Und heute? Man wird kaum mehr explizite Verweise auf den Taylorismus finden – das bedeutet allerdings nicht, dass er als System und Grundidee keinen Einfluss mehr hätte. Man könnte sogar sagen: Er kommt so richtig erst in diesen spätkapitalistischen Tagen zur Blüte, im Zuge der um sich greifenden Digitalisierung und Datifizierung. Uber-Fahrerinnen und Fahrer zum Beispiel fühlen sich weniger als autonome Unternehmerinnen und Lenker hinter dem Steuer, sondern selber gelenkt von einem Algorithmus, der jeden Meter, jede Sekunde erfasst und den nächsten Schritt immer schon zu kennen scheint. Und Amazon sorgt immer wieder mit seltsamen Mensch-Maschine-Patenten für Aufsehen, zum Beispiel mit einem Lagerroboter mit aufgesetztem Käfig, in dem Menschen eingepfercht würden als in die Maschine integrierte Kontrollsysteme. Andere Patente betreffen Armbänder, die jede Handbewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Warenhäusern genau erfassen – ein bisschen so, als wären ihre Glieder mit Sensoren versehene Roboterarme.
Amazon antwortet auf die Enthüllung solcher Patente immer gleich: Es gebe keine konkreten Pläne, die Technologien auch einzusetzen. Das ist Augenwischerei, auch wenn es im konkreten Fall stimmen sollte. Wir wissen unterdessen ziemlich genau, wie unerbittlich Amazon-Angestellte überwacht und von Effizienzkriterien durch die Lagerhäuser gehetzt werden – die Rechner wissen exakt, wie viele Sekunden es dauern dürfte, einen bestimmten Artikel aus dem Regal hinten oben rechts zu holen. Entsprechende Berichte lesen sich dann ein wenig wie eine Albtraumvariante der taylorschen Stoppuhr. Und die Unerbittlichkeit des Systems geht in letzter Logik dann so weit, dass aufgrund der Algorithmen Angestellte automatisch gefeuert werden, wenn sie den Anforderungen des Apparates nicht gewachsen sind. Auch das ist keine Science-Fiction, sondern wurde von Brancheninsidern unlängst genau so vermeldet.
Und das ist das wirklich Unheimliche an Taylor im Jahr 2019: Gemessen und gemanagt werden längst nicht mehr nur betriebswirtschaftliche Abläufe, sondern unser Leben im grossen Ganzen, unser Online-Verhalten (in China macht man bereits keinen Unterschied mehr zwischen On- und Offline), unsere Kreditwürdigkeit, unsere Schlafgewohnheiten. Und das Internet der Dinge wird erst gerade von der Leine gelassen. Wieder gehen wir der Wissenschaftlichkeit der Bewertungen auf den Leim, dem vermeintlich zwingenden Für und Wider, an das man nicht mal mehr appellieren kann. Hundert Jahre nach Taylor drohen wir noch viel umfassender «zu einem blossen Zahnrad im Getriebe der Maschine» zu werden, wie ein kritischer Rezensent beim Erscheinen von dessen Buch meinte.