Matthias Binswanger ist einer der bekanntesten Wachstumskritiker der Schweiz. Der Wirtschaftsprofessor verhandelt das Problem aber nicht nur aus ökologischer Perspektive, für ihn hat Wachstum viel mit Glück zu tun. Beziehungsweise mit dem Unglück, dass die Wirtschaft zusehends sinnlos weiterwächst.
Der grüne Waadtländer Abgeordnete Raphaël Mahaim kann die Ausrichtung der kantonalen Wirtschaftspolitik nicht nachvollziehen. «Anstatt die Auswirkungen unseres Wirtschaftsmodells auf den Planeten zu betrachten, machen wir uns Sorgen, welche Folgen die globale Erwärmung und die Gesundheitskrise auf das BIP haben! Verkehrte Welt!» Deshalb reichte der Anwalt, der inzwischen Nationalrat geworden ist, im März 2021 im Grossen Rat des Kantons Waadt das Postulat «Ersetzen des Bruttoinlandsprodukts durch das Bonheur vaudois brut oder den Donut vaudois» ein.
Bonheur? Donut? Worum geht es da genau, wenn man die rein wirtschaftlichen Kennzahlen des Bruttoinlandsprodukt (BIP) hinter sich lässt? Im Waadtländer Postulat bezieht sich Mahaim auf die Arbeiten der britischen Ökonomin Kate Raworth und ihre Donut-Theorie – das Gebäck veranschaulicht die planetaren Grenzen, die «ökologische Obergrenze», die sich an der Erwärmung, dem Verlust der Artenvielfalt und den sozialen Grundbedürfnissen wie Gesundheit, Nahrung oder Bildung misst. Nach diesem Modell will Raphaël Mahaim zunächst die Politik der für Statistik zuständigen Institute neu ausrichten. «Die kantonalen Statistikinstitute haben eine strategische Rolle. Ihre Empfehlungen für die Haushaltspolitik würden im Hinblick auf die grossen Herausforderungen des Jahrhunderts angemessener ausfallen, wenn man die Wirtschaftsdaten vor dem Hintergrund der planetaren Grenzen und der sozialen Bedürfnisse betrachtete.»
Neue Messgrössen für Wohlstand
Tatsächlich gibt es keinen Mangel an Indikatoren, um das «klassische» BIP zu ergänzen. Lebenserwartung, Vertrauen in Institutionen, kulturelle Praktiken, Fettleibigkeit, Erwerbsquote, psychische Gesundheit, Gleichberechtigung, Klima usw.: Diese «neuen Wohlstandsindikatoren» haben seit der Krise von 2008 einen imposanten Aufschwung erlebt. Sie sorgen auf verschiedenen politischen Ebenen für Bewegung. Da es jedoch keinen Konsens über die Erhebung und die Analysemethode gibt und somit ein Vergleich auf kantonaler oder nationaler Ebene schwierig ist, seien diese neuen Indikatoren bei der Festlegung der öffentlichen Politik bislang weitgehend ignoriert worden, bedauert Mahaim. «Wir müssen noch einige Hebel umlegen, bevor das Wirtschaftswachstum in Frage gestellt wird.»
Dass sich Mahaim von Bhutan und seinem Bruttonationalglück hat inspirieren lassen, ist insofern nicht als «realpolitisches» Programm, sondern eher als Provokation zu verstehen. Aber mit einer konkreten Forderung: «Bei alle politischen Massnahmen zur Wiederankurbelung der Wirtschaft und zur Überwindung der Covid-Krise sind Indikatoren einzubeziehen, die Angaben machen zum Zustand der Biodiversität, der Stärke des Sozialsystems, der Gesundheit, der Vitalität des sozialen Gewebes, kurzum zu allem, was zum individuellen und kollektiven Glück beiträgt.«
«Kantonales Bruttoglück» auch in Genf?
Waadt ist mit solchen Ideen in der Romandie nicht allein. Auch Future Tank, eine kantonale Denkfabrik aus Genf, schlug 2019 vor, die Kantonsverfassung zu ändern und das «kantonale Bruttoglück» einzuführen. Derzeit arbeitet der Think Tank eng mit einem Forschungsteam der Universität Genf zusammen. Ziel ist, bereits im nächsten Jahr ein konkretes politisches Projekt vorzulegen.
Dass der Vorschlag eines «Waadtländer Bruttoglücks» Unterstützung auf beiden Seiten des Plenarsaals fand, sei für ihn ein überraschendes Ergebnis gewesen, sagt Mahaim. Aber es hat dem Postulat Signalwirkung für die ganze Schweiz verliehen – die Vorstellung, dass die Wirtschaftspolitik letztlich dem Glück der Menschen verpflichtet ist, gilt offenbar über politische Gräben hinweg. Nun muss das Waadtländer Parlament auf den Bericht des Staatsrats reagieren, der bezüglich der anzuwendenden Indikatoren und ihrer Bewertung sehr vage geblieben ist. Für Raphaël Mahaim ist die Saat des Glücks jedoch gesät. «Es geht mir darum, eine Debatte zu lancieren. Wir müssen endlich dahin gelangen, die Wahl neuer Indikatoren einem demokratischen Prozess zu unterstellen.» Was auf die Frage hinausläuft – und die geht uns ja tatsächlich alle an: Welches Glück wollen wir ?