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19.06.2020 von Roland Fischer

Keine Zeit zu verlieren

Führen ganz verschiedene Wege in eine grünere, nachhaltige Welt? Im grünen Farbspektrum, von light über bright bis dark green, trifft man so ziemlich alles an, von grosser Zuversicht und Innovationsglaube bis zu sehr düsteren Perspektiven, die man nicht anders als apokalyptisch nennen kann. Mit welchen Mitteln versuchen diese Bewegungen den Umschwung schaffen?

Artikel in Thema Systemwandel - aber wie?
Illustration: Claudine Etter

Anfang der 2000er-Jahre kam in Ökokreisen ein neuer Begriff auf: Bright Greens. Das «bright» verweist auf die optimistische, technikaffine Idee einer grünen Wende: eine nachhaltige Welt ist nicht nur möglich, sondern auch ohne radikale Umstellung unseres Lebensstils machbar, dank technischer Innovationen. Bald sortierte sich im angelsächsischen Raum damit die grüne Szene auf einem Spektrum von hell- bis dunkelgrün. Die Light Greens auf der einen Seite betonen den individuellen Beitrag zu einer nachhaltigeren Welt, die Dark Greens dagegen sehen nur in einem radikalen politischen Wechsel eine Lösung – und die Bright Greens irgendwo in der Mitte.

Ziviler Ungehorsam als Druckmittel

Auch bei uns haben Ideen aus dem Dark-Green-Spektrum Auftrieb. Die Extinction Rebellion (XR) ist in England entstanden, hat aber auch in der Schweiz schon mit spektakulären Aktionen wie der Grünfärbung der Limmat für Aufsehen gesorgt. Frage an den Sprecher von XR Zürich, Reto Wigger: Wie wörtlich ist das gemeint mit der Rebellion, was braucht es, um uns vor dem Aussterben beziehungsweise um die Umwelt vor uns zu retten? «Wir verstehen Rebellion nicht so, dass ein politischer Umsturz vonnöten ist.» Weil die Zeit aber ein dermassen wichtiger Faktor sei, setze XR auf zivilen Ungehorsam, um mehr Druck aufzubauen als Demonstrationen, Petitionen, Initiativen es könnten.

In der Frage, wie viel Gewalt dabei legitim ist, hat Roger Hallam, einer der Gründer von XR, eine dezidierte Meinung: «Alle erfolgreichen gewaltfreien Bewegungen brauchen eine Null-Toleranz-Politik in Sachen Gewalt. Denn fängt man einmal an, Gewalt zu befürworten, rutscht eine Gesellschaft Richtung Bürgerkrieg», meinte er in einem grossen Interview mit dem «Spiegel». Hört man beim Zürcher Ableger auch «dunklere» Anteile heraus? «Ziviler Ungehorsam muss nicht notwendigerweise gewaltfrei sein. Wir verstehen ihn jedoch so. Wir benötigen noch immer den Rückhalt eines Grossteils der Bevölkerung, damit die notwendigen Massnahmen auch getragen werden und Bürgerversammlungen möglich werden.» Diese Versammlungen sind zentraler Teil der XR-Philosophie und laufen unter dem schönen Schlagwort «beyond politics». Sie sollen dereinst viel Entscheidungsgewalt in umweltpolitischen Fragen erhalten – so könnten Eigeninteressen der Politiker (Wiederwahl) und externe Interessen (Parteien, Lobbying) überwunden werden, hoffen die Aktivistinnen und Aktivisten. Wigger verweist auf eine Umfrage der Uni Lausanne, derzufolge «die Mehrheit der Bürger und sogar Parlamentarier der Regierung nicht zutraut, dass die notwendigen Massnahmen getroffen werden.» Deshalb folgt auch XR auch in der Schweiz der Maxime der Gewaltfreiheit. Wigger: «Körperliche wie auch sprachliche Gewalt schliessen wir kategorisch aus. Und das nicht nur aus Gründen der politischen Vernunft, sondern auch aus psychologischen Gründen und basierend auf Erkenntnissen aus der historischen Forschung.» Ziviler Ungehorsam dürfe aber durchaus auch mal ein wenig heftiger werden, «aber nur im Sinne der Masse»: das Programm von XR sei eigentlich «mass civil disobedience». Gewaltfrei heisst aber nicht zwingend ohne rechtliche Übertritte – Aktionen von XR sind berüchtigt dafür, den Rahmen der Legalität zu ritzen. Richtschnur sei für sie «eher Legitimität statt Legalität», sagt Wigger. «Im Brandfall ist es rechtlich gesehen unbedenklich eine Türe einzutreten.»

Zivilisation als Problem?

Dass man eine ganze Menge Türen eintreten muss, davon ist der Autor und Aktivist Derrick Jensen überzeugt. Wenn man von Ökoterrorismus spricht, dann meint man hierzulande vor allem Aktionen radikaler Tierschützer. Jensen und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern hingegen geht es um mehr: Sie wollen die Zivilisation zerstören. Die Wortführer der radikalsten aller Umweltbewegungen kommen aus den USA, bei uns haben das Phänomen bislang höchstens die Geheimdienste auf dem Radar. Was Jensen und Co vorhaben, ist gut dokumentiert, in Büchern und im Internet: «Was auch immer du tust, deine Hände werden blutrot sein. Wenn du Teil der globalen Wirtschaft bist, sind deine Hände blutrot, weil die globale Wirtschaft menschliche und nichtmenschliche Wesen tötet, auf dem ganzen Planeten.» Das gelte es zu stoppen. Unverhohlener sind verfassungsfeindliche Überzeugungen kaum je formuliert worden – tatsächlich geht es nicht um einen Angriff auf das aktuelle politische System, sondern auf die Zivilisation überhaupt.

Die Grundüberzeugung der dunkelgrünsten Exponenten im Ökospektrum: Der Zusammenbruch der Zivilisation ist Teil der Lösung, so oder so. Ihn zu beschleunigen ist deshalb die vernünftigste Massnahme zur Schadensbegrenzung. Jensen formuliert es in einer der Prämissen seines Bestsellers «Endgame», erschienen 2006 (dt: «Endgame: Zivilisation als Problem», 2008) so: «Je länger es dauert, bis die Zivilisation zusammenbricht – bzw. je länger es dauert, bis wir sie selbst zu Fall bringen –, desto chaotischer wird der Zusammenbruch verlaufen und desto schlimmer wird es allen ergehen, die ihn erleben und die danach kommen.» Jensen hat die Deep Green Resistance (DGR) mitgegründet, auf deren Webseite nachzulesen ist, wie man das anstellt: Zu den taktischen Optionen gehören zum Beispiel Anschläge auf Staudämme oder Energiezentralen. Dabei setzt man auf die Prinzipien der asymmetrischen Kriegsführung, «in der ein Gegner viel mächtiger ist als der andere. Wenn es je einen asymmetrischen Kampf gab, dann ist es dieser.»

«Katastrophismus» kann helfen

Asymmetrisch geht es zuweilen auch im Parlament zu. Franziska Ryser von den Grünen hat es gerade wieder mal erlebt, bei der Finanzhilfe für Flugbetriebe. Einen Umsturz sehnt deshalb auch die Jung-Nationalrätin, die eher auf der Bright Side des Grünspektrums angesiedelt ist, herbei: «Einen Umsturz in den Köpfen, nicht unbedingt in den Strukturen.» Die steile Politkarriere, die sie schon mit 21 Jahren ins St. Galler Stadtparlament und sieben Jahre später in den Nationalrat getragen hat, ist ihr eher ein wenig passiert, als dass sie geplant gewesen wäre, sie beschreibt sich rückblickend als «unwissend-neugierig». Inzwischen ist die 29-jährige schon bald eine Veteranin im Politbetrieb, aus der Neugier ist längst Überzeugung geworden. «Es ist extrem wichtig, dass es innerhalb der langsamen Mühlen progressive Stimmen gibt.» Sie ist eine davon.

Ryser glaubt nicht, dass sich die verschiedenen grünen Narrative ausschliessen. Sie sagt, sie hätte eine gewisse Sympathie auch für Aktionen zivilen Ungehorsams, «als unter 30jährige». Schliesslich wurde sie selber in aktivistischen Strukturen politisiert, im Sozial- und Umweltforum Ostschweiz. «Ich finde XR eine interessante Bewegung – und eines ist jedenfalls sicher: soll der grosse Umschwung Realität werden, braucht es sehr viele verschiedene politische Akteure. » Den Vorwurf, die Aktivisten hätten keine konkreten Lösungen zu bieten, hält sie jedenfalls für verfehlt: «Das ist nicht deren, das ist unsere Aufgabe.» Auch mit einem gewissen «Katastrophismus» kann sie leben: «der Begriff der Katastrophe ist mächtig», er könne helfen die Dringlichkeit fassbar zu machen – zu schockieren und zum Nachdenken anzuregen sei jedenfalls «manchmal nötig». «Und dann braucht es konstruktive Lösungen.»

Klima retten per Notstandsrecht?

Kommen wir denen vielleicht jetzt gerade näher, mit der Corona-Erfahrung im Rücken? Plötzlich malen die politischen Mühlen ja nicht mehr so langsam. Machen wir gerade die Erfahrung, dass in akuten Krisen radikale Politik möglich wird? «Wir fordern globale Klimagerechtigkeit», sagt Wigger. Menschen die gerade in Mali verhungerten oder in Tuvalu überflutet würden: Für sie sei heute Notstand. Entsprechend könnten «im Bereich des Notstandsrechts ausserordentliche Wege begangen werden.» Auch Ryser hofft, dass die Corona-Massnahmen stilbildend für die Klimapolitik sein könnten: «Wenn alle politischen Parteien hinter einer Idee stehen, dann kann sich sehr viel bewegen.» Doch die Idee, per Notstand zu regieren gefällt ihr als Parlamentarierin naturgemäss gar nicht, das bedeute «sehr viel Macht in sehr wenigen Händen». Politisches Handeln heisst im Wesentlichen eben auch Verhandeln, und in dem Prozess sollen nicht wenige sondern viele mitbestimmen. Auch wenn das dauert. «Ich glaube daran, dass wir das schaffen, auch mit den aktuellen politischen Mitteln – wir haben noch gut zehn Jahre.» Keine Zeit mehr zu verlieren also – zumindest in diesem Punkt sind die verschiedenen Schattierungen von Grün nicht mehr wirklich auseinanderzuhalten.

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