moneta: Dominik Gross, die Entwicklungsorganisationen, deren Finanzpolitik Sie vertreten, sagen schon lange, es brauche eine andere globale Steuerpolitik. Warum ist ihnen das so wichtig?
Dominik Gross Die Wirtschaft ist globalisiert. Die grossen Firmen produzieren zum Beispiel in Bangladesch Kleider zu sehr tiefen Löhnen. Die Baumwolle dafür stammt vielleicht aus Burkina Faso. Verkauft werden die Kleider hier. So wie die internationalen Steuerregeln heute ausgestaltet sind, herrscht aber zwischen den Ländern ein extrem unfairer Kampf um die Steuereinnahmen.
Wie muss man sich diesen Kampf vorstellen?
Die Konzerne haben ihren Hauptsitz in der Regel in den Ländern des Nordens. Diese versuchen mit komplexen Besteuerungsregeln, dass der Grossteil der Konzerngewinne bei ihnen verbucht wird, obwohl diese woanders erarbeitet werden. So versteuern die Konzerne nicht dort, wo effektiv die Wertschöpfung stattfindet, sondern dort, wo sie auf ihren Gewinnen am wenigsten Steuern bezahlen.
Ist diese Steuerpolitik gar einer der Hauptgründe, warum einst kolonialisierte Länder arm bleiben?
Die Steuerpolitik spielt bei der Wohlstandsverteilung eine wichtige Rolle, und tatsächlich wurzelt die heutige Ungerechtigkeit im Kolonialismus. Das koloniale Geschäftsmodell, Rohstoffe und Arbeitskräfte anderer Länder auszubeuten, um wirtschaftliches Wachstum in den kapitalistischen Gesellschaften des Nordens zu fördern, ist bis heute nicht überwunden. Gerade in der Schweiz leben wir stark auf Kosten anderer Länder: 40 Prozent unserer Konzernsteuereinnahmen stammen aus Gewinnen, die woanders erarbeitet wurden.
Und eine international besser geregelte Steuerpolitik würde dieses ungerechte System nun endlich beenden – ist das die Vision?
Ja. Es geht letztlich um eine gerechtere globale Verteilung des Wohlstands. Aber nicht nur zwischen den Ländern, sondern auch innerhalb von diesen: Es gibt auch in Volkswirtschaften mit einem tiefen Bruttoinlandprodukt sehr reiche Leute. Diesen muss man die Möglichkeit nehmen, ihr Geld in Offshore-Strukturen zu verstecken. Dadurch verlieren Länder viel Steuersubstrat.
War das schon immer so einfach?
Na ja, bis in die 1970er-Jahre musste man in vielen Ländern eine Steuer oder quasi einen Zoll zahlen, wenn man Kapital importierte oder exportierte: Viele Transaktionen mussten bewilligt werden. Es war also viel teurer, Kapital legal ausser Landes zu schaffen.
Was ist aus diesen Geldzöllen geworden?
Sie wurden ab den 1970ern praktisch überall abgeschafft. Das hatte auch viel mit einer extremen Liberalisierung in der Währungspolitik in dieser Zeit zu tun. Der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und auch die OECD (die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) haben mittels Reformen diese investorenfreundliche Wirtschaftspolitik durchgesetzt. Weil die Länder im Süden kaum eigenes Kapital haben und ihre Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen gross ist, müssen sie sich teilweise für sie schlechte Regeln aufzwingen lassen. Der IWF und die OECD waren übrigens ab den 1960ern als Konkurrenz zur Uno um- beziehungsweise aufgebaut worden. 1995 kam dann noch die Welthandelsorganisation (WTO) dazu.
Warum wollte man damals eine Konkurrenz zur Uno?
Nachdem die dekolonisierten Länder, also die unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien, in den 1960ern in der Uno an Macht gewonnen hatten, konnte man ihre Interessen nicht mehr so einfach ignorieren. Das war den Ländern im Norden natürlich nicht genehm. Darum haben sie damals die noch junge Uno als Ganzes bewusst geschwächt, indem sie die globale Wirtschaftspolitik Organisationen überliess, in denen der globale Süden weniger Macht hatte.
Die Uno hat demnach eine historische Berechtigung, sich wieder stärker in die Wirtschaftspolitik einzumischen …
Unbedingt! Es ist nichts als legitim, die Uno wirtschaftspolitisch wieder zu stärken, indem man versucht, sie zur wichtigsten multilateralen Plattform für die globale Steuerpolitik zu machen.
Aktuell sieht es danach aus, dass das gelingen könnte: Ende 2023 hat eine grosse Mehrheit der Staaten einer Uno-Rahmenkonvention für Steuern zugestimmt. Sie schrieben daraufhin, das sei historisch – warum?
Weil damit erstmals ein wirklich globales Forum geschaffen wird, das rechtlich bindende Entscheidungen treffen kann. Bisher hat die OECD diese Rolle für sich beansprucht. So dominieren aber deren nur 38 Mitglieder, unter ihnen vor allem die alten Industrieländer des Nordens. Bei der Uno können künftig alle Länder gleichberechtigt die Regeln in der internationalen Steuerpolitik aushandeln und bestimmen.
Ist das vergleichbar mit der Klimakonvention?
Ja. Eine Konvention wie die Klimakonvention braucht es, damit die Uno überhaupt eine Plattform für verbindliche Abmachungen schaffen kann. In diesem Jahr geht es nun um die Inhalte der Konvention. Und darum, wie die Verhandlungen stattfinden sollen, auch in welchem Zeithorizont.
Wer setzte sich dafür ein und wer war dagegen?
Die wirtschaftlich starken OECD-Staaten sind mit Ausnahme ihrer lateinamerikanischen Mitgliedsstaaten plus ein paar weiterer entschieden gegen eine Uno-Lösung. Der Ukraine- und der Nahostkrieg haben einen neuen Wettstreit zwischen China, Russland und dem Westen ausgelöst. Es geht dabei auch um die Frage, wer den globalen Süden auf seiner Seite hat. Gleichzeitig nimmt respektive nahm der Westen die Interessen der Länder des Südens bei der Bekämpfung der Klimakrise oder der Pandemie kaum ernst. All das lässt die Länder des Südens bei der Uno geeint auftreten und ermöglichte erst ihren Abstimmungserfolg bei der Uno-Steuerkonvention.
In der Schweiz denken aktuell wohl die allermeisten, das globale Steuerproblem sei gelöst: Letztes Jahr hat eine satte Mehrheit der Stimmberechtigten der OECD-Mindeststeuer von 15 Prozent zugestimmt …
78 Prozent waren es!
Bürgerliche fanden, 15 Prozent Mindeststeuer seien eine gute Sache. Die SP war dagegen. «Verkehrte Welt!», fanden viele. Ohne noch mal ins Detail zu gehen: Warum verbessert sich die Situation der Länder des globalen Südens durch Einführung der OECD-Steuer nicht?
Weil das allermeiste des zusätzlichen Steuergeldes ausgerechnet von jenen Ländern eingesteckt werden kann, die mit ihrer Steuerdumpingpolitik anderen Ländern Steuersubstrat wegnehmen. Dazu gehört natürlich auch die Schweiz. Und hier könnten die zusätzlichen Einnahmen sogar über verschlungene Wege wieder an die Konzerne rückvergütet werden.
Wie das?
Beispielsweise indem bei Topmanagern der Grenzsteuersatz gesenkt wird (siehe dazu auch «Samichlausgeschenk: 2,5 Millionen» auf Seite 4) oder man den Konzernen Steuervorauszahlungen rückvergütet, die diese effektiv gar nie geleistet haben. Das ist auch deshalb sehr stossend, weil grosse Probleme auf uns zukommen. Es bräuchte jetzt Geld für Investitionen: für die Ökologisierung zum Beispiel. Kommt dazu, dass es politisch überall auf der Welt Rechtsrutsche gibt, dass vielerorts Faschismus droht. Die Leute bräuchten jetzt Perspektiven! Man müsste in Bildung investieren!
Alle Hoffnung liegt nun auf der Uno-Steuerkonvention und was daraus wird. Was erwarten Sie?
Dass wir in ein paar Jahren konkrete neue Steuerregeln haben, idealerweise basierend auf einem einfachen Modell, das wir Gesamtkonzernbesteuerung nennen: Gewinne einzelner nationaler Firmen ein und desselben multinationalen Konzerns werden nicht mehr in jedem Land separat versteuert, sondern es werden alle Gewinne weltweit zusammengerechnet und gemäss verschiedenen Faktoren (Arbeit, Umsatz, Anzahl Fabriken usw.) auf die einzelnen Länder verteilt. So können die Konzerne ihre Gewinne nicht mehr dorthin verschieben, wo die Steuersätze am tiefsten sind, sondern müssen dort versteuern, wo effektiv ge-
arbeitet und konsumiert wird. Der Norden wird versuchen, beim OECD-System zu bleiben, der Süden wird natürlich zur Uno gehen. Die Frage wird dann sein, welches System sich durchsetzt.