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19.09.2018 von James Vaccaro

Am Wendepunkt

Viele Banken hätten ihren gesellschaftlichen Auftrag vergessen, findet James Vaccaro, Leiter für strategische Entwicklungen bei der Triodos Bank. Trotzdem glaubt er, dass die Finanzbranche bald wirklich nachhaltig werden könnte. In einem White Paper zeigt er auf, was es dazu braucht.

Artikel in Thema Finanzkrise
Illustration: Claudine Etter
Es ist in der heutigen Zeit nicht gerade einfach, optimistisch zu sein. Der Klimawandel hat sich gerade erst durch eine Reihe von Wetterextremen spürbar gemacht; die Einkommens- und Vermögensschere öffnet sich immer weiter. Das führt dazu, dass sich die Gesellschaft zunehmend spaltet und die Menschen die Verbindung zueinander verlieren. Die Staatsoberhäupter schliesslich bekunden Mühe, langfristige Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft und der Gesellschaft auf ihre nationalen politischen Agenden zu setzen.
Das sind kaum die Voraussetzungen für einen positiven Ausblick, insbesondere was den Finanzsektor anbelangt. Gerade auch, weil seit der äusserst destruktiven globalen Finanzkrise, für die wir immer noch alle die Rechnung bezahlen, kaum ein Jahrzehnt vergangen ist. Manchmal bekommt man aber den Eindruck, dass viele Banken ihre gesellschaftliche Rolle in den vergangenen Jahrzehnten vergessen haben, nämlich Entwicklungen zu finanzieren, die im wahren Interesse der Gesellschaft sind. Es hat den Anschein, als hätten sie sich sozusagen aus der Gesellschaft und der Realwirtschaft zurückgezogen und als lebten sie auf einem anderen Planeten, wo in erster Linie die eigenen finanziellen Interessen und die ihrer Aktionärinnen und Aktionäre zählen.

Ehrgeiziger, aber umsetzbarer Plan

Dennoch gibt es viele gute Gründe, hoffnungsvoll zu sein. Trotz des allgemeinen Malaise könnte sich der Finanzsektor sehr wohl an einem entscheidenden Wendepunkt befinden. Ja, er ist in der Lage, punkto Nachhaltigkeit die Führung zu übernehmen und bei der Bewältigung unserer dringendsten Herausforderungen eine zentrale Rolle zu spielen. Im letzten September hat die Global Alliance for Banking on Values (GABV) zusammen mit den Nicht-Regierungsorganisationen Finance Watch und Mission 2020 und einer Reihe von Vordenkern und führenden Akteuren im Bereich der nachhaltigen Finanzwirtschaft ein White Paper mit einer Reihe von Vorschlägen für einen Wandel des europäischen Finanzsektors veröffentlicht.
Unter dem Titel «New Pathways: Building Blocks for a Sustainable Finance Future in Europe» zeichnet das White Paper einen ehrgeizigen, aber umsetzbaren Plan für den Wandel vor. Es widerspiegelt den kollektiven Willen, den Finanzsektor in Richtung Nachhaltigkeit zu bewegen, ein Wille, der zunehmend auch bei vielen Menschen spürbar ist, die in klassischen Finanzinstitutionen tätig sind. Der Plan ist umsetzbar. Er beruht auf den Erfahrungen, die sozialökologische Banken und andere Anbieter von Finanzdienstleistungen in jahrzehntelanger Pionierarbeit gesammelt haben, und zeigt auf dieser Basis auf, was möglich ist.

Neue gesetzliche Anzreizsysteme

Die zugrunde liegende Idee ist, dass das Finanzwesen einem gesellschaftlichen Zweck dienen soll und nicht nur die klassischen Aufgaben zu erfüllen hat. Das Finanzwesen und die Art, wie es geführt wird, haben einen enormen Einfluss auf die Formen, die Wirtschaft und Gesellschaft annehmen. Es ist ein Mythos, dass die Finanzdienstleister neutral sind.
Politische Entscheidungsträger müssen dies formell anerkennen und eingestehen, dass die Finanzwelt eine entscheidende Rolle für den Erfolg in anderen gesellschaftlichen Bereichen spielt. Sie hat beispielsweise Einfluss darauf, ob eine nachhaltige Wirtschaft entsteht und nachhaltige Arbeitsplätze geschaffen werden können. Sie kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern und einzelnen Menschen und Gemeinschaften angemessenen Wohn- und Lebensraum bereitstellen. Haben die Entscheidungsträger dies einmal verstanden, können sie die Finanzaufsichtsbehörden mit der Aufgabe betrauen, die Finanzdienstleister mittels Anreizen und Strafen dazu zu bewegen, den so dringenden Wandel zur Nachhaltigkeit zu beschleunigen. Dies könnte erreicht werden, indem die Höhe der von Banken verlangten Reserven von der Nachhaltigkeit ihrer Kreditvergabe abhängig gemacht wird. Aufsichtsbehörden sollten grössere Reserven von Banken verlangen, wenn diese offene Kreditforderungen in Sektoren haben, die nicht nachhaltig sind.
Wer dem Wandel positiv gegenübersteht, wird unterstützt, wer sich ihm entgegenstellt, wird lernen müssen, dass finanzielle Stabilität nicht möglich ist, wenn man dem Planeten und der Gesellschaft schadet – und dass dabei Kosten entstehen, die man zu tragen hat. Wir können es uns nicht mehr leisten, dass diese Kosten auf die Bürgerinnen und Bürger abgewälzt werden, wie das nach der globalen Finanzkrise der Fall war.

Nachhaltige Geldanlagen für alle

Es ist nicht so, dass wir eines Tages aufwachen werden und der Finanzsektor ohne unser Zutun nachhaltig geworden ist. Kein System kann sinnvoll transformiert werden, ohne dass sich Menschen dafür einsetzen. Daher ist eine der zentralen Vorschläge des White Papers, die regulatorischen Rahmenbedingungen so anzupassen, dass mehr Menschen nachhaltige finanzielle Entscheidungen treffen und Geld in positive Veränderungen investieren können. Gemäss Studien möchten beispielsweise fünf von sechs Millennials ihr Vermögen nachhaltig anlegen. Aber viele Impact-Investments wie Fonds, die in erneuerbare Energien, nachhaltige Lebensmittel oder sozialverträgliche Unternehmen investieren, sind für die meisten Menschen noch weitgehend unzugänglich.
Wir benötigen in Europa einen gesetzlichen Rahmen für nachhaltige Fonds, die den Menschen ermöglichen, in die Welt zu investieren, die sie sich wünschen. Wenn wir Einzelpersonen mobilisieren, treibt dies den Wandel innerhalb der Finanzinstitutionen voran, und dann führt das zu Innovationen, von denen wir alle profitieren und die uns und zukünftigen Generationen eine annehmbare Lebensqualität sichern.

Einfacher Geschäftssinn

Schliesslich sollten wir daran glauben, vor einem Wendepunkt zu stehen, weil ein nachhaltiges Finanzwesen aus geschäftlicher Sicht einfach sinnvoll ist. Weil Nachhaltigkeit in Zukunft die zentrale Herausforderung in jedem Geschäftsfeld sein wird, könnte die Unterstützung durch gute «nachhaltige Finanzpartner» in den Geschäftsmodellen von morgen ein entscheidender Faktor sein. Gerade deshalb können und sollten Banken der Zukunft noch Geld verdienen.
Da Finanzdienstleister neu neben dem Risiko und der Rendite auch die Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf Gesellschaft und Umwelt berücksichtigen müssen, werden alle Personen, die im Finanzsektor tätig sind, über neue Fähigkeiten und Kompetenzen verfügen müssen. Das ist keine Belastung, es ist eine spannende Chance für neue Generationen von Finanzprofis, die ihre persönlichen Werte besser mit ihrer beruflichen Tätigkeit in Einklang werden bringen können. Das führt dazu, dass die Arbeit erfüllender und gesellschaftlich nützlicher ist.

Wir sind der Wandel

Die Finanzkrise brachte auch eine Krise der Handlungsfähigkeit an den Tag. Viele Menschen fühlten sich angesichts eines riesigen, komplexen und schwer zu ändernden Systems machtlos. Die sechs konkreten Ideen, die wir im White Paper als Bausteine zusammengetragen haben, sind als nützliche Inputs für jene gedacht, die am Thema «nachhaltiges Finanzwesen» arbeiten. Das ist insbesondere eine Expertengruppe, die von der Europäischen Kommission speziell zu diesem Zweck einberufen wurde. Die Ideen sollen alle inspirieren, welche die Dringlichkeit der Sache erkennen und alles in ihrer Macht Stehende tun wollen, um uns näher an einen Wendepunkt zu bringen.
Wie die Gründerin von Mission 2020 und die Architektin der Pariser Klimakonferenz Christiana Figueres gesagt hat: «Die Finanzindustrie ist dafür prädestiniert, die Führung zu übernehmen, und zwar nach dem Motto ‹business as urgent›.» Wenn wir zusammenarbeiten, mit ähnlicher Dringlichkeit, dann ist der Wandel unvermeidlich. Es gibt kein Zurück – und das ist nun wirklich ein Grund für einen vernünftigen Optimismus.

Elf Reformen für eine nachhaltige Finanzbranche

Text: Simon Rindlisbacher

Im White Paper «New Pathways: Building Blocks for a Sustainable Finance Future in Europe» schlagen die drei Organisationen Global Alliance for Banking on Values, Finance Watch und Mission 2020 elf Reformen vor, um die Finanzbranche in Europa nachhaltiger zu gestalten. Das Paper richtet sich an Finanzinstitute, Aufsichtsbehörden und politische Entscheidungsträgerinnen und -träger.
Konkret zielen die Reformen darauf ab, dass sich die Finanzbranche an den Bedürfnissen der Gesellschaft ausrichtet. Die einzelnen Finanzinstitute sollen ihr Geschäftsmodell auf Nachhaltigkeit ausrichten und Entwicklungen finanzieren, die im Interesse der Gesellschaft sind. Die Gesetzgebung in Europa soll so angepasst werden, dass die Finanzbranche bei ihrer Geschäftstätigkeit berücksichtigen muss, welche Auswirkungen sie auf Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft hat. Weiter sollen die Reformen dazu führen, dass die Bankmonokultur durchbrochen wird und ein vielfältiges System aus Finanzinstituten entstehen kann, die auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind und zusammenarbeiten.
Zudem soll es möglich werden, dass einzelne Bürgerinnen und Bürger ihr Geld möglichst direkt in Unternehmen und Projekte investieren können, die eine positive Veränderung bewirken.
Damit das Finanzsystem besser in Richtung Nachhaltigkeit gesteuert werden kann, sollen schliesslich verbindliche Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung der Finanzakteure geschaffen und eingeführt werden.
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