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02.10.2024 von Katharina Wehrli

Mehr Zeit und Geld für Sorgearbeit

Sorgearbeit steht unter Kostendruck – mit ­gravierenden Folgen für ­alle, die diese ­unverzichtbare Arbeit leisten. Sie sind meist schlecht oder gar nicht bezahlt und arbeiten oft unter grossem Zeitdruck. Wie lässt sich das verändern? Welche Visionen gibt es für die Care-Arbeit der Zukunft?

Artikel in Thema ARBEIT. ARBEIT?
Illustration: Claudine Etter

Sorgearbeit ist lebenswichtig. Von Geburt an brauchen wir Menschen, die uns pflegen, ernähren und umsorgen, ohne sie könnten wir nicht überleben. Auch im Erwachsenenalter – noch lange bevor wir alt und vielleicht pflegebedürftig werden – sind wir auf die Sorgearbeit anderer angewiesen. Fast 70 Prozent aller geleisteten Arbeit in der Schweiz gehören laut der Ökonomin Mascha Madörin zur «Sorge- und Versorgungswirtschaft». Mit diesem Begriff fasst die Schweizer Pionierin der feministischen Ökonomie ein breites Spektrum an bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten zusammen: von der Gastronomie über den Detailhandel und das Bildungs-, Sozial- oder das Gesundheitswesen bis hin zur unbezahlten Haus- und Familienarbeit.
Diese Sorgearbeit, für die oft auch der vom Englischen abgeleitete Begriff «Care-Arbeit» verwendet wird, ist für moderne Gesellschaften unverzichtbar: Ohne sie wäre keine Produktion möglich, Wirtschaft und Gesellschaft würden zusammenbrechen. Zugleich sind sie zeitin­tensiv und lassen sich nur beschränkt rationalisieren: «Während beispielsweise Autos immer schneller produziert werden können, kann nicht immer schneller gepflegt und Kinder können nicht immer schneller ins Bett gebracht werden, ohne dass sowohl die Arbeit wie auch die Arbeitsbedingungen darunter leiden», heisst es auf der von Mascha Madörin und anderen Wissenschaftlerinnen gegründeten Plattform Economiefeministe.

Ungleiche Verteilung der Sorgearbeit führt zu riesiger Einkommenslücke 
Die zeitintensiven Tätigkeiten der Sorge- und Versorgungswirtschaft beziehungsweise Care-Ökonomie werden also im Verhältnis zu anderen Arbeiten, die sich durch Technisierung und Automatisierung beschleunigen lassen, immer teurer. Dies ist ein grosses Problem und ein wichtiger Grund dafür, dass die Care-Ökonomie unter ständigem Kostendruck steht – mit den entsprechenden Folgen für alle, die in diesem Bereich arbeiten: Sie erfahren den Kostendruck tagtäglich als Zeit- und/oder Lohndruck am eigenen Leib. Mehrheitlich betrifft dies Frauen. Denn einerseits leisten Frauen einen überdurchschnittlich hohen Anteil der bezahlten Sorgearbeit, etwa in der Pflege, Kleinkinderbetreuung oder Reinigung, wo das Lohnniveau meist tief ist. Und andererseits übernehmen sie den Grossteil der unbezahlten Care-Arbeit, vor allem beim Aufziehen der Kinder und der damit verbundenen Hausarbeit, aber auch bei der Pflege von kranken Angehörigen. Als Konsequenz haben Frauen insgesamt viel weniger Einkommen als Männer, und zwar rund 40 Prozent oder 100 Milliarden Franken weniger – pro Jahr. Diese Einkommenslücke setzt sich ­später als Rentenlücke fort: Frauen erhalten durchschnittlich 31 Prozent weniger Rente als Männer und sind überproportional von Altersarmut betroffen.

Damit stellt sich die dringende Frage: Wie kann Sorgearbeit künftig finanziert und gesellschaftlich organisiert werden, damit sie nicht länger auf der finanziellen und zeitlichen Ausbeutung von Frauen und generell von unter- und unbezahlten Arbeitskräften beruht? Welche Visionen gibt es für die Care-Arbeit der Zukunft?

Care-Arbeit gehört ins Zentrum von Wirtschaft und Gesellschaft
Es braucht ein grundsätzliches Umdenken. Darin sind sich mehrere Expertinnen einig, die sich mit möglichen strukturellen Verbesserungen im bezahlten und unbezahlten Care-Sektor beschäftigen. Sorgearbeit darf nicht länger abgewertet werden, sondern muss ins Zentrum von Wirtschaft und Gesellschaft rücken. So betont beispielsweise die Historikerin Anja Peter vom Büro für Feminismus: «Wenn wir anerkennen, dass es ohne unbezahlte Arbeit auch nichts anderes gibt: keine Produktivität, keine Politik, keine Kultur – rein gar nichts, dann müssen wir die Verhältnisse vom Kopf auf die Füsse stellen. Dann würden diese Arbeit und die Menschen, die sie leisten, im Mittelpunkt unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen (Neu-)Organisation stehen», erklärt die Expertin für feministische Perspektiven auf Wirtschaft und Sorgearbeit und Mitgründerin von Economiefeministe weiter. 
Damit Sorgearbeit nicht länger unter grossem Zeitdruck in unterbezahlten Jobs oder unbezahlt innerhalb der Familie erledigt werden muss, braucht es vor allem mehr Zeit und mehr Geld. Dazu Anja Peter: «Meine Vision ist, dass es allen, die Sorgearbeit leisten, und allen, die auf Sorgearbeit angewiesen sind, gut geht. Das würde materielle Sicherheit beinhalten sowie genügend Zeit, Entscheidungsspielräume und Wahlmöglichkeiten sowie das Recht auf Erholung.»

Sorgearbeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Hier kommt der Staat ins Spiel. Da Care-Arbeit unverzichtbar ist und gleichzeitig nicht rentabel – weil sie, wie oben erwähnt, viel Zeit braucht und nur beschränkt rationalisiert werden kann –, ist es unsinnig, sie nach marktwirtschaftlichen Kriterien organisieren zu wollen. Denn das führt zu noch höherem Zeit- und Kostendruck, was das System beziehungsweise alle, die Care-Arbeit leisten, an die Grenzen bringt (Stichwort: Pflegekrise oder Care-Krise). Zugleich schafft der Rentabilitätsdruck Verhältnisse, in denen der Zugang zu Care-Leistungen abhängig ist von den individuellen finanziellen Mitteln – was zunehmende Ungleichheit schafft. «Es kann nicht sein, dass die Grundversorgung, wie das Gesundheitswesen, die Altenbetreuung, Kinderbetreuung und Bildung, eine Frage der finanziellen Möglichkeiten der Haushalte ist», hält Anja Peter fest und fügt hinzu, dass aus menschenrechtlicher Sicht unverzichtbare Sorgeleistungen für alle zugänglich sein müssen. Das bedeutet: Der Staat muss seine Rolle neu definieren und zum Ermöglicher werden, indem er Care-Leistungen in weit grösserem Mass als heute als gesamtgesellschaftliche Aufgabe versteht und finanziert.

Investitionen in den Service public
Dies betrifft einerseits die bezahlte Care-Arbeit, wie beispielsweise Xenia Wassihun, Zentralsekretärin für Gleichstellung und Sozialbereich beim VPOD, betont: «Die bezahlte Pflege-, Betreuungs- und Sorgearbeit sollte aufgrund ihrer hohen gesellschaftlichen Relevanz als Leistung des Service public anerkannt und angemessen entlohnt werden, mit genügend qualifiziertem Personal, einem guten Betreuungsschlüssel und Anstellungs­bedingungen, die der physischen und psychischen Belastung dieser Berufe angemessen Rechnung tragen.» Andererseits gilt dies auch für die heute unbezahlte Sorgearbeit innerhalb der Familien, wie Xenia Wassihun weiter ausführt. Auch hier könne der Staat mit ­Investitionen in den Service public für bessere Bedingungen und eine gerechtere Verteilung der unbezahlten Care-Arbeit sorgen, beispielsweise mit flexiblen Ar­beitszeitmodellen, Teilzeitpensen auch für Männer und einem bezahlten Elternurlaub. 

Ein Jahr Elternzeit für alle?
Dass die aktuellen 14 Wochen Mutterschafts- beziehungsweise zwei Wochen Vaterschaftsurlaub viel zu wenig sind und nicht den Bedürfnissen junger Eltern entsprechen, zeigt die Tatsache, dass nur 18 Prozent der Mütter nach 14 Wochen ihre Erwerbsarbeit wieder aufnehmen. In Familien, die es sich leisten können, verlängern Frauen meist den Erwerbsunterbruch auf eigene Kosten, mit unbezahltem Urlaub oder indem sie die Erwerbsarbeit vorübergehend ganz aufgeben. «Eine Elternzeit von beispielsweise einem Jahr würde dem entgegenwirken und wäre eine finanzielle und zeitliche Entlastung für junge Familien», hält Anja Peter fest. Sie erinnert daran, dass dies in anderen europäischen Ländern wie Schweden oder Norwegen schon länger verwirklicht ist. Und sie verweist darauf, dass in den skandinavischen Ländern neben der Elternzeit auch die ausserfamiliäre Kinderbetreuung und die Pflege und Betreuung von älteren Menschen weitgehend öffentlich über die Steuereinnahmen des Staates finanziert werden.

Weniger Erwerbsarbeit = mehr Zeit für Sorgearbeit
Eine der wirkungsvollsten Entlastungsmassnahmen für alle, die unbezahlte Sorgearbeit leisten, wäre aber eine generelle Arbeitszeitreduktion. Die Schweizer Normalarbeitszeit ist mit 42 Stunden pro Woche im europäischen Vergleich sehr hoch. Eine Reduktion gäbe ­allen – Männern wie Frauen – mehr Zeit für Sorgearbeit, was eine wichtige Voraussetzung ist, um diese auch gerechter aufzuteilen. Dies betont beispielsweise der VPOD, der wie die Unia und weitere Gewerkschaften zusammen mit der Klimastreik-Bewegung sowie SP und Grünen eine generelle Arbeitszeitverkürzung fordert. Vor allem aber für jene Gruppen und Netzwerke, die sich an vorderster Front für eine Care-Revolution einsetzen, ist die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten zentral. So heisst es beispielsweise auf der Plattform care-revolution.ch der Juso: «Wir fordern eine Verkürzung der Wochenerwerbsarbeitszeit auf 25 Stunden pro Woche bei gleichbleibendem Lohn. (…) Mit einer Erwerbsarbeitszeitreduktion wird verhindert, dass die pflegenden (…) ihr Arbeitspensum zugunsten von unbezahlter Care-Arbeit reduzieren müssen. Die unbezahlte Care-Arbeit kann solidarisch zwischen allen Menschen aufgeteilt werden und das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern verändert sich.»

Ein Lohn für Haus- und Familienarbeit
Eine Arbeitszeitreduktion von 42 auf 25 Stunden pro Woche bei gleich bleibendem Lohn mag utopisch anmuten. Zugleich braucht es solche Visionen, damit grundlegende Verbesserungen in der Care-Arbeit angestossen werden können. Das gilt auch für den Vorschlag, Haus- und Familienarbeit zu bezahlen. Diese Forderung wurde bereits in den 1970er-Jahren im Zuge der neuen Frauenbewegung laut und erhielt in jüngster Zeit wieder Auftrieb, vor allem durch die Journalistin und Autorin Sibylle Stillhart. In ihrem 2019 erschienenen Buch «Schluss mit gratis! Frauen zwischen Lohn und Arbeit» plädiert sie dafür, die Bezahlung der heute unbezahlten Sorgearbeit auf die politische Agenda zu setzen. Dazu die Autorin: «Der wahre Erfolg einer Gesellschaft sind die Kinder, die sie hervorbringt. Dieses Wunder wird immer noch von den Frauen vollbracht. Die Leistung, die Kinder zu erwachsenen Menschen grosszuziehen, ebenfalls. Dafür muss der Staat die Verantwortung übernehmen, und er muss die Sorgearbeit bezahlen.»
Und was wäre ein angemessener Lohn für die Haus- und Familienarbeit? Sibylle Stillhart verweist auf Mascha Madörin, die berechnet hat: «Wenn man alle unbezahlte Arbeit von Männern und Frauen rund ums Aufziehen von Kindern bis 14 Jahre – inklusive der zusätzlichen Hausarbeit, die durch Kinder entsteht – bezahlen würde, wären das in der Schweiz geschätzte 110 Milliarden pro Jahr. Das wären etwa 7000 Franken pro Monat pro Paarhaushalt mit zwei Kindern.» Anja Peter betont, dass ein Lohn für die Arbeit zu Hause die Familien vom ständigen Zeit- und Gelddruck befreien und neue Entscheidungsspielräume eröffnen würde, und fährt fort: «Die direkte Entschädigung unbezahlter Kinderbetreuung und Pflege und Betreuung von alten und kranken Menschen zu Hause wäre sicher die effektivste kurzfristige Massnahme, um den grossen Einkommenslücken von Frauen sehr direkt entge­genzuwirken und eine gesellschaftliche wie materielle Aufwertung dieser wichtigen Arbeit zu erreichen.»

Finanzieren mit Gewinnsteuer und gelockerter Schuldenbremse
Woher aber soll der Staat das Geld nehmen, um Sorgearbeit angemessen zu bezahlen? Sibylle Stillhart sieht hier die (grossen) Unternehmen in der Pflicht und schlägt vor, dass «der Staat die Gewinnsteuern für Konzerne erhöhen und so die Arbeitgebenden in die Verantwortung ziehen könnte, die ja genauso wie der Staat davon profitieren, dass Kinder geboren und von Müttern und Vätern (zu ‹Arbeitskräften›) grossgezogen werden». Mascha Madörin wiederum legte kürzlich dar (siehe moneta 4-23), dass die Schweiz mehr als genug finanziellen Spielraum hätte, um der chronischen Unterfinanzierung des Care-Sektors zu begegnen. Sie könnte ihre äusserst rigide Schuldenbremse lockern, um damit unverzichtbare Care-Leistungen zu finanzieren. «Es kann nicht genug betont werden: Im europäischen Vergleich gehen die Schweizer Politikerinnen und Politiker sehr knauserig mit Staatsfinanzen um, wenn es darum geht, Frauen von ihrer unbezahlten Arbeit zu entlasten, sie teilweise zu bezahlen und die bezahlte Care-Arbeit adäquat zu entlöhnen», schreibt Mascha Madörin und ergänzt: «Die geschlechtsspezifische Einkommenslücke von 100 Milliarden Franken in der Schweiz entsprach im Jahr 2018 41 Prozent aller Staatsausgaben (von Bund, Kantonen und Gemeinden zusammen), in Schweden waren es nur zwölf und in Frankreich zehn Prozent!» 
Unabhängig davon, welches Modell die Expertinnen für die Finanzierung der Sorgearbeit favorisieren, sind sie sich darin einig, dass es letztlich vom politischen Willen abhängt, ob überhaupt Vorschläge für eine Aufwertung und bessere Finanzierung der bezahlten und unbezahlten Sorgearbeit realisiert werden können. Was es demnach als Erstes und vor allem braucht, ist eine Stärkung und Ausweitung der Care-Bewegung, damit sie solchen Vorschlägen zur Durchsetzung verhelfen kann. Nur so lässt sich eine gesellschaftliche Transformation in Gang setzen, an deren Ende eine Wirtschaft steht, die den – lebenswichtigen – Bedürfnissen aller Menschen dient. 

Mehr Infos zum Thema

economiefeministe.ch
denknetz.ch/care-und-care-­gesellschaft

Uta Meier-Gräwe, Ina Praetorius, Feline Tecklenburg (Hg.) ­
Wirtschaft neu ausrichten! 
Care-Initiativen in Deutschland, ­Österreich und der Schweiz.
Verlag Barbara Budrich, 2023.

Franziska Schutzbach
Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit.
Droemer Verlag, 2021.

 Sibylle Stillhart
Schluss mit gratis! Frauen zwischen Lohn und Arbeit.
Limmat Verlag, 2019.

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