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19.09.2018 von Barbara Bohr

Die Gegenlobby

Finance Watch ist 2011 als Experiment gestartet: EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier haben die NGO gegründet, um ein Gegengewicht zur mächtigen Bankenlobby in Brüssel zu bilden und das Finanzwesen zu seinem eigentlichen Zweck zurückzuführen: der Gesellschaft zu dienen.

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Illustration: Claudine Etter

2017 hat gezeigt, dass die Reformen des EU-Bankensystems nicht ausreichend greifen. Vier Regionalbanken wurden im Euro-Raum zahlungsunfähig. Drei der betroffenen Institute wurden von der italienischen Regierung mit Steuermitteln gerettet, unter Ausnutzung einer Regulierungslücke. Das ist ein klares Indiz, dass der Finanzmarkt nicht robust genug ist, die Krise einer grösseren Bank zu verkraften, und ein Pulverfass bleibt. Rainer Lenz, Vorstandsvorsitzender von Finance Watch und Finanzprofessor an der Fachhochschule Bielefeld, ergänzt: «Über lange Zeit hat die Europäische Zentralbank ausserdem mit ihrer lockeren Geldpolitik die strukturellen Probleme mit Puderzucker überdeckt. Diese Situation zeigt, dass es eine Organisation wie Finance Watch mehr denn je braucht.»

Gründung nach der Finanzkrise

Die Geschichte von Finance Watch ist kurios. 2010 riefen mehrere Mitglieder des EU-Parlamentes parteiübergreifend zur Gründung einer Gegenlobby auf. Die parlamentarischen Wirtschafts- und Finanzexperten fühlten sich überwältigt von der aufdringlichen Expertise der Bankenlobby, die nach der Finanzkrise neue Gesetze zur Bändigung des Finanzsektors verhindern wollten. Die neu gegründete NGO setzte sich zum Ziel, ein robustes und effizientes Bankensystem zu schaffen, das Kapital für produktive Zwecke bereitstellt, ohne daraus künstlich geschaffenen Profit zu schlagen oder Kreditrisiken auf die Gesamtgesellschaft abzuwälzen. Zudem will Finance Watch Finanzmärkte so gestalten, dass sie produktive Investitionen in die Realwirtschaft fördern und gleichzeitig exzessive oder schädliche Formen von Spekulation unterbinden.Seit 2011 unterstützt Finance Watch den Gesetzgebungsprozess in Brüssel mit rund zehn Vollzeitstellen. Das Jahresbudget von 1,5 Millionen Euro setzt sich aus Mitgliedsbeiträgen, Zuschüssen der EU und Spenden zusammen. Der Vorstand arbeitet pro bono. Die meisten Mitarbeitenden sind Finanzprofis, wie etwa die Französin Mireille Martini, die seit 2017 mitwirkt. Zu ihrer Motivation sagt sie: «Ich habe die Finanzindustrie kurz vor der Krise verlassen. Wenn man verantwortungsvoll handeln wollte, konnte man schwer mit deren Strategie leben. Danach war ich Ausbildnerin für Unternehmensfinanzierung. Ich erlebte dort den Schock von innen, den die Realwirtschaft während der Finanzkrise von 2008 erfuhr: den Kreditvergabestopp, das Preisrennen, das Just-in-Time-Management und den Personalabbau.» Seit ihrer Gründung hat die NGO an zahlreichen komplexen Finanzgesetzen mitgewirkt: von MIFID, das den Anlegerschutz stärkt, bis hin zu CRD IV, das die Banken durch neue Eigenkapitalbestimmungen und ein strengeres Risikomanagement besser gegen Krisen wappnen soll.

Europaweites Netzwerk für Reformen

Mehr als vierzig grosse Verbraucherorganisationen, Gewerkschaften, Stiftungen und Umweltverbände gehören neben einzelnen Fachpersonen zu den Mitgliedern von Finance Watch, die meisten stammen aus Benelux, Deutschland, Frankreich und Grossbritannien. Dank dieser weitverzweigten Mitgliederstruktur trägt die NGO entscheidend dazu bei, dass europaweit ein System von Organisationen und Vordenkern entsteht, die ein neues und stabileres Finanzsystem fordern. So organisierte Finance Watch Ende 2017 das «Change Finance Forum», an dem über 200 NGOs aus ganz Europa teilnahmen. Erstmals haben sich dort zivilgesellschaftliche Organisationen aus den verschiedensten Bereichen wie Umweltschutz, Menschenrechte, Governance, Demokratie, Gewerkschaften und Finanzen zusammengetan, um gemeinsam aktiv zu werden und mit einer Stimme für eine Reform des Finanzsektors zu sprechen. Fran Boait, Vorstandsmitglied bei Finance Watch und Geschäftsführerin der britischen NGO Positive Money, sagt dazu: «Nach der Finanzkrise ist in der Zivilgesellschaft eine Kultur gegenseitiger Unterstützung entstanden. Wir haben eine gemeinsame Agenda und wollen diese gemeinsam vorantreiben.»

Grenzen des Einflusses

Dennoch gibt es aus dem eigenen Umfeld auch Kritik an Finance Watch. Etwa dass sich die NGO zu sehr auf das technokratische Klein-Klein Brüssels eingelassen habe, anstatt auf einer hohen Eigenkapitalquote zu beharren, welche die Verschuldung der Banken wirksam reduzieren würde (siehe dazu auch das Interview mit Anat Admati auf der Rückseite dieser Nummer). Rainer Lenz lässt diesen Einwand nicht gelten: «Finance Watch hat sich immer für höheres Eigenkapital der Banken eingesetzt. Aber nicht mit Maximalforderungen, da man sich sonst als Gesprächspartner der EU-Kommission und Berater der EU-Parlamentarier disqualifiziert.» Er fügt hinzu: «Die zentralen Pflöcke für die Finanzgesetzgebung werden auf der G20-Ebene eingeschlagen, wo die Finanzminister und die Zentralbanken im Financial Stability Board bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel hinter geschlossenen Türen verhandeln. Da haben Vertreter der Zivilgesellschaft keine Chance.» In Brüssel, wo sich Finance Watch erfolgreich einbringen könne, erfolge nur noch die gesetzliche Umsetzung der G20-Vereinbarungen mit mehr oder weniger grossem Spielraum.
Im Vergleich zu den Basler Gremien ist die Einflussnahme bei den europäischen Aufsichtsbehörden des Sektors grösser, denn dort sitzt Finance Watch in allen Stakeholder-Beiräten. Seit zwei Jahren ist der Schutz des Kunden denn auch als explizites Ziel der Finanzmarktaufsicht verankert. Dieses Ziel werde aber nicht immer aktiv verfolgt, etwa bei den Diskussionen um die möglichen Folgen eines Hard-Brexits ohne politische Einigung. Dazu Lenz: «Möglicherweise sind dann die Verträge britischer Lebensversicherungen von EU-Bürgern nach dem Austritt nicht mehr gültig. Wenn es in den Sitzungen um die Frage geht, wer die Kosten dafür trägt, steht meist die Versicherungsfirma im Mittelpunkt, selten die Kundschaft.» Das sei untragbar, findet Lenz und will dieses Machtungleichgewicht mit einer neuen Strategie bekämpfen. Finance Watch soll zwar weiterhin an der technischen Politikberatung in Brüssel festhalten, aber gleichzeitig mit Themen wie Nachhaltigkeit, Altersvorsorge und Konsumentenschutz ein breiteres Publikum erreichen. Das «Change Finance Forum» bildete den Auftakt dazu.

Nachhaltigkeit gleich Stabilität

Auch die EU-Kommission ist nach Abschluss des Pariser Klimaabkommens aktiv geworden und hat eine Expertengruppe gebildet, die Nachhaltigkeit zu einem integralen Bestandteil des Finanzsystems machen soll. Finance Watch berät dieses Gremium, denn Nachhaltigkeit und ein stabiles Finanzsystem bedingen einander: Damit die Kapitalströme so umgeleitet werden können, dass Banken die Klimawende unterstützen, muss das bisherige System der Kapitalallokation überdacht werden. Nachhaltigkeit ist damit auch die Chance, das Finanzwesen auf realwirtschaftlich sinnvolle Investitionen umzulenken, was die Stabilität des Sektors erhöht. Die Kommission schätzt, dass die EU in den nächsten zwanzig Jahren rund 180 Milliarden Euro an zusätzlichen jährlichen Investitionen, insbesondere in saubere Energien, benötigt, um den Anstieg der globalen Temperaturen unter 2 Grad Celsius zu halten.
Rainer Lenz ergänzt: «Es geht nicht darum, dass grüne Finanzprodukte nur einen weiteren Absatzmarkt für Banken bilden, sondern dass Banken ihren eigenen Laden sauber halten. Nachhaltige Produkte anbieten kann nur, wer auch selber nachhaltig ist. Banken müssen ausserdem lernen, dass Finanzierung kein Selbstzweck ist, sondern ein Mittel zur Förderung von Investitionen, die der Gesellschaft als Ganzes nützen.» Das ist ein hochgestecktes Ziel, denn die Bankenlobby bleibt nicht untätig. So schlug sie vor, dass Banken bei der Vergabe grüner Kredite von geringeren Eigenkapitalanforderungen profitieren sollten und sich damit höher verschulden dürften. Dies könnte ihre Stabilität schwächen. Bisher hat sich die Idee, auch dank der Intervention von Finance Watch, in Brüssel nicht durchgesetzt.

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