Zeitdruck und Zeitknappheit sind akute gesellschaftliche Probleme. Um ihnen beizukommen, müssten wir die Zeit und auch die Care-Arbeit anders verteilen, findet Buchautorin Teresa Bücker. Entscheidend sei dabei, die Machtfrage konsequent zu stellen.
Wenn Nicole Sourt Sánchez arbeiten geht, läuft nicht alles selbstverständlich. Die Erziehungswissenschaftlerin mit einem Masterabschluss ist fast blind. Hauptberuflich ist sie als Projektleiterin beim Verein Sensability tätig und ist nebenbei Dozentin an der Uni Zürich.
Sensability berät unter anderem Unternehmen bei der Gestaltung von inklusiven Arbeitsplätzen. Sourt Sánchez organisiert Workshops und sitzt viel im Büro. Texte am Bildschirm liest sie mithilfe eines Screenreaders. Das Programm erkennt Textbausteine in Dokumenten und liest sie vor. Sie kann die Informationen auch auf einer Braillezeile ertasten, die Sprachzeichen in Brailleschrift darstellt. Noch kann der Screenreader aber nicht alles lesen: «Texte in Bildform kann er beispielsweise nicht erfassen», erklärt Nicole Sourt Sánchez. «Ohne Menschen, die sich bewusst inklusiv verhalten und mir lesbare Dokumente zustellen, kann ich nicht richtig arbeiten.»
Als Dozentin an der Uni Zürich stösst sie auf eine weitere Barriere: Zum Bedienen der Technik in den Hörsälen sind Touchscreens eingebaut, diese können Menschen mit starker Sehbehinderung nicht bedienen. Die Uni Zürich stellt Sourt Sánchez deshalb eine Assistenz zur Verfügung, die sie mit der Technik unterstützt.
Viele Behinderungsformen, nicht weniger Hürden
Die Hürden, die Menschen mit Behinderungen im Arbeitsleben antreffen, sind ungefähr so vielfältig wie Formen körperlicher, psychischer und kognitiver Einschränkung. Manche Hindernisse sind sofort sichtbar: Wie beispielsweise kommt ein Rollstuhlfahrer in ein Gebäude hinein, wenn der einzige Zugang über Stufen führt? Es gibt aber auch weniger offensichtliche Hindernisse, in Abläufen versteckte. Nicht selten ist bereits der Bewerbungsprozess so gestaltet, dass sich eine Behinderung negativ auswirkt – dann etwa, wenn die verantwortliche HR-Fachperson davon ausgeht, dass eine Behinderung zu einer schlechteren Arbeitsleistung und zu mehr Aufwand führt. Oder wenn zwar Hilfsmittel und Assistenzen existieren, diese aber von der Invalidenversicherung nicht oder erst nach langem Ringen finanziert werden. Bleibt das jetzt einfach so? Oder wie sieht es in Zukunft aus mit dem Zugang zur Arbeitswelt? Wird sie dank neuen technischen Entwicklungen inklusiver?
Mit diesen Fragen beschäftigen sich unter anderem Forschende des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI). In verschiedenen Studien zur Zukunft des Schweizer Arbeitsmarktes kommen sie zum Schluss: Ja, die Digitalisierung, neue Technologien, auch flexiblere Arbeitsmodelle (sowie der Fachkräftemangel) vereinfachen Menschen mit Behinderungen in Zukunft den Zugang zur Arbeitswelt. Und in einer weiteren Studie hält der auf Arbeitsorganisation spezialisierte Psychologe Bertolt Meyer fest, dass sich neue Technik auch indirekt positiv auswirken werde. Denn so wirke sie Vorurteilen entgegen: «Nichts strahlt so viel Kompetenz aus wie Hightech. Eine moderne bionische Roboter-Handprothese, ein Exoskelett oder eine Laufprothese aus Carbon signalisieren eben nicht Inkompetenz und Hilfsbedürftigkeit, sondern Technologie, Fortschritt und neue Fähigkeiten.»
Einer, der das bereits vorlebt, ist der für die SP neu in den Nationalrat gewählte Islam Alijaj. Der Politiker und Unternehmer hat aufgrund einer Cerebralparese eine Körper- und Sprechbehinderung, ist kognitiv aber voll leistungsfähig. Fast endete Alijajs schulischer Werdegang nach neun Sonderschuljahren auf dem Lernniveau eines Sechstklässlers. Mit viel Beharrlichkeit und Willenskraft erkämpfte er sich den Weg zu einer Lehre, wurde Unternehmer, Aktivist, Politiker. Ein bemerkenswerter Ahamoment gelang ihm während seines Wahlkampfes im letzten Herbst: Mit Unterstützung von künstlicher Intelligenz (KI) erstellte er ein Video mit einem Avatar, der für ihn spricht. Dieser hatte das Aussehen und die Stimme von Alijaj – der einzige Unterschied: Man verstand ihn einwandfrei!
Spracherkennung und Eyetracker: Die inklusivere Zukunft ist nah
Bereits weitverbreitet ist heute Spracherkennungssoftware. Für Menschen mit Sprechbehinderungen kann sie die mündliche Kommunikation massiv vereinfachen. Noch gibt es allerdings keine, die Islam Alijajs Aussprache verstehen und wiedergeben kann. Im Parlament, an Sitzungen und auch für längere Schreibarbeiten wird er deshalb von einer menschlichen Assistenz unterstützt. Deren Finanzierung hat auch schon für Diskussionen und Polemik gesorgt. Alijaj: «Im Moment ist es oft einfacher, einen geschützten Arbeitsplatz zu finanzieren, als dasselbe Geld für Assistenz im Arbeitsmarkt zu erhalten.» Entwickelt sich die künstliche Intelligenz in hohem Tempo weiter, wovon auszugehen ist, wird Spracherkennungssoftware Islam Alijaj aber in nicht allzu ferner Zukunft verstehen können. Das wird ihm ermöglichen, mittels Sprache selbständig seinen Computer zu steuern, E-Mails zu verfassen oder ein Sprachausgabegerät zu nutzen, das mit seiner eigenen Stimme spricht.
Eine weitere Technologie, von dem sich viele Menschen mit körperlichen Einschränkungen – insbesondere bei Bewegungsstörungen der oberen Extremitäten – neue Möglichkeiten versprechen, ist der Eyetracker: Er verbindet Augenbewegungen mit einem Cursor. So kann selbst eine Person, die einzig ihre Augen bewegen kann, Texte schreiben und vieles mehr. Bereits jetzt ist bei Microsoft Windows 10 das Eyetracking im Betriebssystem integriert. Künftig soll es standardmässig für eine Vielzahl von Programmen genutzt werden können. Fast endlos ist die Liste der Apps und Hilfsmittel, die noch in der Pipeline der Forschung und der Marktentwicklung stecken: An der künstlichen Netzhaut wird schon lange geforscht. Exoskelette wiederum, die Querschnittgelähmten zum selbständigen Gehen verhelfen sollen, sind inzwischen in der Rehabilitationsmedizin angekommen – im Arbeitsalltag aber noch kaum anzutreffen.
Allerdings: Technik zu nutzen, muss erst mal gelernt und geübt werden. Dazu braucht es an Schulen zeitliche und fachliche Ressourcen – und die sind meist nur knapp vorhanden. Kommt dazu, dass allein mit Technik die Arbeitswelt nicht inklusiver wird. Zudem halten sich diskriminierende Vorstellungen von Menschen mit Behinderungen hartnäckig. Islam Alijaj sagt dazu: «Wir müssen das Narrativ in der Gesellschaft ändern. Es muss sichtbar werden, dass Menschen mit Behinderungen keine hilflosen Geschöpfe sind, sondern Menschen mit Potenzial, das entfaltet werden will.»
Rückständig trotz zwanzig Jahren Behindertengleichstellungsgesetz
Und schliesslich sind es auch die Gesetze, die den Unterschied machen. So ist es etwa kein Zufall, dass der Eyetracker in das in den USA entwickelte Windows-Betriebssystem integriert ist: Unternehmen, die im amerikanischen Markt mitwirken wollen, müssen den «Americans with Disabilities Act», kurz ADA, erfüllen. Dieses Gesetz verpflichtet Unternehmen dazu, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen. Private Dienstleister in der Schweiz hingegen kennen keine solche Norm – selbst zwanzig Jahre nach Einführung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG). Der hiesige Diskriminierungsschutz fällt auch im Vergleich mit der EU knapp aus. Islam Alijaj sitzt nicht zuletzt deshalb im Nationalrat, weil er die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Digitalisierung und Inklusion mitgestalten will.
Das BehiG soll demnächst revidiert werden, bereits hat der Bundesrat einen Revisionsentwurf veröffentlicht. Der Entwurf enthält eine Passage, die private Dienstleister dazu verpflichtet, digitale Produkte für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen. Insgesamt halten ihn Menschen mit Behinderungen und die sie vertretenden Organisationen allerdings für mutlos und zu wenig weit reichend. Für mehr Hoffnung auf Teilhabe am Arbeitsmarkt sorgt die Inklusionsinitiative: Die Gleichstellung und das Recht auf Assistenz sollen in der Verfassung verankert werden.