moneta: Herr Gehring, fangen wir bei den Basics an: Was machen Ratingagenturen genau, und wie sind sie entstanden?
Kai Gehring: Die Ratingagenturen bündelten vor etwa hundert Jahren mehrere ökonomische Funktionen, die bis dahin andere Akteure übernommen hatten. Es fing damit an, dass in den USA in grossem Umfang Eisenbahnen gebaut wurden, wofür viel Kapital benötigt wurde. In Europa gab es zu der Zeit viel freies Kapital, und viele Investoren fragten sich, wo man es am gewinnträchtigsten investierte. Ursprünglich waren es direkt die Bankennetzwerke, die diese Investitionsströme steuerten. Aber je mehr Kapital vorhanden war, und vor allem je mehr potenzielle Anlegeoptionen es gab, desto schwieriger wurde die Entscheidung, welches Investment lohnend war und welches riskant.
Also suchte man objektivere Einschätzungen?
Ja, es etablierten sich Akteure, die Daten sammelten. Zunächst einfach in Form von Magazinen, die Unmengen an Zahlen zur Geschäftstätigkeit auflisteten, so zum Beispiel das «Poor̓ s Manual of Railroads». Reine Daten, ohne jede Bewertung. Die Ratingagenturen führten dann beides zusammen: detaillierte Daten und entsprechende Expertise.
Und wann wurden daraus die Skalen, die heute alles dominieren?
Schon sehr früh. Seit die Ratingskala von Fitch in den 1930ern eingeführt wurde, hat sie sich im Wesentlichen nicht mehr verändert. Sie kennt 21 Abstufungen, von top – das berühmte Triple A – bis katastrophal, was einen sicheren Ausfall bedeutet. Das war ein wichtiger Schritt, aber man hatte es da im Grunde immer noch mit Meinungen zu tun, auf die man hören konnte oder nicht. Im Nachgang der ersten Börsencrashs kam es dann zu einer viel fundamentaleren Neuerung – den Meinungen kam plötzlich eine quasistaatliche Funktion zu.
Wie das?
Weil viele Anleger massive Verluste erlitten hatten und die Politik sich verantwortlich fühlte, bekamen die Ratings gewissermassen einen wirtschaftspolitischen Ritterschlag verpasst. Aus dem durchaus nachvollziehbaren Wunsch heraus, zu verhindern, dass in schlechte Bonds investiert wurde, führte man verpflichtende Mindest-Ratings ein. Zu tief bewertete Investments waren in der Folge tabu – das betraf nicht unmittelbar private Anleger, aber beispielsweise Pensionsfonds, die seit je in grossem Stil Geld anlegten.
Und das bedeutete?
Dass sich ein Automatismus etablierte, der die Einschätzungen der Agenturen mechanisch mit der ökonomischen Dynamik verknüpfte. Zunächst gab es diese Mindest-Ratings nur in den USA, doch in der Nachkriegszeit wurde das immer mehr ausgeweitet, sodass zum Beispiel auch Investments für die Betriebsrenten grosser Firmen wie VW nach diesem Top-oder-Flop-System agierten. So bekamen die Agenturen immer grösseren direkten Einfluss auf die Weltwirtschaft.
Sie sagten vorher, es handle sich bei den Ratings nur um «Meinungen». Gab es denn überhaupt nennenswerte Meinungsverschiedenheiten zwischen den Agenturen?
Zunächst muss man festhalten, dass es eine Menge von Ratingagenturen gibt, weltweit spielen da sicher fünfzig, wenn nicht hundert Firmen eine Rolle. Allerdings: Viele davon arbeiten nur lokal in ihrem Heimatland; die grossen drei aber haben weltweit über 90 Prozent Marktanteil – und in gegen 95 Prozent der Fälle kommen sie zur selben Einschätzung. Ausserdem geniessen ihre Einschätzungen oft ein höheres Vertrauen als die der kleinen Agenturen, sodass Zentralbanken oder staatliche Regulierer explizit nur auf Ratings dieser Agenturen setzen.
Das ist allerdings eine beunruhigende Ballung an Einfluss.
Ja. Aber man muss an der Stelle auch sagen, dass die Ratings statistisch gesehen im Schnitt nicht unbedingt falsch sind, dass sie also die Lage oft sinnvoll und adäquat einschätzen. Problematisch sind sie vor allem in zweierlei Hinsicht: Zunächst sind die Agenturen eher risikoscheu, sie fördern nicht unbedingt interessante neue Investitionsfelder, da dort weniger Daten und Erfahrungswerte vorliegen …
... aber darauf fokussierte die Kritik nicht, richtig?
Genau, das zweite Problem stellt viel unmittelbarer eine Gefahr dar. Denn es gab und gibt zum Teil immer noch Anreize für die Agenturen, gewisse Investitionen «schönzurechnen». Das hat sich vor allem bei den strukturierten Produkten, die zum Ende des letzten Jahrhunderts entwickelt worden sind, als fatal erwiesen. Produkte, die eigentlich eindeutig «junk» waren oder bei denen eine seriöse Einschätzung aufgrund mangelnder Daten gar nicht möglich war, bekamen so gerade noch ein Gütesiegel. Banken begannen damals vermehrt, Angestellte der Agenturen abzuwerben, um deren Wissen für die Konstruktion dieser Produkte zu nutzen.
Womit wir bei den Verflechtungen von Ratingagenturen und Banken wären.
Ja, da gibt es oft eine allzu grosse Nähe. Die Analysten werden aus einem ähnlichen Kreis rekrutiert wie die Investment-Banker, zudem sind die Eigentumsstrukturen der Agenturen unübersichtlich – sie gehören zu grossen Teilen Banken und Versicherungen. Deshalb gibt es zu Recht Zweifel, was eine unabhängige Kontrollfunktion durch die Aktionäre anbelangt.
Hat sich das seit der Finanzkrise substanziell verändert?
Die Regulierung wurde verstärkt, aber im Grunde funktioniert das System immer noch gleich. Es gibt nach wie vor gebündelte Produkte, deren Qualität schwer einzuschätzen ist. Es sind auch immer noch die Emittenten selber, die für Ratings bezahlen. Und Regulierer wie Zentralbanken verlassen sich weiterhin zum Teil blind auf externe Ratings. Insgesamt muss man leider sagen: Die Anreizsysteme sind immer noch da. Und sie werden letztlich vom Staat gefördert.
Was könnte man denn besser machen?
Da keine Agentur eine perfekte Einschätzung liefert, sollten bei Entscheidungen ab einer bestimmten Grösse zwei Ratings von unterschiedlichen Agenturen verlangt werden. Da die Ratings der grossen drei amerikanischen Agenturen oft sehr ähnlich sind, könnte ja auch mindestens ein Rating einer anderen Agentur verlangt werden.
Das erinnert an die Forderungen nach der Finanzkrise, eine unabhängige Agentur in Europa aufzubauen – wäre das sinnvoll?
Es ist unklar, ob das bestehende Probleme lösen würde. In unseren Studien haben wir auch kleinere europäische (und asiatische) Agenturen untersucht. Wie bei den grossen drei haben wir auch hier eine Bevorzugung des Heimatlandes dokumentieren können. Probleme lassen sich also nicht einfach durch einen einzigen neuen Anbieter lösen, sondern eher dadurch, dass mehrere unterschiedliche Meinungen berücksichtigt werden. Entscheidend ist, dass Agenturen so unabhängig wie möglich von Regierungen und von den Unternehmen sind, die sie bewerten. Die Gründung einer Agentur mit staatlicher Unterstützung in Europa wäre deshalb eine Totgeburt. Niemand würde dieser Agentur Glauben schenken.