Heute geht es allerdings wieder abenteuerlicher zu, zumal an den Finanzmärkten. Dies nicht zuletzt, weil sich da nach dem Zweiten Weltkrieg neue Freibeuter etabliert haben: Es beginnt die hohe Zeit des Venture-Capitals – womit wir, zumindest wortgeschichtlich, wieder zurück beim Abenteuer wären. Am Anfang steht die American Research and Development Corporation. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vom «father of venture capitalism» Georges Doriot in Harvard gegründet, sollte die Firma bald die Art und Weise auf den Kopf stellen, wie Geschäfte finanziert und Investments getätigt wurden. Und so nichtssagend der Name seiner Pionierfirma auch ist – eines kann man daraus schon ablesen: Forschung und Wissenschaft spielten dabei eine entscheidende Rolle.
Schon die alten Handelshäuser hatten mit mathematischen Methoden – vor allem mit der neu entwickelten Wahrscheinlichkeitsrechnung – versucht, das Risiko beherrschbar zu machen. Nun kamen die Physiker ins Spiel, die sich nach dem Krieg mit sehr zwiespältigem Selbstbewusstsein ins Wirtschaftswunder stürzten. Die Erfolge der statistischen Physik stärkten den Glauben an die grundsätzliche Berechenbarkeit der Welt: Auch wenn man nicht jedes einzelne Teilchen analysieren konnte, das Verhalten eines Gases – oder einer Bombe – liess sich mit den neuen mathematischen Werkzeugen bestens beschreiben. Die Zahlenjongleure aus den Naturwissenschaften überzeugten die Broker davon, dass Finanzmärkte auch nur Systeme mit vielen Freiheitsgraden seien, auf die sich die Methoden der statistischen Physik anwenden liessen – was herrliche neue Möglichkeiten eröffnete, mit Unwägbarkeiten umzugehen und sie (vermeintlich) berechen- und kontrollierbar zu machen. Vor allem, als sich mit dem Aufkommen elektronischer Handelsplattformen in den 1980er- und 1990er-Jahren die Datenbasis erheblich verbesserte, schien das erstaunlich gut zu funktionieren. Die neuen Methoden versprachen nicht unbedingt die Vorhersage von Trends, keine Kristallkugel also, sondern die Konstruktion von Modellen, die Fluktuationen von Wertpapierkursen richtig beschrieben. Damit wurden Deals vorstellbar, die zuvor noch als, nun ja, sehr abenteuerlich angesehen worden wären. Immer komplexere strukturierte Produkte wurden gezimmert, die selbst in der «NZZ» das Prädikat «undurchschaubar» bekamen. Die darin eingeschlossenen Risiken wurden mit mathematischen Zauberformeln gebannt.
Wir wissen, wie die Geschichte ausging: Die Finanzkrise zeigte, dass das Risiko doch grösser war, als die Branche während einiger goldener Jahrzehnte suggeriert hatte. Manchen Expertinnen und Experten dämmerte es schon vor dem grossen Knall. Die Investorenlegende Warren Buffett zum Beispiel nannte Derivative, die zu Spekulationszwecken gehandelt werden, schon 2002 «financial weapons of mass destruction». Es scheint ganz so, als wären wir noch nicht viel weiter gekommen, was die Kontrolle des Risikos angeht. Aber vielleicht wollen wir das ja auch gar nicht, vielleicht wollen wir weiter Glücksritter sein, Abenteurer zwischen Gottesfurcht, Schicksalsergebenheit und der Möglichkeit, unser eigenes Glück zu schmieden. Oder wie der Soziologe Dirk Baecker gesagt hat: «Risiko ist der verborgene Gott der modernen Gesellschaft: Man sucht es, man meidet es, man fürchtet es und weiss nie, wer wann zum Sünder wird.»