Wir leben in einer Zeit politischen Irrsinns und tiefgreifender, auch beängstigender planetarer und technologischer Veränderungen. Wie wir dennoch hoffnungsvoll bleiben können und was die Hoffnung braucht, um nicht naiv zu sein, erzählt die Philosophin und Psychoanalytikerin Hanna Gekle.
Moneta: Frau Urech, Sie sind an der Frauenklinik des Unispitals Basel leitende Psychologin und arbeiten im Fachbereich gynäkologische Psychosozialmedizin. Was ist genau Ihre Aufgabe?
Ich bin Psychotherapeutin und Psychoonkologin. An der Frauenklinik arbeite ich mit Frauen zu allen Themen, die sie medizinisch gesehen belasten. Schwerpunktmässig kümmere ich mich dabei um Frauen mit einer Krebserkrankung. Sie und deren Angehörige begleite ich zusammen mit meinem Team von der Diagnose bis zum Lebensende oder zur Genesung – und bei Genesung auch wieder zurück in den Alltag.
Wie erfahren Patientinnen von der Möglichkeit, sich von Ihnen begleiten zu lassen?
Das ist sehr niederschwellig organisiert. Alle Patientinnen haben Zugang zu einer psychologischen Begleitung, egal ob sie psychisch belastet sind oder nicht. Wenn eine Patientin sagt: Ich möchte mal mit einer Psychoonkologin reden, dann kann sie zu uns kommen. Das gilt auch für die Angehörigen. Zudem testen wir bei allen Patientinnen mit einem Fragebogen, wie hoch ihre Belastung ist. Ab einer gewissen Höhe weisen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte gezielt auf unser Angebot hin. Wir sind unterdessen Teil des onkologischen Teams. So sind die Wege kurz.
Wer kommt genau zu Ihnen? Ist es beispielsweise so, dass Menschen mit einer schwereren Diagnose Sie eher aufsuchen?
Da gibt es keinen Zusammenhang. Menschen reagieren ganz unterschiedlich auf eine Krebsdiagnose. Auch bei einem Frühstadium oder einer gut behandelbaren Erkrankung kann einem eine Krebsdiagnose komplett den Boden unter den Füssen wegziehen. Wir sehen aber, dass unter den Krebspatientinnen und -patienten Frauen eher psychologische Begleitung in Anspruch nehmen. Und unter den Frauen ist der Anteil an Brustkrebspatientinnen gross. An der Frauenklinik macht gut ein Drittel der Patientinnen von unserem Angebot gebrauch. Einige kommen einfach nur für eine einzelne Sitzung. Ihnen reicht es, uns zu kennen und zu wissen, dass es uns als Anlaufstelle gibt. Andere lassen sich auf eine längere Begleitung ein.
Wenn Sie Krebsbetroffene begleiten, setzen Sie auf Hoffnung als eine Strategie im Umgang damit. Aufgrund von Nachforschungen und aus Erfahrung sind Sie zum Schluss gekommen, dass diese bei Krebserkrankungen eine wichtige Ressource ist. Warum?
Zunächst ist wichtig zu fragen, was Hoffnung überhaupt ist. In der Literatur wird sie meist als Gefühl und auch als eine bestimmte Art zu denken definiert. Hoffnung wird als starker innerer Motor beschrieben, als eine Energie, die einem antreibt. Mir gefällt die Definition des amerikanischen Psychologen Charles Snyder gut: Er sagt, Hoffnung sei der Glaube, dass die eigene Zukunft besser sein werde als die Gegenwart und dass man die Fähigkeit habe, diese Zukunft zu verwirklichen. Es geht also darum zu handeln und das ist eine gute Nachricht. Denn Hoffnung ist damit etwas, das gelernt und beeinflusst werden kann.
Und was macht Hoffnung zu einer Ressource für Krebsbetroffene?
Man weiss, dass die Lebensqualität von Menschen mit einer Krebserkrankung zunimmt, je mehr Hoffnung sie haben. Wer Hoffnung hat, der oder dem geht es emotional besser. Da besteht ein direkter Zusammenhang. Zudem hat sich gezeigt, dass Hoffnung dazu führt, dass Krebsbetroffene eher an den nötigen Therapien teilnehmen und diese auch besser durchstehen. Darum kann Hoffnung indirekt sogar den Heilungsverlauf positiv beeinflussen. Und das Gute ist: Hoffnung lässt sich stärken und sogar generieren.
Wie funktioniert das genau?
Zum einen gibt es Faktoren, welche die Hoffnung von Krebsbetroffenen fördern, beispielsweise Beziehungen – auch jene zum Team im Spital. Wenn Patientinnen eine gute Beziehung zur Ärztin oder zum Arzt haben, gibt ihnen das Hoffnung auf gute Begleitung und Behandlung und damit auch auf Heilung oder ein würdevolles Lebensende. Dann können Spiritualität und Religiosität hoffnungsfördernd sein. Und auch Zeit in der Natur zu verbringen, sich zu bewegen und zu reisen, oder sich handwerklich und künstlerisch zu betätigten. In der Wissenschaft ist man sich zudem einig, dass Hoffnung aus drei Komponenten besteht: Erstens braucht es Ziele. Dann muss man zweitens den Weg kennen, wie man diese Ziele erreicht. Und drittens muss man die Willenskraft haben, diesen Weg auch zu beschreiten. Klare Ziele geben Krebsbetroffenen einen Sinn. Sinn wiederum ist ein weiterer ganz wichtiger Faktor, der Hoffnung begünstigt. Diesen zu finden ist für Krebsbetroffene also wichtig, auch für den letzten Lebensabschnitt. Meine Aufgabe ist es, ihnen dabei zu helfen. Ich unterstütze sie dabei, Ziele zu definieren, die ihren Möglichkeiten entsprechen, frage nach, wie sie diese Ziele erreicht werden könnten und versuche auszuloten, was sie motivieren könnte, sich auf den Weg zu machen.
Wie gehen Sie dabei konkret vor?
Mein Werkzeug ist die Kommunikation. Ich komme mit meinen Patientinnen über diese Faktoren ins Gespräch und stelle verschiedene Fragen: Gibt es etwas, worauf Sie hoffen können? Was oder wer gab und gibt Ihrem Leben Sinn? Was soll jetzt Ihr Lebensinhalt sein? Worauf möchten Sie Ihre Energie und Ihre Zeit richten? Was können Sie aktiv tun?
Was antworten die Patientinnen?
Das ist vielfältig. Viele finden Sinn darin, im übergeordneten Sinn aufzuräumen. Also den Nachlass zu regeln, bestimmte Gespräche noch zu führen, mit Familienangehörigen oder mit Freunden. Oder auch bewusst zu entscheiden, etwas nicht mehr zu klären und stattdessen loszulassen. Es kann aber auch sein, dass sich Leute überlegen, was sie in der Zeit, die ihnen bleibt, noch erleben möchten. Kürzlich hat sich eine Patientin vorgenommen, noch auf die Rigi zu reisen. Andere sagen, sie möchten nochmals etwas Bestimmtes essen oder einen besonderen Film schauen. Sich solche Unternehmungen vorzunehmen, gibt ihnen Sinn und damit Hoffnung. Und wenn es gesundheitlich vielleicht nicht mehr möglich ist, auf die Rigi zu gehen oder mit der besten Freundin nach Italien zu reisen, dann suchen wir gemeinsam machbare Alternativen: Gibt es einen Hügel in der Nähe, auf den ich nochmals gehen kann? Kann ich einfach mit der besten Freundin Fotos von vergangenen Italienferien anschauen?
Und was hoffen Patientinnen konkret?
Hoffnung auf Heilung steht über allem, aber sie hoffen auch auf viele andere Sachen: Etwa, dass sie möglichst lange leben, ohne Schmerzen und mit einer hohen Lebensqualität. Oder sie hoffen darauf, sich würdevoll verabschieden zu können. Andere hoffen, nicht verlassen zu werden und geborgen zu sein oder dass sie in der verbleibenden Zeit noch möglichst viel tun können. Und je weiter die Krankheit fortgeschritten ist, desto mehr hoffen die Patientinnen auch Dinge für ihr Umfeld, etwa dass es ihren Liebsten gut geht. Was Menschen hoffen, hängt auch vom Alter ab: Jüngere Menschen hoffen auf Lebensverlängerung, weil sie noch viel Leben vor sich haben. Sie setzen alles daran, gesund zu werden. Für ältere Menschen ist die Lebensqualität wichtiger.
Ist es je nach Schwere der Diagnose nicht heikel, die Hoffnung auf Heilung zu fördern?
Ich würde einer Patientin, die trotz einer sehr schweren Krebsdiagnose auf Heilung hofft, nie diese Hoffnung ausschlagen. Denn genau genommen ist eine Heilung immer noch möglich, auch wenn die Chancen sehr gering sind. Auch für den letzten Abschnitt, kann diese Hoffnung auf Heilung eine wichtige Ressource sein. Allerdings würde ich sie nicht befeuern. Ich würde mit den Patientinnen auch thematisieren, wenn die Ärztin oder der Arzt nur noch lebenserhaltende und schmerzbefreiende Massnahmen angeordnet hat. In diesem Fall geht es darum, zusammen mit den Patientinnen zu überlegen, worauf sie unter diesen Umständen noch hoffen können. Ehrlich zu bleiben in der Kommunikation ist übrigens auch hoffnungsfördernd.
Inwiefern?
Kommunikation –verbal und nonverbal – spielt allgemein eine wichtige Rolle für die Hoffnung: Wenn eine Ärztin oder ein Arzt nervös wirkt, das Dossier nicht dabeihat und sich nicht getraut, die Diagnose anzusprechen, schwächt das die Hoffnung. Wirken sie hingegen kompetent und kommunizieren offen und realistisch, geben der Patientin die Möglichkeit Fragen zu stellen und bieten neuste, best-evaluierte Therapie an, dann fördert das die Hoffnung. Es braucht also ehrliche Information, aber mit positiven Aussichten und Raum für Hoffnung.
Was machen Sie, wenn Sie auf eine Patientin treffen, die keine Hoffnung hat?
Ein Patentrezept gibt es für solche Momente nicht, generell nicht in der Psychotherapie. Ich versuche den Patientinnen in der Regel aufzuzeigen, welche Konsequenzen ihre pessimistische Haltung hat. Dass die Folge davon sein kann, dass man in eine Negativspirale gerät und jegliche Perspektive verliert. Es ist erwiesen, dass die sogenannte «Demoralisation» mit tieferer Lebensqualität einhergeht sowie zur Folge hat, dass die Betroffenen weniger gut bei den Therapien mitmachen und mehr Nebenwirkungen haben. Gleichzeitig erkläre ich den Patientinnen, dass es auch den Weg gibt, sich auf das Gute und die verbleibenden Möglichkeiten zu fokussieren. Manchmal zeichne ich diese beiden Wege, den positiven und den negativen, auch auf, um den Patientinnen deutlich zu machen, dass sie entscheiden können, welchen Weg sie wählen.
Aber es ist in Ordnung, auch mal hoffnungslos zu sein?
Auf jeden Fall. Die Hoffnung zu verlieren, beispielsweise bei einer Krebsdiagnose, ist eine natürliche Reaktion. Es gehört dazu, dass man traurig ist, die Situation ausweglos findet und Angst hat. Das ist völlig in Ordnung. Rund ein Drittel aller Krebsbetroffenen leiden an einer Angststörung, Depression oder Anpassungsstörung. In der Psychotherapie geht es in einem ersten Schritt darum, mit diesen Gefühlen umgehen zu lernen, sie zu akzeptieren und dann auch die neue Situation, die Diagnose zu akzeptieren. Wenn einem das gelingt, kann man sich in den Prozess begeben, den wir bereits diskutiert haben. Man fragt sich etwa: Was gibt mir wieder Boden unter den Füssen? Was kann ich mir vornehmen? Welche kleinen Ziele setze ich mir?
Auch die aktuelle Weltlage zieht einem bisweilen den Boden unter den Füssen weg. Wie lassen sich Ihre Erkenntnisse aus der Psychoonkologie auf Menschen übertragen, die angesichts der Weltlage nach Hoffnung suchen?
Wichtig ist, zuerst einmal zu unterscheiden: Was ist die Lage der Welt? Und wie ist meine persönliche Situation? Auf die Weltlage können wir als Einzelpersonen meist nur wenig Einfluss nehmen. Das heisst, wir müssen lernen, diese zwar nicht auszublenden, aber zu akzeptieren. Mit Blick auf die persönliche Situation ist es wichtig zu überlegen, wo ich aktiv werden kann. Wenn mir zum Beispiel Umweltschutz wichtig ist, kann ich mich fragen, was ich bei mir im Haushalt Konkretes verändern kann, sodass mir im globalen Kontext wohl ist. Oder wenn mir der Krieg in der Ukraine auf dem Magen liegt, kann ich mich beispielsweise um Menschen in meiner Nachbarschaft kümmern, die aus der Ukraine geflüchtet sind. Wichtig ist, sich erreichbare Ziele zu setzen. So erleben wir Selbstwirksamkeit und schaffen eine Grundlage, wieder zu hoffen, anstatt uns lähmen zu lassen.
Das scheint mir jetzt aber doch ein Art Patentrezept zu sein, auch wenn Sie vorhin meinten, solche gebe es in der Psychotherapie nicht.
Sie haben recht. Dieser Ansatz hat schon etwas von einem Rezept: Bei Hoffnungslosigkeit auf Bereiche fokussieren, in denen ich etwas bewegen kann, erreichbare Ziele definieren und darauf hinarbeiten. So kann ich Selbstwirksamkeit und Sinnhaftigkeit erleben und Hoffnung schöpfen.
Was ist denn Ihre ganz persönliche Strategie, um hoffnungsvoll zu bleiben? Auch angesichts der Schicksale, denen sie beruflich begegnen?
Es geht auch hier wieder um die Sinnhaftigkeit. Meistens sind es die guten Begegnungen und die teils eindrücklichen Geschichten, die mich erfreuen und bewegen. Als Psychotherapeutinnen und -therapeuten bieten wir den Menschen Zeit und Raum: Die Leute kommen zu mir und haben eine Stunde Zeit, in denen ich ihnen primär einfach zuhöre. Das ist etwas, das viele in ihrem Leben nicht mehr haben. Das erscheint mir sinnvoll und lässt mich hoffnungsvoll bleiben. Zudem sage ich mir immer wieder: Hoffnungslosigkeit ist auch «nur» ein Gefühl, das irgendwann wieder vergeht und der Zuversicht Platz macht. Man kann gar nicht auf Dauer hoffnungslos sein. Eine Situation mag für den Moment enorm schwierig sein, aber irgendwann geht es wieder weiter. Oft sage ich meinen Patientinnen auch, dass sie darauf vertrauen können, dass die Situation in einem Jahr ganz anders aussehen wird. Dann können wir uns auch gemeinsam ausmalen, wie genau: Etwa welchen Wein sich die Patientinnen zur Feier der überstandenen Chemotherapie gönnen werden, mit wem sie feiern und wohin sie als erstes in die Ferien gehen. Das gibt ein Zukunftsbild, eine hoffnungsvolle Perspektive, die sehr motivierend sein kann, um eine Krebserkrankung durchzustehen.