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14.03.2022 von Esther Banz

Verdichtung als Vorwand für höhere Renditen

Die Transformation des Schweizer Gebäudeparks birgt soziale Risiken. Das zeigt sich immer deutlicher in den Städten, wo vermehrt Häuser und ganze Siedlungen mit günstigen Wohnungen abgerissen werden. Wie konnte es so weit kommen, und wie ­können Gemeinden dagegenhalten?

Artikel in Thema bauen. wohnen. klima.
Illustration: Claudine Etter
Es ist noch nicht lange her, da verliebte sich die Immobilienbranche in ein neues Wort: «entmieten». Entmietet wird, wenn Mieterinnen und Mieter unfreiwillig ausziehen müssen – was häufig der Fall ist, wenn ihre Wohnung mehr Rendite bringen soll. Immer öfter lassen Immobilienbesitzerinnen und -besitzer zu diesem Zweck ganze Wohnhäuser und sogar Siedlungen abreissen und die Mieterinnen und Mieter auswechseln. Besonders in den Städten. In Zürich beispielsweise wurden 2019 für beinahe 70 Prozent der neu gebauten Wohnungen 1362 bestehende zerstört (ein grosser Teil davon – ohne Entmietung – auch von Wohnbaugenossenschaften). Im Jahr davor waren es sogar noch mehr. Die Zahl der sogenannten Ersatzneubauten verzehnfachte sich innerhalb von 20 Jahren. Das Abreissen von oft noch intakten Wohnhäusern mit günstigen Mieten ist zu einem Trend geworden. Ein prominentes Beispiel sind die noch nicht einmal 30-jährigen Wohnhäuser der Pensionskasse der Credit Suisse in Zürich-Brunau: 240 Wohnungen wollte die Bank ersetzen – und mit ihnen die Mieterinnen und Mieter.
Ein wichtiger Treiber für die verschwenderische Entwicklung ist die aktuelle Situation am Finanzmarkt: In Zeiten von Negativzinsen gehört ein Haus mit Mietwohnungen zu den rentabelsten und sichersten Anlagen. Von den Immobilienbesitzerinnen und -besitzern wird aber gern ein anderer Grund genannt, wenn sie in Wohnquartieren die Bagger auffahren lassen: Man müsse verdichten. Tatsächlich geht Verdichtung auch ohne Abriss und sogenannte «Leerkündigungen» – aber sie ist ein willkommenes Argument, um Ersatzneubauten zu rechtfertigen. 

Griffige Massnahmen für ein sozialverträgliches Wachstum fehlen

Um die fortschreitende Zersiedelung zu stoppen, sagten 62,9 Prozent der Stimmberechtigten 2013 Ja zum revidierten Raumplanungsgesetz (RPG). Dieses verlangt von den Gemeinden, dass sie ihre bestehenden Baulandreserven nutzen und nach innen verdichten; bei Bauprojekten einfach Land einzonen geht nicht mehr. Das ist aus ökologischer Sicht ein begrüssens­werter Paradigmenwechsel. Da in den Städten aber kaum noch Baulandreserven vorhanden sind und gleichzeitig die Bevölkerung wächst, muss dort verdichtet werden, wo bereits gebaut ist, wo also Menschen wohnen – und hier liegt das sozialpolitische Problem: Dem RPG fehlen die flankierenden Massnahmen, damit die Ver­dichtung sozialverträglich umgesetzt wird, sagt die Humangeografin Gabriela Debrunner, die an der Universität Bern zum Thema der aktiven Boden- und Wohnraumpolitik in Schweizer Gemeinden promovierte und ak­tuell an der ETH als Postdoktorandin und wissen­schaft­liche Mitarbeiterin am Institut für Raum- und Landschaftsentwicklung arbeitet.
In der besonders stark wachsenden Wirtschafts­metropole Zürich wurden 2016 mit der Anpassung der kommunalen Bau- und Zonenordnung zusätzliche Verdichtungskapazitäten geschaffen, etwa indem in bestimmten Gebieten aufgestockt werden darf. Und der neue, im vergangenen Jahr von der Stadtzürcher Be­völkerung gutgeheissene Siedlungsrichtplan ebnet nun den Weg für weitere grossflächige Verdichtungen, vor allem an den Rändern der Stadt – da, wo Menschen in günstigen Wohnungen leben. Im Richtplan bekennt sich die Stadt zwar zu sozialverträglichem Wachstum und führt Instrumente zur Beobachtung der Entwicklung ein, aber griffigere Massnahmen fehlen, gerade gegenüber den Privaten.

Trotz Neubauten keine höhere Nutzungsdichte

Das Ziel der Verdichtung ist, auf gleicher Fläche Wohnraum für mehr Menschen zu schaffen – durch zusätzliche Stockwerke, mehr Wohnungen. So soll auch gemäss RPG-Revision eine nachhaltige Ressourcennutzung gefördert werden, also eine effiziente Boden- und Wohnflächennutzung pro Kopf. Allerdings zeigt ein Blick in die Statistik der Stadt Zürich Überraschendes: Die bauliche Verdichtung führt zwar in Gebäuden der öffentlichen Hand und bei Wohnbaugenossenschaften tatsächlich zu einer höheren Personenzahl pro Quadrat­meter, aber in den Häusern, die Privatpersonen und  Unternehmen gehören, sieht es genau umgekehrt aus: «Hier zeigt sich in den letzten Jahren bei stark zunehmender Verbreitung des Wohnersatzbaus ein Rückgang der Verdichtung», so Statistik Zürich. Sprich: Viele private Immobilienakteure haben in den letzten Jahren kleine, günstige Wohnungen in teurere, grössere um­gewandelt, durch Veränderung des Grundrisses oder durch Abriss und Neubau, und so ihre Rendite gesteigert – ohne die Nutzungsdichte zu erhöhen. Das häufig genutzte Verdichtungsargument, um Abriss und Neubau zu legitimieren, ist also Greenwashing, denn nicht weniger, sondern mehr Fläche wird verbraucht und somit auch mehr Ressourcen pro Kopf: Boden, Energie, Material usw.
«Entmietet» wird bei Neubauprojekten auch von Immobilienbesitzern, von denen man es nicht erwarten würde: In Zürich-Affoltern etwa plant die gemeinnützige Aktiengesellschaft Habitat 8000 – zusammen mit dem Konzern Swiss Life – den Abriss von über 400 günstigen Wohnungen; rund 1000 Menschen wissen zurzeit nicht, ob sie bleiben können. Darunter viele einkommensschwache Familien und Ältere, die seit Jahrzehnten dort leben. Pikant ist, dass das Aktionariat der Habitat 8000 hauptsächlich aus Wohnbaugenossenschaften und Stiftungen besteht. Dazu zählen die ABZ, die Asig, die BEP und die Gewobag sowie die Stiftung Solinvest von Wohnbaugenossenschaften Schweiz.
Gerade sie, die Gemeinnützigen, sollten doch massgeblich dazu beitragen, dass die bauliche Transforma­tion in den Städten sozialverträglich und ökologisch gelingt. De facto erfüllen solche Ersatzneubauprojekte aber oft Renditezwecke und führen auch «nur selten zu einer Verbesserung des Energieverbrauchs», weiss Gabriela Debrunner. Der Grund sei, dass «bei Abriss und Neubau nur selten der Wohnflächenverbrauch pro Kopf effektiv reduziert wird und dass oft Gebäude ab­gerissen werden, die erst vor ein paar Jahren innensa­niert wurden und somit in einem guten energetischen Zustand sind». Darüber hinaus steckt in der Bausub­stanz viel graue Energie – jene Energie, die für den Bau und Abriss eines Gebäudes benötigt wird (siehe «Die Krux mit der grauen Energie»)

Schwaches Mietrecht, starker Eigentumsschutz

Die Forscherin kommt zum Schluss, dass Mieterinnen und Mieter – in der Schweiz leben über 50 Prozent der Bevölkerung in Mietwohnungen institutioneller Anbieterinnen und Anbieter, in den Städten über 70 Prozent – die Verliererinnen und Verlierer der Entwicklung sind: «Soziale Exklusion und Verdrängung nehmen im Zuge starker Ersatzneubautätigkeit zu.» Das habe auch mit dem «extrem schwachen» Schweizer Mietrecht zu tun – und dass handkehrum der Eigentumsschutz in der Schweiz quasi unantastbar sei. Mit dem ersten, 1980 in Kraft getretenen Raumplanungsgesetz habe man diesen noch gestärkt. Eine besondere Verantwortung gehe mit diesem Eigentumsschutz aber nicht einher: «Anders als in Deutschland, wo in der Verfassung explizit steht, dass ‹Eigentum verpflichtet› und ‹dem Wohle der Allgemeinheit› zu dienen hat.»

«Viele private Immobilienakteure haben kleine, günstige Wohnungen in teurere, grössere umgewandelt und so ihre Rendite gesteigert – ohne die Nutzungsdichte zu erhöhen.»


Dennoch: Einer Stadt stünden eigentlich verschiedenste Instrumente gegen die Verdrängung und zur Förderung einer sozialverträglichen Verdichtung zur Verfügung, sagt Gabriela Debrunner. «Sie kann etwa die kommunale Bau- und Zonenordnung gezielt strategisch zugunsten des preisgünstigen Wohnungsbaus einsetzen, etwa über Zonen für preisgünstiges Wohnen, wie das Zug gemacht hat, oder durch die Einführung von Zonen zum Schutz vor Ersatzneubau oder stärkerem Mieterschutz. Zusätzlich kann eine Stadt über finanzielle Fördermittel wie städtische Fonds oder Stiftungen vermehrt selber Häuser kaufen», denn Eigentum sei der wirksamste Schutz vor Verdrängung. Zürich sei mit dem in der Gemeindeverfassung verankerten «Drittelsziel» – 33,3 Prozent gemeinnütziger Wohn­eigen­tumsanteil bis 2050 – diesbezüglich gut unterwegs. «Neu haben Städte und Gemeinden auch mit der Mehrwertabgabe bei Um- und Aufzonungen einen starken Hebel», so die Wissenschaftlerin, aber: «Es fehlt eine weitergehende aktive soziale Boden- und Wohnungspolitik in laufenden Verdichtungsprojekten – insbesondere im Siedlungsbestand. Hier könnte die Stadt soziale Kriterien wie den Schutz der Mieterinnen und Mieter oder die Höhe der Mietpreise nach Erneuerung viel stärker in die (Nicht-)Bewilligung eines Bauprojektes einfliessen lassen.» Bis anhin würden Projekte insbesondere aus städtebaulicher Sicht bewertet, in Bezug auf Gestaltung, Typologie oder Volumen, weiss Gabriela Debrunner und fragt: «Warum gibt es im Baukollegium der Stadt Zürich – dem Gremium, das Be­willigungsempfehlungen zuhanden des Stadtrats ausspricht – ausschliesslich Baufachleute und keine Person, die dafür zuständig ist, entlang von qualitativen Kriterien zu beurteilen, ob ein Projekt sozialverträglich ist?»

Genf und Basel: Recht auf Wohnen in der Verfassung verankert

Auch in anderen Schweizer Städten geraten besonders jene Mieterinnen und Mieter, die auf günstige Wohnungen angewiesen sind, in Bedrängnis. Schuld daran ist auch die Tatsache, dass das Recht auf ange­messenes Wohnen in der Schweiz – im Gegensatz zur Eigentumsgarantie – lediglich ein nicht einklagbares Sozialziel ist. Und die bürgerlichen Parteien in Bundesbern versuchen gerade, das bereits schwache Mietrecht noch weiter auszuhöhlen. 
Verbindlicher ist das Recht auf Wohnen in Genf und seit 2018 auch in Basel-Stadt: Beide Kantone haben es in ihrer Verfassung als Grundrecht festgeschrieben. In Basel schützt das im November 2021 an der Urne durchgesetzte Wohnschutzgesetz die Mieterinnen und Mieter ausserdem gegen Renditesanierungen und -abrisse. Das Unwort «Entmieten» dürfte man dort fortan nicht mehr oft hören.
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