«Weshalb werden private finanzielle Institutionen mit öffentlichen Geldern unterstützt, während öffentliche Institutionen finanziell ausgehungert oder privatisiert werden? (...) Weshalb gab es öffentliche Gelder für Banken und keine für Menschen?» Das fragte die britische Soziologin Mary Mellor nach der Finanzkrise von 2008/2009 in ihrem Buch «Debt or Democracy». Ihre Fragen sind heute aktueller denn je – gerade in der Schweiz, wo der Bund die Credit Suisse mit Milliarden von Franken retten kann und gleichzeitig bei vielen Sozialausgaben sparen will.
Je nach Wirtschaftstheorie lauten die Antworten auf Mary Mellors Fragen anders:
Antwort 1 Es muss so sein. Ein von Staatsinterventionen unbehelligter Markt wird am schnellsten aus der Krise führen. Umso besser, wenn an Sozialausgaben gespart wird.
Antwort 2 Weil es in Krisenzeiten schwierig ist, beides zu tun: Zur Bekämpfung einer Krise braucht es zwar mehr Staatsausgaben, primär zur Ankurbelung der Wirtschaft und zur Stabilisierung des Finanzsystems sowie kurzfristig allenfalls, um die schlimmsten sozialen Auswirkungen abzumildern. Aber die dadurch entstehende Staatsverschuldung muss in «guten Jahren» wieder abgebaut werden.
Antwort 3 Es ist beides möglich. Ob es ökonomisch vernünftig ist, hängt nicht von der Höhe der Staatsverschuldung ab, sondern von den vorhandenen realen ökonomischen Ressourcen.
Die erste Antwort entspricht ultraneoliberalen Ansätzen, die zweite der Mainstream-Ökonomie und die dritte der Modern Monetary Theory (moderne Geldtheorie), kurz MMT.
Ein Staatshaushalt funktioniert nicht gleich wie ein Privathaushalt
In Budgetdebatten des schweizerischen Parlaments und in den Medien werden meistens nur Antwort 1 sowie Varianten von Antwort 2 kontrovers diskutiert.
Beide beruhen auf der Annahme, dass es zuerst Wirtschaftswachstum brauche, damit Staatseinnahmen (Steuern!) für Sozialausgaben übrig bleiben. In dieser Sichtweise kann der Staat – ähnlich wie ein privater Haushalt – auf die Dauer nicht mehr ausgeben, als er einnimmt. Das heisst, wenn er mehr Sozialausgaben tätigen will, muss er für höhere Steuereinnahmen sorgen. Ausgehend von diesem Prinzip, ist seit Dezember 2001 die sogenannte Schuldenbremse für die Bundesfinanzen in der Verfassung verankert. Vertreterinnen und Vertreter der MMT wie beispielsweise die US-amerikanische Ökonomin Stephanie Kelton lehnen dieses ökonomische Prinzip kategorisch ab und sprechen in diesem Zusammenhang von einem «Defizit-Mythos». Gemäss MMT wirkt es nicht per se stabilisierend, wenn man das Staatsdefizit möglichst klein hält. Denn ein Staatshaushalt funktioniert ganz anders als ein Privathaushalt. Warum?
Die Souveränität der zentralen Regierung, sich zu finanzieren
Vereinfacht gesagt, geht die Modern Monetary Theory davon aus, dass Staaten mit eigener Währung via ihre Zentralbanken selbst Geld schöpfen und damit auch ihre Ausgaben und die eigenen Schuldendienste bedienen können. Die Voraussetzung für diese Möglichkeit ist einerseits das Monopol der Zentralbanken auf der Herausgabe der nationalen Währung und andererseits die endgültige Ablösung des internationalen Währungssystems von einer Bindung an den Dollar-Gold-Standard, wie er bis 1971 galt (sogenanntes Bretton-Woods-System). Gemäss MMT wird heute auf zwei Arten Geld geschöpft: erstens via Zentralbanken und zweitens in weitaus grösserem Umfang via Kredite für Private, vor allem von Banken, für deren Zahlungsfähigkeit die Zentralbanken aber letztlich garantieren müssen (beispielsweise wenn sie Geld schöpfen, um Banken zu retten). Davon ausgehend sind zwei Theoriestränge entstanden: MMT-Theoretikerinnen und -theoretiker wie Stephanie Kelton befassen sich mit der Ökonomik der Staatsfinanzen. Ihre Analysen der Zusammenhänge zwischen Staatsausgaben und Steuereinnahmen, Inflation und Beschäftigung unterscheiden sich grundlegend von denjenigen der Mainstream-Ökonomie. Andere der MMT nahestehende Ökonominnen und Ökonomen analysieren die Dynamiken und Krisenhaftigkeit des privaten Finanzsektors. Von diesem zweiten Aspekt der modernen Geldtheorie soll hier nicht die Rede sein.
Entscheidend sind die realen ökonomischen Ressourcen
Neben dem kapitalistischen Markt gibt es in einer geldgesteuerten Wirtschaft in ökonomisch weit entwickelten Ländern einen riesigen Bereich, der von staatlichen Ausgaben geprägt ist. Diese werden vor allem für öffentliche Investitionen verwendet, für die Grundversorgung, Sozialversicherungen und Subventionen. Nicht zuletzt geht es dabei um die Finanzierung des sogenannten Care-Sektors. Denn dessen personenbezogene Dienstleistungen sind zeitaufwendig und rechnen sich privatwirtschaftlich nicht, solange adäquate Löhne bezahlt werden. Trotzdem müssen diese Leistungen erbracht werden, wenn eine Grundversorgung für alle gewährleistet sein soll.
In den vorherrschenden ökonomischen Vorstellungen (Theorie 2) ist wie oben erläutert eine fatale Limitierung der Staatsausgaben eingebaut (Schuldenbremse), die immer wieder als Begründung für die Verknappung von Sozialausgaben dient. Dies ist aus Sicht der MMT wissenschaftlich nicht haltbar: Es ist die Zentralbank, die das Geld für Staatsausgaben (bei uns: des Bundes) aus dem Nichts zur Verfügung stellt – sogenanntes Fiat-Geld – respektive via öffentlich aufgelegte Anleihen garantiert. Der Staat kann gesellschaftlich wichtige Ausgaben tätigen, solange die entsprechenden realen ökonomischen Ressourcen dafür vorhanden sind oder die reale Kaufkraft erhalten werden muss. Das heisst, solange mit dem geschöpften Geld mehr produziert und geleistet werden kann, wirken die erhöhten Staatsausgaben gemäss MMT nicht destabilisierend. Besteht hingegen eine Inflationsgefahr, weil die Kaufkraft zu hoch wird, lässt sich dieser mit einer Steuererhöhung begegnen (beispielsweise mit einer Anhebung der Mehrwertsteuer). Aber nur dann. Steuern haben gemäss MMT eine andere wichtige ökonomische Funktion: nämlich für die Einkommens- und Vermögensverteilung.
Knausrige Schweiz — auf Kosten von Frauen
Aus feministischer Sicht ist ein wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel dringend notwendig. Denn die aktuelle staatliche Budgetpolitik führt zu einer chronischen Unterfinanzierung der Care-Ökonomie – mit gravierenden Folgen für die Einkommens- und Rentensituation von Frauen. Im Jahr 2018 erzielten die in der Schweiz wohnhaften Frauen im Alter von 15 bis 64 Jahren rund 100 Milliarden Franken weniger Bruttoeinkommen durch Erwerbsarbeit als Männer. Entsprechend fehlen diese Milliardenbeträge auch bei den Rentenansprüchen von Frauen. Nur etwas mehr als 20 Prozent dieser riesigen Einkommenslücke sind auf die Lohnlücke (Gender Pay Gap) zurückzuführen, knapp 80 Prozent haben mit Staatsfinanzen zu tun – nicht zuletzt mit der Unterfinanzierung des Care-Sektors. Und Frauen sind davon besonders stark betroffen, weil sie überdurchschnittlich viel schlecht bezahlte und unbezahlte Arbeit in der Care-Ökonomie leisten. Es kann nicht genug betont werden: Im europäischen Vergleich gehen die Schweizer Politikerinnen und Politiker sehr knauserig mit Staatsfinanzen um, wenn es darum geht, Frauen von ihrer unbezahlten Arbeit zu entlasten, sie teilweise zu bezahlen und die bezahlte Care-Arbeit adäquat zu entlöhnen. Zum Vergleich: Die geschlechtsspezifische Einkommenslücke von 100 Milliarden Franken in der Schweiz entsprach 41 Prozent aller Staatsausgaben (von Bund, Kantonen und Gemeinden zusammen), in Schweden waren es nur zwölf und in Frankreich zehn Prozent!
Die aktuellen Debatten zu den Kosten des Gesundheitswesens und zu den Subventionen für Kindertagesstätten lassen befürchten, dass wie bis anhin an der Care-Ökonomie und damit auf Kosten der Frauen gespart werden wird, legitimiert mit dem ökonomisch nicht haltbaren, aber politisch notorisch überzeugenden Argument, dass aus Prinzip Staatsdefizite vermieden werden müssten. Schliesslich müsse der Staat auch viel in den ökologischen Umbau investieren … Aus Sicht der Modern Monetary Theory wäre beides möglich.