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04.12.2019 von Daniel Bütler

Tschüss, Chef

Immer mehr KMU weichen von der klassischen Hierarchie ab. Für die Mitarbeitenden sind neue Organisationsformen anspruchsvoll, bringen aber grössere Freiheiten. Wer einmal so gearbeitet hat, will nicht zurück.

Artikel in Thema Porträts
Illustration: Claudine Etter

«Wahnsinnig inspirierend» findet Nadja Kaderli das Organisationsmodell ihres Arbeitgebers. Sie könnte nie mehr in einem konventionellen Unternehmen arbeiten. Und Cornelia Bauer sagt: «Der Flow ist ganz speziell. Wir tragen hier viel Eigenverantwortung.»
Kaderli und Bauer arbeiten bei Unternehmen, die nicht klassisch organisiert sind. Das eine basiert auf demokratischen, das andere auf holokratischen Grundsätzen. Lange existierten solche Modelle kaum ausserhalb des zumeist linken Genossenschafts-«gärtchens». Dies hat sich geändert. Immer mehr KMU setzen auf Organisationsformen, die den Mitarbeitenden mehr Selbstverantwortung, Freiheit und Flexibilität geben.

Klassische Hierarchie blockiert

«Wir wollten eine Struktur, die Geschwindigkeit ermöglicht», sagt Nadja Kaderli, die Verantwortliche für Unternehmenskultur bei Advertima. Das Start-up mit Hauptsitz in St. Gallen hat eine vielversprechende Software entwickelt, mit der Firmen das Verhalten von Kundinnen und Kunden visuell interpretieren können. «Die Gründer wollten organisatorisch etwas Neues ausprobieren», sagt Kaderli. «Klassische Hierarchie blockiert und verhindert Entscheidungen.»
Advertima setzt auf «Holocracy». Holokratische Firmen sind in Kreisen organisiert, die inhaltlich den klassischen Bereichen wie Marketing, Vertrieb usw. ähnlich sind, aber relativ autonom funktionieren. Die Kreise sind nicht wie übliche Unternehmensabteilungen in eine vertikale Hierarchie eingebettet, sondern stehen quasi nebeneinander. Jeder Kreis definiert selber, welche Rollen er braucht, und wählt die Personen aus, die diese besetzen. Bei Advertima sind die rund 50 Mitarbeitenden in total neun Kreisen organisiert. Innerhalb dieser bestehe durchaus Hierarchie, aber in einer anderen Art, so Kaderli. «Die Mitarbeitenden können ihre Rollen selber weiterentwickeln.»

«Bei uns darf man wirklich alles zur Diskussion stellen. Man ist Mitarbeiterin und Unternehmerin zugleich.
Cornelia Baumann, Mitarbeiterin Metron


IT-Firmen als Pioniere

Dass derzeit neue Führungsformen gefragt sind, liegt laut dem Zürcher Organisationspsychologen und Unternehmensberater Felix Frei zum einen an der Digitalisierung: «Sie führt zu einem Beschleunigungsdruck. Unternehmen müssen schneller agieren und reagieren können.» In klassischen Hierarchien dauerten die Entscheidungsprozesse zu lange. Zudem seien speziell in der IT-Branche manche Vorgesetzte ihren Mitarbeitenden fachlich unterlegen. IT-Firmen sind denn auch die Pioniere bei innovativen Führungsmodellen.
Zum anderen stellt Frei einen weiteren gesellschaftlichen Trend fest: «Viele Menschen haben Mühe mit der klassischen Hierarchie und wollen sich nicht länger von einem Chef ‹auf der Nase herumtanzen lassen›», auch, weil sie immer besser ausgebildet seien. Laut Frei gibt es schätzungsweise gegen 100 KMU in der Schweiz, die neue Organisationsformen umsetzen – harte Zahlen fehlen. «Neue Modelle sind noch nicht weit verbreitet, aber immer mehr Unternehmen diskutieren darüber.» KMU scheinen prädestiniert dafür, da sie agiler als Grossfirmen sind und eher über eine Unternehmenskultur verfügen, die auf Vertrauen basiert. Dies sei die Voraussetzung, um eine solche Transformation zu wagen, sagt Frei.

Mitspracherechte, Aktienmehrheit und ­Lohntransparenz

Eine Firma, die gesellschaftliche Verantwortung grossschreibt, ist Metron. Das Raumplanungsunter­nehmen mit Hauptsitz in Brugg ist ein Pionier. Seit 1974 haben die Mitarbeitenden Mitspracherechte. Dahinter stand nicht explizit linkes Gedankengut. Die Firmengründer gehörten zum progressiven Flügel des liberalen Aargauer Bürgertums.
Die Metron-Holding mit total 150 Mitarbeitenden ist in fünf AG gegliedert, in denen die Mitarbeitenden ihre Geschäftsleitung selber wählen können. Das funktioniert wie in der Politik: Es stellen sich einige Personen zur Wahl, dann wird abgestimmt. In der Regel besteht die Geschäftsleitung aus zwei bis drei Personen. Aus ihnen wählt der Verwaltungsrat die Mitglieder der obersten Führungsebene aus, der Holdingleitung.
Bei wichtigen Themen können die Mitarbeitenden ebenfalls mitbestimmen. Dazu gibt es verschiedene Gefässe, von der Bürositzung bis zur Mitarbeiterversammlung. Die Gestaltung der Arbeitsverträge oder strategische Entscheide werden demokratisch diskutiert und verabschiedet. Und die Mitarbeitenden besitzen via eine Stiftung auch die Aktienmehrheit am Unternehmen. Weitere Elemente der Metron-Kultur sind familienfreundliche Arbeitsbedingungen, viel Weiterbildung – und Lohntransparenz! Die Löhne werden offengelegt, jeder und jede weiss, wer wie viel verdient. Führt das nicht zu Konflikten? Die Kommunikationsverantwortliche Cornelia Bauer verneint – «Diskussionen gibt es aber schon». Allerdings ist die Lohndifferenz kleiner als anderswo, denn bei Metron darf der höchste Lohn maximal das Vierfache des tiefsten betragen.

Anstrengend, aber viele Vorteile

«Bei uns darf man wirklich alles hinterfragen und zur Diskussion stellen», fasst Bauer die Unternehmenskultur von Metron zusammen. «Man hat zwei Hüte an: Man ist Mitarbeiterin und Unternehmerin zugleich. Das bedingt, dass man sich aufmerksam informiert und sich an den Diskussionen beteiligt.» Diese Mitbestimmungskultur sei anstrengend, habe aber viele Vorteile. «Dass wir mitreden können, erhöht auch die Zufriedenheit. Ich erlebe die Stimmung als gut, man arbeitet gern hier.» Und die Kultur nütze auch dem Geschäft. Metron steht dabei in einem Austausch mit der Öffentlichkeit: «Man lernt zu argumentieren, das ist wichtig für die Arbeit mit unseren Kunden. Denn bei Planungsverfahren wird Mitbestimmung immer wichtiger.»
Nicht alle Mitarbeitenden seien gleich daran interessiert, ihre Mitbestimmungsrechte auszuüben, aber die Mehrheit engagiere sich bei den Diskussionen, sagt Bauer. Wer Mühe mit dieser Kultur habe, bewerbe sich meist gar nicht bei Metron. «Wer zu uns kommt, weiss, was ihn erwartet.»

Schwierige Umstellungsphase

Während Metron jahrzehntelange Erfahrung mit Mitspracherechten hat und über bewährte Strukturen verfügt, ist das junge IT-Unternehmen Advertima noch in der Selbstfindungsphase. «Holocracy» sei an sehr strikte Regeln gebunden, sagt Nadja Kaderli. Man sei dauernd daran, die Spielregeln zu optimieren. Dies mit dem Ziel, «eine selbst organisierende Organisation zu werden».
Zur speziellen Kultur gehört, dass klassische Chefs genauso fehlen wie Zeitkontrolle oder Jahresmitarbeitergespräche. Stattdessen holt man sich Feedback von selbst ausgesuchten Kollegen. «Eine Fehlerkultur und psychologische Sicherheit sind zentral, sonst können Unsicherheiten entstehen, die das System gefährden», sagt Kaderli. «Holocracy» verlange sehr viel Engagement von den Mitarbeitenden, doch für sie ist klar: «Es gibt einen Point of no Return. Wer einmal so gearbeitet hat, kann nicht mehr zurück.»
Organisationsexperte Felix Frei betont, ein neues Führungsmodell sei kein Selbstzweck, sondern müsse immer unternehmerisch Sinn ergeben – etwa zu beschleunigten Entscheidungen beitragen. Ob die Mitarbeitenden damit letztlich zufriedener würden, sei nicht eindeutig. Zu Beginn überwiege das Anstrengende: «Es braucht viel mehr Disziplin als zuvor, und man muss viel mehr selber entscheiden. Alle nicht klassisch hier­ar­chischen Organisationen mussten auf die harte Tour lernen, Konflikte auszutragen.» Wer lieber Dienst nach Vorschrift tue, komme damit nicht klar. «Bis zu 30 Prozent der Mitarbeitenden verlassen das Unternehmen in der Umstellungsphase. Daran scheitern manche. Wer aber die ersten zwölf Monate übersteht, will nicht mehr zurück.» Frei ist überzeugt, dass neue Führungsmodelle Zukunft haben: «Die Agilität, die die Digitalisierung mit sich bringt, verlangt neue Organisationsformen.»
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