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18.09.2019 von Olivier Ferrari

Aktiv werden statt desinvestieren

Die Divestment-Bewegung wird weltweit immer stärker. Doch nicht alle Expertinnen und Experten für nachhaltige Finanzen halten es für zielführend, Investitionen aus fossilen Energieunternehmen abzuziehen. Ihrer Meinung nach ist es wirkungsvoller, wenn Aktionärinnen und Aktionäre Druck auf Unternehmen ausüben und sie so zu einer Umstellung bewegen.

Artikel in Thema Netto Null
Artikel 2 des Pariser Klimaabkommens sieht vor, dass die globalen Finanzflüsse mit den Klimaschutzzielen in Einklang gebracht werden. Eine inzwischen weltweite Bewegung möchte dieses Ziel erreichen, indem Unternehmen, die im Bereich der fossilen Energien tätig sind, Kapital entzogen wird, indem also desinvestiert wird (siehe auch «Klimastreik verleiht Divestment neuen Schub»). Dabei konsumieren wir diese Energien in den letzten Jahren geradezu zwanghaft: 2016 betrug die weltweite Kohleproduktion 3,5 Milliarden Tonnen; 2017 wurden 15,486 Milliarden Liter Erdöl gefördert; 2015 wurden 3,469 Milliarden Kubikmeter Erdgas produziert. Heizöl, Diesel (als Kraftstoff für den öffentlichen und privaten Verkehr, Flugzeuge, Bau- und Landwirtschaftsmaschinen, Schiffe usw.), Lösungsmittel, Kosmetika, Textilien (Nylon, Polyester usw.), Reinigungsmittel, Gummi, Klebstoffe, Medikamente, Dünger, Pestizide, Bitumen – Produkte aus fossilen Rohstoffen sind Teil unseres Alltags.
Jede Nutzung der fossilen Energieträger, sei es als Brennstoff oder zu Produkten verarbeitet, schadet der Umwelt, weil dadurch letztlich CO2 freigesetzt wird. Welchen Unternehmen soll man folglich das Kapital entziehen? Jenen, die fossile Rohstoffe fördern, jenen, die sie verarbeiten, oder jenen, die sie nutzen? Stellen die betroffenen Unternehmen deshalb ihren Betrieb ein? Nein, das tun sie nicht. Desinvestieren ist daher, als würde man den Dreck unter den Teppich kehren.

Es braucht einen Paradigmenwechsel
Wenn verantwortungsbewusste Investoren wie beispielsweise Pensionskassen ihre Gelder abziehen, lässt sich unmöglich sagen, in welchen Händen die frei gewordenen Aktien landen. In Bezug auf das Ziel, die Klimaerwärmung aufzuhalten, ist eine Desinvestition somit wirkungslos. Die Ursachen des Klimawandels, zum Beispiel die auf Kurzsichtigkeit beruhenden Geschäftsmodelle von Unternehmen, müssen angegangen werden. Wie?

«Aktionärinnen und Aktionäre müssen sich Gehör verschaffen – auch wenn sie nur 0,2 Prozent des Aktienkapitals besitzen.»


Indem sich Aktionärinnen und Aktionäre, die für soziale und ökologische Aspekte eintreten, an Generalversammlungen teilnehmen, sich Gehör verschaffen und Fragen stellen – auch wenn sie nur 0,2 Prozent des Aktienkapitals besitzen. Weitere Aktionärinnen und Aktionäre sollten für die Sache gewonnen und davon überzeugt werden, das Geschäftsmodell des Unternehmens, an dem sie beteiligt sind, zu transformieren sowie ausreichend Mittel für den ökologischen und ökonomischen Wandel bereitzustellen. Dieser Schritt erfordert zwar Überzeugungskraft und Mut, doch er ist notwendig, wenn man mehr tun möchte, als nur sein Gewissen zu beruhigen.

Als Beispiel sei der Erdölkonzern Total genannt, auf dessen Website Folgendes zu lesen ist: «Bis in 20 Jahren streben wir einen Anteil von CO2-armen Geschäftsfeldern an unserem Portfolio von rund 20 Prozent an. Wir engagieren uns bereits jetzt stark für die Entwicklung der erneuerbaren Energien, insbesondere der Solarenergie.» Das ist lächerlich! 20 Prozent in 20 Jahren? Die Aktionärinnen und Aktionäre von Total sollten den Mut haben, jetzt dafür zu stimmen, dass das Wachstum im Bereich fossile Energien eingefroren und die Suche nach weiteren Vorkommen eingestellt wird. Stattdessen sollte das Unternehmen Mittel für die umfangreiche Weiterentwicklung der erneuerbaren Energien bereitstellen. Das Ziel sollte sein, 2050 oder sogar früher vollständig aus den fossilen Energien auszusteigen.

Die Debatte über die Dringlichkeit von Klimaschutzmassnahmen muss die Unternehmen zu einer Umstellung bewegen – und zwar, indem Aktionärinnen und Aktionäre ihre Verantwortung wahrnehmen; denn nur ein Rückzug von Investitionen wird die Unternehmen nicht zum Umdenken bringen. Zugleich ist es notwendig, konsequent in neue und nicht börsenkotierte Unternehmen zu investieren, die im Bereich von umweltfreundlichen Technologien tätig sind.
Olivier Ferrari ist seit 37 Jahren Finanzexperte. Er war Mitbegründer von Coninco Explorers in finance im Jahr 1990 und von One Creation Coopérative im Jahr 2010. Seit 2006 ist er auf Anlagen mit Auswirkung auf die Umwelt spezialisiert und konzentriert sein Engagement auf die Realwirtschaft. In den Medien äussert er sich zu unterschiedlichen Themen, insbesondere zum Verhältnis zwischen sozialer Sicherheit und Realwirtschaft. Er hat mehrere Bücher herausgegeben, unter anderen «La nouvelle révolution économique» im Verlag Economica.
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