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15.03.2023 von Roland Fischer

Eine kleine Geschichte des Waldes

Der Wald gilt vielen als Inbegriff der Natur, des Ursprünglichen und Unberührten. Ein Streifzug durch die Geschichte zeigt aber, wie Menschen den Wald schon seit Jahrtausenden prägen.

Artikel in Thema Holz und Wald
Illustration: Claudine Etter

Prolog: Die Evolution will hin zum Licht

Es beginnt vor rund 400 Millionen Jahren. Die Evolution der Pflanzen hatte eben erst den Schritt aus den Meeren ans Land gemacht, da entwickelten sich im Erdzeitalter des Devon aus kleinen Pflanzen die ersten baumartigen Gewächse mit einem Stamm und einer Krone. Es war ein Wettbewerb um das Licht für die Photosynthese: Immer weiter hinauf wuchsen die Kronen, den «niederen» Pflanzen darunter blieb der Schatten. Stamm und Krone – dieses Konzept erwies sich als enorm erfolgreich: Die Erde wurde innert Kürze zu einem bewaldeten Planeten. Seither hat die Evolution verschiedene «Baum»-Konzepte ausprobiert, manche sind schon ausgestorben (zum Beispiel riesenhafte Schachtelhalme), manche bilden den Pflanzenmix heutiger Wälder. Die Tierwelt hatte sich in weiten Teilen der Erde den Wald-Umweltbedingungen anzupassen – so auch der Mensch.

 

Das grosse Eis – keine gute Zeit für Wälder

Zoomen wir für die jüngere Entwicklung hinein auf Mitteleuropa, das macht die Sache ein wenig überschaubarer; denn verschiedene Klimazonen auf der Erde bedeuteten auch unterschiedliche Bewaldung. Vor etwa vier Millionen Jahren begannen extreme Klimaschwankungen, die ihren Höhepunkt im Pleistozän mit mehreren ausgedehnten Kaltzeiten fanden. Zwischen den Alpen und dem Inlandeis aus Skandinavien war Europa fast vollständig von Eis bedeckt und waldfrei, bis auf lokale Waldsteppen und -tundren aus frostharten Birken und Kiefern.

 

Es taut auf – die Wälder kommen zurück

Erst vor circa 12’000 Jahren endeten die Kälteperioden in Mitteleuropa, im Holozän begann die Rückwanderung der Wälder in die baumlosen, postglazialen Steppen. Zum Ende der Mittleren Steinzeit stiegen die Durchschnittstemperaturen merklich an, Eichen und Ulmen verdrängten die bisherigen Baumarten, sie kamen mit den neuen Bedingungen am besten zurecht. Der Alpenraum dagegen erlebte eine Ausbreitung verschiedener Nadelhölzer (Föhre, Arve, Lärche) und einen stetigen Anstieg der Waldgrenze.

 

Die Waldtypen etablieren sich – und dann kommt der Mensch

Vom 9. bis 7. Jahrtausend vor unserer Zeit etabliert sich der hiesige Wald. Die Waldtypen in Europa differenzierten sich aus, ihr Wachstum orientierte sich an den klimatischen Bedingungen und der Situation der Böden orientierte. Doch dann kam ein neuer Faktor ins Spiel – der Übergang des Menschen zur sesshaften Lebensweise: In den folgenden Jahrtausenden breitete sich die Ackerbaukultur immer weiter aus, Holz wurde essentiell für das bäuerliche Leben in Europa. Das frühe Siedlungswesen besass weiterhin eine grosse Dynamik, weil der Boden ohne Dünger rasch an Kraft verlor. So kam es zu Zyklen mit Rodungen, Aufgeben von Siedlungen und Neubildungen von Wäldern – jeder Fleck Erde wurde so einmal oder mehrmals «umgepflügt». Erst durch diese Rodungen konnten sich Buchen in den Wäldern «einnisten». Schon seit rund 7000 Jahren wurden die Wälder also sehr wesentlich vom Menschen mitgeprägt – auch wenn das anfangs ohne forstwirtschaftliche Absicht geschah.

 

Die Römer – die grosse Entwaldung beginnt

Nun erst fängt die Zeit an, in der sich der Mensch «die Erde untertan» macht. In der Expansionsphase des Römischen Reiches kam es zu einer grossflächigen Entwaldung der Mittelmeerländer, und auch nördlich der Alpen spürte man den Einfluss bald. Am wichtigsten war dabei die Landgewinnung für Nutzpflanzen. Darüber hinaus wurde aber auch massenhaft Holz gebraucht zum Heizen und Bauen sowie für die Konstruktion der riesigen Kriegsflotten.

 

Mittelalter – nach einer Atempause geht das Roden weiter

Die Zeit der Völkerwanderungen hatte den Wäldern eine Atempause verschafft, doch nun nahm die Siedlungsfläche wieder zu. Im frühen und hohen Mittelalter folgten grossflächige Rodungen. Einerseits wollte man neue Siedlungsflächen erschliessen, andererseits brauchte man Bau- und Brennholz. Diese Periode war prägend für die Landschaften grosser Teile Mitteleuropas, gegen Ende des 14. Jahrhunderts hatte sich ein Verhältnis zwischen Kultur- und Waldfläche gebildet, das ungefähr dem heutigen entspricht.

 

Vom «Grossen Holtz-Mangel» – Nachhaltige Forstwirtschaft

1713 erschien ein buchstäblich nachhaltig wirksames Buch: Hans Carl von Carlowitz’ «Sylvicultura oeconomica». Carlowitz war Oberberghauptmann des Erzgebirges, die Wälder waren für ihn wichtig als Holzlieferanten für die Verarbeitung von Bodenschätzen: zum Sieden von Salz, zum Schmelzen von Erz, zum Brennen von Kalk. Und zu dieser Zeit dämmerte es den Gelehrten, dass der Raubbau nicht mehr lange gut gehen würde. Das Buch ist vor allem deshalb berühmt, weil in ihm erstmals der Begriff «nachhaltig» bzw. «nachhaltend» auftaucht: «Wird derhalben die gröste Kunst / Wissenschafft / Fleiß / und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen / wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen / daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe.» Die Holz-Bedürfnisse indes nahmen nur noch zu, vor allem als Energieträger: Schätzungsweise neun Zehntel des Holzes wurden bis zum 19. Jahrhundert als Brennholz verbraucht, auch Kohle war damals zum allergrössten Teil Holzkohle.

 

18. Jahrhundert – das grosse Aufforsten

Erst jetzt beginnt die grosse Zeit des Forsts als eigener Landschaft mit eigenen Regeln: Agrarland und Wald wurden viel stärker getrennt, auch rechtlich. Der zuvor häufig gemeinschaftliche Waldbesitz wurde privatisiert, parzelliert und den Bauern zugeteilt. Vieh wurde nun immer seltener in die Wälder getrieben, stattdessen wurden Weiden angelegt – die vormaligen «Hudewälder» (Hütewälder) konnten sich regenerieren. In die gleiche Zeit, um 1770, fällt der Beginn der Forstausbildung: Hohe Beamte übernahmen nun neben den Jägern die Verantwortung für die Wälder. Und sie hatten grosse Pläne: Aufforsten! Und zwar zumeist mit Nadelbäumen, vor allem mit schnellwachsenden Fichten. Nun entstehen das erste Mal explizit «künstliche» Waldformen, mit strengem Schachbrettmuster in die Landschaft gelegt. Zugleich wird der Wald als Erholungsgebiet entdeckt, als weite «Gartenlandschaft», die nicht allein eine ökonomische, sondern auch eine ästhetische Funktion zu erfüllen hatte. Die bis heute andauernden Streitigkeiten um die «richtige» Nutzung des Waldes waren damit lanciert.

 

Moderne – Fossile Brennstoffe «retten» den Wald

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts bleibt der Zustand des Walds prekär. Die Forderung nach nachhaltiger Bewirtschaftung war kaum zu erfüllen, weil die Nachfrage nach Holz gross blieb – oder sogar noch grösser wurde, mit der anrollenden Industrialisierung. Erst zwei wesentliche technische Innovationen sorgen endlich für Entspannung an der Waldfront. Erstens macht die Dampfmaschine den Energieumsatz viel effizienter und der Einsatz von Mineraldünger verringert den Druck, weitere Landwirtschaftsflächen zu schaffen. Zweitens fanden sich mit den fossilen Brennstoffen endlich Alternativen zum Holz als Energieträger. Es war höchst Zeit: Um 1900 waren kaum Wälder in Europa übriggeblieben.

 

20. Jahrhundert – der Wald wächst wieder!

Über das 20. und 21. Jahrhundert hat sich die Waldfläche in Europa um ein Drittel vergrössert. In der Schweiz zum Beispiel hat sich die Waldfläche im Jura und im Mittelland seit 1985 nicht signifikant verändert, auf der Alpensüdseite und in den Alpen dagegen ist der Wald zwischen 8 und 28 Prozent gewachsen. Der Wald gewinnt also vor allem in Höhenlagen an Terrain. International kann man einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsleistung und Waldwachstum feststellen: In hochentwickelten Ländern konzentriert sich die Agrarfläche auf gutes Ackerland, so wird «grenzwertiges» Land frei, wo sich in der Folge Wald breitmacht. Ausserdem gibt es in Industrieländern immer mehr Naturschutzprogramme – Wald und Natur werden als schützenswert erkannt. Die Sache hat allerdings einen Haken, denn reiche Länder lagern ihren Holz- und Flächenhunger zu einem grossen Teil einfach aus – der Druck steigt entsprechend auf Wälder in ärmeren Ländern.


Literatur
  • Hansjörg Küster: «­Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart». C.H. Beck, 2013.
  • Joachim Radkau: «Holz. Wie ein Naturstoff ­Geschichte schreibt». Oekom, 2018.
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