher zu, zumal an den Finanzmärkten. Dies nicht zuletzt, weil sich da nach dem Zweiten Weltkrieg neue Freibeuter etabliert haben: Es beginnt die hohe Zeit des Venture-Capitals – womit wir, zumindest wortgeschichtlich, wieder zurück beim Abenteuer wären. Am Anfang steht die American Research and Development Corporation. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vom «father of venture capitalism» Georges Doriot in Harvard gegründet, sollte die Firma bald die Art und Weise auf den Kopf stellen, wie Geschäfte finanziert und Investments getätigt wurden. Und so nichtssagend der Name seiner Pionierfirma auch ist – eines kann man daraus schon ablesen: Forschung und Wissenschaft spielten dabei eine entscheidende Rolle.
Schon die alten Handelshäuser hatten mit mathematischen Methoden – vor allem mit der neu entwickelten Wahrscheinlichkeitsrechnung – versucht, das Risiko beherrschbar zu machen. Nun kamen die Physiker ins Spiel, die sich nach dem Krieg mit sehr zwiespältigem Selbstbewusstsein ins Wirtschaftswunder stürzten. Die Erfolge der statistischen Physik stärkten den Glauben an die grundsätzliche Berechenbarkeit der Welt: Auch wenn man nicht jedes einzelne Teilchen analysieren konnte, das Verhalten eines Gases – oder einer Bombe – liess sich mit den neuen mathematischen Werkzeugen bestens beschreiben. Die Zahlenjongleure aus den Naturwissenschaften überzeugten die Broker davon, dass Finanzmärkte auch nur Systeme mit vielen Freiheitsgraden seien, auf die sich die Methoden der statistischen Physik anwenden liessen – was herrliche neue Möglichkeiten eröffnete, mit Unwägbarkeiten umzugehen und sie (vermeintlich) berechen- und kontrollierbar zu machen. Vor allem, als sich mit dem Aufkommen elektronischer Handelsplattformen in den 1980er- und 1990er-Jahren die Datenbasis erheblich verbesserte, schien das erstaunlich gut zu funktionieren. Die neuen Methoden versprachen nicht unbedingt die Vorhersage von Trends, keine Kristallkugel also, sondern die Konstruktion von Modellen, die Fluktuationen von Wertpapierkursen richtig beschrieben. Damit wurden Deals vorstellbar, die zuvor noch als, nun ja, sehr abenteuerlich angesehen worden wären. Immer komplexere strukturierte Produkte wurden gezimmert, die selbst in der «NZZ» das Prädikat «undurchschaubar» bekamen. Die darin eingeschlossenen Risiken wurden mit mathematischen Zauberformeln gebannt.
Wir wissen, wie die Geschichte ausging: Die Finanzkrise zeigte, dass das Risiko doch grösser war, als die Branche während einiger goldener Jahrzehnte suggeriert hatte. Manchen Expertinnen und Experten dämmerte es schon vor dem grossen Knall. Die Investorenlegende Warren Buffett zum Beispiel nannte Derivative, die zu Spekulationszwecken gehandelt werden, schon 2002 «financial weapons of mass destruction». Es scheint ganz so, als wären wir noch nicht viel weiter gekommen, was die Kontrolle des Risikos angeht. Aber vielleicht wollen wir das ja auch gar nicht, vielleicht wollen wir weiter Glücksritter sein, Abenteurer zwischen Gottesfurcht, Schicksalsergebenheit und der Möglichkeit, unser eigenes Glück zu schmieden. Oder wie der Soziologe Dirk Baecker gesagt hat: «Risiko ist der verborgene Gott der modernen Gesellschaft: Man sucht es, man meidet es, man fürchtet es und weiss nie, wer wann zum Sünder wird.»
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