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06.12.2021 von Esther Banz

«Die Nutztierhaltung widerspricht unseren ethischen Überzeugungen»

Damit wir Milch trinken und Fleisch essen können, quälen und töten wir Tiere. Ist Genuss eine Frage der Freiheit? Und sind die vielen Fleischersatzprodukte ein Hinweis darauf, dass jetzt ein Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Mensch und Nutztier stattfindet? Wir fragten die Philosophin und Tierethikerin Friederike Schmitz.

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Die deutsche Philosophin Friederike Schmitz ist seit 2017 selbständige Autorin und Referentin zu Tierethik. Sie lebt in Brandenburg und engagiert sich auch politisch in der Tierrechts- und Klimagerechtigkeitsbewegung, unter anderem beim Bündnis «Gemeinsam gegen die Tierindustrie».
Foto: màd

Ihre Bücher:
Friederike Schmitz (Hrsg.): Tierethik: Grundlagentexte, Suhrkamp, Berlin 2014.
Tierethik: kurz + verständlich, Compassion Media, Münster 2017.
Tiere essen – dürfen wir das? J. B. Metzler, Stuttgart 2020.

moneta: Friederike Schmitz, Sie sind eine wichtige Stimme der veganen Bewegung. Heute erleichtert eine zunehmende Zahl von Fleisch- und Milchersatzprodukten den Verzicht auf tierische Nahrung. Wie nehmen Sie diese Entwicklung wahr? 
Friederike Schmitz: Zwiespältig. Ich sehe die vielen veganen Produkte – und dass sich gleichzeitig nicht viel verändert. Global gesehen steigt der Fleischkonsum stark an. Und für die sogenannten Nutztiere ändert sich noch fast nichts. Im Gegenteil: Gewisse Dinge gehen jetzt erst richtig los, die Genveränderungen bei Nutztieren etwa. Da werden jetzt sozusagen neue Nutztiere entwickelt, die noch mehr Leistung erbringen sollen, mittels grauslicher Forschung.

Gleichwohl: Die vegane Ernährung ist populärer geworden.
Ja, und das ist auch sehr positiv. Die Debatte hat sich stark verändert. Die meisten haben schon einmal von Veganismus gehört, viele Menschen wollen ihren Tierkonsum reduzieren. Und doch: Dafür, wie viel schon bekannt ist über die Auswirkungen der industriellen Nutztierhaltung auch für die Umwelt und das Klima, verändert sich noch wenig. Es müssten jetzt politische Weichen gestellt werden.

Die Schweizer Stimmbevölkerung entscheidet in naher Zukunft über die Abschaffung der Massentierhaltung. Die Initiative verlangt eigentlich nichts weniger als die Transformation der tierbasierten Landwirtschaft: weg von den Tierfabriken. Davon würden auch kleine Betriebe mit Nutztieren profitieren, sagen die Initiantinnen und Initianten. Ist das der richtige Weg?
Auf jeden Fall muss die Transformation von Landwirtschaft und Ernährung systemisch vorangetrieben werden, nicht mittels Verbesserung einzelner Tierschutzvorschriften. Auch, weil der Tierschutz im industriellen Kontext einen schweren Stand hat. Ein Beispiel ist der Kastenstand für Muttersauen: Rein rechtlich steht in Deutschland seit vielen Jahren fest, dass diese Einzelkäfige mit dem Tierschutzgesetz nicht vereinbar sind. Trotzdem sind sie noch immer gängige Praxis, erst letztes Jahr wurden noch einmal lange Übergangsfristen beschlossen. Die Sauen leiden weiter fürchterlich, sie können sich wochenlang nicht einmal umdrehen.

In der Schweiz sind Kastenstände seit 2007 verboten, aber während der Deckzeit dürfen die Sauen dennoch bis zu zehn Tage in den engen Käfigen gehalten werden, unter leidvollen Bedingungen. Eine weitere Gesetzesänderung betrifft die Hühner: Bis letztes Jahr durften die männlichen Küken geschreddert werden, was unbetäubt passierte. Das ist jetzt nicht mehr erlaubt, die Baby-Hähne dürfen «nur» noch vergast werden. Wie werten Sie diese Gesetzesänderung?
Das ist ein winziger Fortschritt – so wie die meisten Fortschritte im Tierschutz winzig sind. Auch die Vergasung ohne Betäubung ist schrecklich, die Küken schnappen nach Luft, das ist kein leidfreier Tod, aber wohl weniger leidvoll als das Schreddern. Zugleich ist es doch grotesk, wie dabei Millionen von fühlenden Lebewesen einfach vernichtet werden, weil sie keinen Profit bringen. Die grundlegende Transformation der Landwirtschaft ist auch deshalb so wichtig, weil Tiere, solange sie kommerziell genutzt werden, um Gewinn zu erwirtschaften, immer verlieren – sie bleiben Waren. Wir müssen von dieser Praxis weg. Es reicht nicht, zu sagen: «Ein Schwein braucht doppelt so viel Platz», denn eine doppelt so grosse schlechte Umgebung lässt das Schwein auch nicht machen, was es eigentlich will.

Was will ein Schwein machen?
Schweine sind neugierig und wühlen und suhlen sich gerne. Dazu brauchen sie Erde. Schweine in der Mast leben aber auf wenigen Quadratmetern hartem Spaltenboden ohne jeden Auslauf. Wir müssen die Landwirtschaft und Ernährung gesetzgeberisch gestalten, als grosses gesellschaftliches Projekt, wie man es in vielen andern Bereichen wie dem Klimaschutz auch längst machen müsste. Mit klaren Zielen etwa zur Reduktion der Tierbestände in den nächsten Jahren.

Wie soll diese Transformation vonstattengehen, so dass sie für Tierhalterinnen und Tierhalter wirtschaftlich und sozial gerecht ist?
Indem für sie Alternativen geschaffen werden: durch Ausstiegsprogramme, eine Umstellung bei den Subventionen und weitere Anreize.

Die Schweizer Grossverteiler werden die Massentierhaltungsinitiative bekämpfen, gleichzeitig bauen sie ihr Angebot an Fleischersatzprodukten aus. Wie geht das zusammen?
Sehr gut. Vegane Produkte sind nicht bedrohlich für das Geschäftsinteresse, sondern förderlich: Man kann zusätzliche beziehungsweise andere Produkte verkaufen. Aber vorgesehene Veränderungen, die bestimmte bisherige Praktiken sehr viel schwieriger, teurer oder gar unmöglich machen würden, bekommen die ganze Lobbymacht zu spüren. Mittels teurer Kampagnen werden Mythen bedient, wonach es den Tieren ja gar nicht schlecht gehe.

Die vegane Ernährung wird auch lächerlich gemacht, selbst in aufgeklärten Kreisen. Warum?
Ein Veganer am Tisch steht quasi für einen Angriff auf die eigene moralische Anständigkeit. Wir wollen ja von uns denken, wir handelten moralisch in Ordnung. Ein Veganer am Tisch verändert diese Messlatte – und wir finden uns plötzlich darunter wieder. Das können wir nicht so stehen lassen. Durch Lächerlichmachen stupsen wir ihn runter, weisen seinen Anspruch zurück. Zusammen mit den anderen Anwesenden bestärken wir uns darin, dass es total absurd ist, was die machen. So bringt man seine soziale Gruppe wieder auf das gleiche Level.

Einschränkungen bei der Ernährung werden – ähnlich wie bei den fossilen Treibstoffen – auch als Angriff auf die eigene Freiheit verstanden…
Freiheit ist ein beliebtes Argument gegen alle Veränderung. Aber das ist ein seltsames Verständnis: Wir sollen frei sein, aus einem vorgegebenen Angebot auswählen zu können. Aber in der Frage, wie das Angebot entsteht, gibt es keine Mitbestimmung – und also auch keine Freiheit: Ich habe nicht die Freiheit, ein Veto einzulegen gegen diese Art der Hühnerproduktion. Die allermeisten wollen nicht, dass die Hühner leiden und die männlichen Küken vergast werden. Sie bekommen also etwas angeboten, das auf eine Art und Weise produziert wird, die sie eigentlich nicht gut finden. Ihre Freiheit soll also darin bestehen, dass sie das weiterhin kaufen können? Abgesehen davon sind die Tiere, um die es dabei geht, natürlich absolut unfrei.

Bio- oder Demeter-Fleisch zu essen, ist für viele zum Gewissenskompromiss geworden.
Ja. Aber auch die Bio-Tierhaltung ist klarerweise im Widerspruch zu den allgemein verbreiteten Überzeugungen.

Welche meinen Sie?
Dass man Tiere nicht unnötig leiden lassen oder schädigen sollte. Schweine ihr Leben lang daran zu hindern, ihre Bedürfnisse auszuleben, also zu wühlen, zu suhlen, die Welt zu erkunden – das ist nicht vereinbar mit dieser Grundüberzeugung. Auch Bioschweine leiden, sie haben in der Regel nur einen winzigen Aussenbereich auf Betonboden. Und die Demeter-Kuh, der man das Kalb wegnimmt, damit sie Demeter-Milch produziert: Auch das ist nicht mit dieser Grundüberzeugung vereinbar. Auch wenn man also nicht an so etwas wie Tierrechte glaubt: Die Nutztierhaltung widerspricht so gut wie immer den ganz normalen ethischen Überzeugungen.

Gemäss Schweizer Tierschutzgesetz darf «niemand einem Tier ungerechtfertigt Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen». Das schafft einerseits Vertrauen in die Produktionsbedingungen – heisst aber auch, dass es ein «gerechtfertigtes» Zufügen von Leid, Schmerzen, Schäden gibt.
Man will kostengünstig Tierprodukte herstellen – das gilt als vernünftiger respektive gerechtfertigter Grund, um den Tieren ein gewisses Leid und Schäden zuzufügen. Ethisch betrachtet funktioniert das aber nicht.

Ein einziger Morgen beim Schlachthof – ich stand sogar nur davor – veränderte mein Verlangen nach tierischen Produkten nachhaltig. Sollte der Zugang zu Schlachthöfen offener sein, auch für Schulklassen? 
In Dänemark gibt es einen gläsernen Schlachthof, in den Schulklassen reingehen. Aber den Ort, wo die Schweine mit Gas betäubt werden, sieht man nicht. Verborgen bleibt also genau jener Moment, in dem die Tiere in Todesangst nach Luft schnappen. Für die Betreiber des Schlachthofes ist das Besuchsprogramm insgesamt eine Möglichkeit, dasjenige Bild zu vermitteln, das sie möchten – das ist eine Gefahr. Aber Kinder und Jugendliche sollten natürlich besser darüber informiert werden, wie tierische Produkte tatsächlich hergestellt werden.

Der Mensch vergisst bisweilen, dass er selber ein Tier ist. Wäre unser Umgang mit anderen Tieren besser, wenn uns das bewusster wäre?
Ich bin mir nicht sicher. Es gibt ja auch das Argument, es sei okay, Fleisch zu essen oder überhaupt zu tun, wonach uns ist, weil die anderen Tiere dies ja auch machen. Aber durch die uns gegebene Möglichkeit, ethisch zu reflektieren und uns zu entscheiden, unterscheiden wir uns von anderen Tieren – und daraus erwächst auch eine Pflicht. Mir ist nicht wichtig, ob wir uns als Tier verstehen oder nicht. Was ich eher wichtig finde, ist, dass wir unsere Überlegenheit infrage stellen. Natürlich sind wir überlegen, in einem technischen Sinne, aber deswegen sollten wir uns nicht als wertvoller sehen.

Davon sind wir noch weit entfernt.
Das Problem beginnt nicht erst bei unserem Umgang mit Tieren. Es gibt ja auch ganz viel Ungerechtigkeit und Gewalt gegenüber Menschen, obwohl wir verstehen, dass dies Menschen sind. Aber selbst ihnen gegenüber fehlt breit abgestützte Empathie und Respekt.

Ist es allein eine Einstellungsfrage?
Nein, es sind auch die realen wirtschaftlichen Verhältnisse. In der Industrie handeln die Verantwortlichen so, wie sie in ihrer Funktion innerhalb des Systems handeln müssen, um das zu erreichen, wofür sie angestellt sind, nämlich Profit zu machen. Und wir Konsumierende werden darauf trainiert, das System nicht zu hinterfragen. Man muss das System an sich verändern.

Wo ist denn eigentlich die «tierische Grenze», quasi in die andere Richtung? Was ist noch Tier, was nicht mehr? Wir instrumentalisieren ja zum Beispiel auch in krasser Weise Mikroorganismen für unsere Dienste…
Für die Ethik ist die entscheidende Grenze immer die Empfindungsfähigkeit. Bei den Insekten wird es bereits schwierig – da gibt es Gründe dafür und solche dagegen. Sie haben kein zentrales Nervensystem, Käfer zum Beispiel schonen verletzte Gliedmassen nicht. Manche haben aber doch beeindruckende Fähigkeiten: Bestimmte Grillen zum Beispiel tragen Kämpfe anders aus, wenn andere Grillen zuschauen. Ich würde sagen: im Zweifel für die Insekten.

Was kostet ein Tier?

Tiere sind zwar keine Sachen, im juristischen Sinn, aber Handelswaren sind sie durchaus – sie haben ihren (vom Markt bestimmten) Preis. Haben wir ein gutes Gespür dafür, was ein Tier wert ist? Hier eine kleine Aufstellung für die Schweiz: Es geht um Lebendviehpreise oder, konkreter gesagt, um den Betrag, den man auslegen müsste, sollte man auf die Idee verfallen, sich selber ein Nutztier anzuschaffen – beziehungsweise ein Pferd oder einen Hamster, zum Vergleich. 

Ein-Tages-Küken
CHF 5.–
Huhn (Junghenne)
CHF 10.–
Kuh
CHF 3000.–
Schwein
CHF 500.–
Pferd
CHF 5000.–
Hamster
CHF 30.–

Quellen: «Beobachter», viehhandel-schweiz.ch, tier-inserate.ch, Basler Kantonalbank
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