Tim Jackson schrieb 2009 für die britische Regierung den Bericht «Wohlstand ohne Wachstum» über die Grundlagen einer künftigen Wirtschaft, welche die ökologischen Grenzen respektiert. Das Buch fand international grosse Beachtung und gilt heute als Standardwerk der Postwachstumsökonomie. In seinem neusten Buch «Wie wollen wir leben?» betrachtet Tim Jackson Postwachstumsthemen aus einer philosophischen Perspektive.
moneta: Frau Seidl, lange Zeit ging es mit dem Wirtschaftswachstum trotz Schwankungen insgesamt stetig aufwärts. Das hat sich in jüngerer Zeit geändert. Warum?
Irmi Seidl: Die Wirtschaft wächst bei uns schon länger nicht mehr so stark wie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit den 1970er-Jahren ergreift die Politik Massnahmen, um das Wachstum anzukurbeln: etwa durch Subventionen, Steuersenkungen und Steuerwettbewerb, Abbau von Regulierungen, Förderung des Freihandels oder auch mittels Geldpolitik.
Was bedeutet denn weniger oder gar kein Wachstum für eine Gesellschaft?
So wie die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Institutionen derzeit aufgebaut sind, kann es Krise bedeuten – dies haben wir während der Corona-Pandemie erlebt. Ein Teil der Unternehmen verkauft weniger, entlässt Arbeitnehmende, kann Kredite nicht bedienen, die Arbeitslosenkassen werden belastet, das Steueraufkommen geht zurück etc. Schnell ist der soziale Zusammenhalt gefährdet. Deshalb haben Wirtschaft und Gesellschaft ein grosses Interesse, einen Rückgang des Wachstums zu verhindern.
Trotzdem verstehe ich noch nicht, warum es scheinbar Wachstum braucht, damit es genügend Erwerbsarbeit gibt.
Durch technischen Fortschritt, Wettbewerb und die hohe Belastung von Löhnen durch Steuern und Sozialabgaben haben Unternehmen Anreize, Erwerbsarbeit durch Maschinen und Computer oder organisatorische Effizienzverbesserungen zu reduzieren. So gehen Arbeitsplätze verloren. Folglich braucht es Wirtschaftswachstum, damit anderswo neue Arbeitsplätze entstehen. Zwar könnte man diese Effizienzverbesserungen nutzen, um die Arbeitszeit zu reduzieren, doch bisher wird mehr und mehr produziert, was Lohn- und vor allem auch Profitsteigerungen erlaubt.
Funktionierte das System schon immer so?
Die kapitalistische industrielle Produktion zeichnet sich unter anderem durch technischen Fortschritt, Wettbewerb und Maximierung von Profit aus, der vor allem reinvestiert wird. Seit der Industrialisierung hat sich die Regulierung der Arbeitsbedingungen und Produktion natürlich verbessert, doch gibt es auch Entwicklungen, die den Druck erhöhen, Arbeit zu ersetzen: So wurden in den letzten Jahrzehnten vor allem im Zuge der Globalisierung die Abgaben auf Arbeit wiederholt angehoben, doch jene auf Kapital gesenkt. Arbeit ist eben ein vergleichsweise unflexibler Produktionsfaktor, im Gegensatz zu Kapital, das drohen kann, wegzugehen.
Und so steigen die Kosten der Arbeit?
Die Löhne steigen, auch die Arbeitgeberanteile für die Sozialversicherung. In der Folge werden Massnahmen ergriffen, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, also einen höheren Output zu erreichen oder weniger Arbeitskräfte einstellen zu müssen, das heisst, es wird automatisiert, Prozesse werden optimiert, menschliche Dienstleistungen abgebaut etc. Weil aber die Sozialversicherungen und der Staat auf Abgaben auf Erwerbsarbeit angewiesen sind, wird Wachstum angekurbelt, um Arbeitsplätze zu schaffen. Das System hält uns in der Wachstumsabhängigkeit gefangen.
Gibt es keine linksgrüne Allianz für Reformen, die die Wirtschaft aus dem Wachstumszwang befreien?
In der Sozialdemokratie gibt es eine lange Tradition, Wirtschaftswachstum einzufordern, um Löhne zu erhöhen und den sozialen Ausgleich zu verbessern. Doch angesichts rückläufiger Wachstumsraten, ökonomischer Krisenanfälligkeit und ökologischer Grenzen müssen sich alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte die Frage stellen: Sind Politik und Gesellschaft dafür gerüstet, wenn unsere Wirtschaft kaum oder nicht mehr wächst? Wenn nein, was muss umgestaltet werden, um tiefgreifende Krisen zu vermeiden?
Vonseiten der Politik gibt es noch keine Antwort auf diese Frage?
Nein. Die Stellungnahme des Bundesrats auf die Interpellation von Franziska Ryser, «Switzerland beyond Growth» vom Juni 2022, die von sechs VertreterInnen der Grünen, GLP und SP mitunterzeichnet wurde, weist auf ein Kleinreden der Probleme hin. Doch auf internationaler Ebene kommt Bewegung in das Thema: Die OECD gab einen Bericht in Auftrag, der 2020 unter dem Titel «Beyond Growth: Towards a New Economic Approach» erschien, und auch die European Environmental Agency äussert sich zum Thema.
Schaffen wir es, die Systeme so schnell umzugestalten, wie es die planetaren Krisen verlangen?
Kaum, wir haben die letzten Jahrzehnte vertan. Aber es wurde viel vorausgedacht und auch manches begonnen, und darauf können wir zurückgreifen, wenn die aktuellen und kommenden Krisen das Bewusstsein erhöhen, dass ein Weiter-So nicht mehr möglich ist. In der derzeitigen Energiekrise ist das in den letzten Jahrzehnten erarbeitete Wissen sehr nützlich, doch wir stünden weniger tief in der Krise, wenn in dieser Zeit beherzter umgestaltet worden wäre.
In dem Buch «Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft» plädieren Sie für mehr Zeit, Strukturen und Anerkennung von Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit. Möchten Sie die Erwerbsarbeit reduzieren?
Wie ich dargelegt habe, ist Erwerbsarbeit ein wichtiger politischer Treiber für Wirtschaftswachstum. Würde die vorhandene Erwerbsarbeit auf mehr Personen verteilt, könnte dieser Treiber entschärft werden. Hinzu kommt: Hohe Erwerbsarbeit geht teilweise mit hohem Umweltkonsum einher, und die jüngere Generation möchte mehr Zeit für das familiäre und soziale Umfeld. Für Letzteres dürften auch die kontinuierlich steigenden Anforderungen des Erwerbslebens, die durch wachsende Arbeitsproduktivität entstehen, mit ein Grund sein.
Welche Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit meinen Sie mit «Tätigsein»?
Wir alle führen verschiedenste Arten von Arbeit aus: Care-, Subsistenz-, Eigen-, Freiwilligen-, Milizarbeit, Nachbarschaftshilfe, Do it yourself und so weiter. Nicht selten aber fehlt dafür die Zeit, weil Erwerbsarbeit dominiert. Dabei sind solche Tätigkeiten essentiell für das Funktionieren von Gemeinschaften und unserer Gesellschaft, sie verschaffen individuelle Erfüllung, befriedigen Bedürfnisse zum Beispiel nach Sinnhaftigkeit und Autonomie, vermitteln Qualifikationen oder ergänzen den Lebensunterhalt. Sie können auch ökologisch vorteilhaft sein, so zum Beispiel die Arbeit in Repair Cafés, in der solidarischen Landwirtschaft, in Umweltverbänden.
Solche Beschäftigungen sprechen nur einen Teil der Bevölkerung an.
Dieser Teil ist nicht klein. Nur schon zur Freiwilligenarbeit gaben 2020 41 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung ab 15 Jahren an, solche in den letzten vier Wochen geleistet zu haben.
Durch technischen Fortschritt wurde die Arbeit im Haushalt einfacher. Frauen erledigen aber auch heute noch den Grossteil der Hausarbeit. Könnte es sein, dass durch eine Ausdehnung der Nichterwerbsarbeit auch diese vor allem von Frauen geleistet wird?
Diese Befürchtung ist berechtigt. In der Coronazeit haben sich in vielen Familien traditionelle Rollenteilungen wieder verstärkt. Die Aufgabe, geschlechterspezifische Aufgabenteilungen zu überwinden – und dies auch in ungewöhnlichen Konstellationen –, bleibt also!
Wer die Erwerbsarbeit reduziert, hat im Alter eine niedrigere Rente zur Verfügung.
In der Tat besteht ein Anreiz für hohe Erwerbsarbeitszeit und für hohe Löhne durch das System der Alterssicherung. Dieses finanziert sich wesentlich durch Abgaben auf Erwerbsarbeit! Es ist ein historisch gewachsenes System, das ausblendet, dass die wirtschaftliche Wertschöpfung nicht nur durch Arbeit, sondern auch durch Maschinen und natürliche Ressourcen entsteht. Entsprechend sollten alle Produktionsfaktoren zur sozialen Absicherung beitragen. Hinzu kommen noch Fehlanreize wie der Koordinationsabzug bei den Pensionskassen, die Teilzeitarbeit benachteiligen. Eine Folge dieses Systems ist auch, dass unbezahlte Arbeit keine soziale Absicherung hat.
Überhaupt ist ein grosser Teil der Care-Arbeit, vor allem jene für Kinder, betagte Eltern oder andere Verwandte, unbezahlt.
Das Bundesamt für Statistik erhebt inzwischen die unbezahlte Arbeit. Betreuung und Pflege – ohne Hausarbeit und Freiwilligenarbeit – entspricht in Stunden gerechnet rund 20 Prozent der bezahlten Erwerbsarbeit. Ich teile die Forderung nach Bezahlung nicht, aber unbezahlte Arbeit sollte sozial besser abgesichert werden.
Sie meinen: Rentenansprüche zum Beispiel aufgrund von Sorgearbeit?
Ja. Die AHV kennt Erziehungsgutschriften. In Deutschland gibt es auch Rentenansprüche bei unentgeltlicher Pflege. Die Spitex entwickelt Modelle, sodass pflegende Angehörige eine Anstellung erhalten und damit Lohn beziehen können und sozial abgesichert sind. Auch angesichts des demographischen Wandels und des Pflegekräftemangels braucht es eine verbesserte Absicherung von Sorgearbeit.
Wäre das bedingungslose Grundeinkommen nicht auch eine Möglichkeit?
Da bin ich skeptisch.
Warum?
Es gibt viele verschiedene Modelle von bedingungslosem Grundeinkommen. Um darüber zu diskutieren, muss man konkretisieren. Und dann entpuppen sich manche Erwartungen als nicht realisierbar. Interessant finde ich, über ein bedingungsvolles Grundeinkommen zu reden.
Was könnten Bedingungen sein?
Ein Beitrag für die Gesellschaft – und da ist viel denkbar. So könnten auch neue Jobs entstehen. In Frankreich gibt es ein Experiment, bei dem Gemeinden Geld erhalten, um Arbeitsstellen mit Nutzen für die Gemeinde zu schaffen.
Warum werden solche Ideen in der Schweiz noch kaum diskutiert?
Weil die Arbeitslosigkeit vergleichsweise niedrig ist und die Gemeinden vergleichsweise reich sind. Und weil im gesellschaftlichen Diskurs das bedingungslose Grundeinkommen dominiert.
Was denken Sie: Wird sich die existentielle Wachstumsabhängigkeit unserer Wirtschaft und Gesellschaft überwinden lassen?
Es gibt das Bonmot: «Change by design or by desaster!» Dauerhaftes Wachstum auf einem begrenzten Planeten ist nicht möglich, und wir haben viel Evidenz, dass sich Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch nicht absolut entkoppeln lassen, ganz sicher nicht im notwendigen Ausmass. Natürlich hätten wir die letzten Jahrzehnte nicht tatenlos und wachstumsorientiert verstreichen lassen sollen. Gleichzeitig sehe ich zahlreiche kreative Initiativen und Veränderungen quer durch die Gesellschaft, vor allem bei vielen engagierten, weitsichtigen und klugen jungen Leuten.