Problematisch hoher Eigenanteil
Diese Zugangshürden haben Folgen. Der Sozialwissenschaftler Stéphane Cullati und sein niederländischer Kollege Adrien Remund belegten 2019, dass sie zu deutlichen Unterschieden in der Lebenserwartung führen. Hochschulabsolventen leben länger als Personen mit Grundbildung – besonders Männer. Für die beiden Forscher ist klar: Der hohe Eigenanteil an den Gesundheitskosten zwingt Menschen mit niedriger Schulbildung in der Schweiz doppelt so oft dazu, auf Arzttermine zu verzichten, wie Personen mit Sekundar- oder Tertiärausbildung. Dass der grosse Eigenanteil ein Problem ist, zeigen auch Medienberichte aus dem vergangenen Jahr. So schreibt die «WOZ» in einem Artikel, in dem auch betroffene Personen zu Wort kommen: «Um zu sparen, wählen Menschen mit wenig Geld die höchste Franchise. Wenn sie dann zum Arzt oder zur Ärztin müssen, tragen sie die Kosten der Behandlung selbst. Deshalb zögern sie die Behandlung hinaus – auch wenn sie nötig wäre.»
Zusätzliche Ungleichheiten beim Zugang entstehen durch halbprivate und private Spitalzusatzversicherungen. Diese leisten sich laut einem Obsan-Bulletin von 2021 in erster Linie Menschen mit höherem Bildungsniveau und Einkommen. Sie landen dann zwar nicht häufiger im Spital als Allgemeinversicherte, suchen aber öfter eine Ärztin oder einen Arzt auf, insbesondere Spezialistinnen und Spezialisten. Eine Studie des BAG zeigt zudem, dass (halb-)privat Versicherte auch öfter operiert werden – etwa bei orthopädischen Eingriffen. Das Obsan-Bulletin und die BAG-Studie legen nahe, dass Zusatzversicherungen nicht automatisch bessere medizinische Versorgung bedeuten, wohl aber schnelleren Zugang und möglicherweise unnötige Eingriffe.
Zugangsbarrieren abbauen
Die Schweiz erhält gute Noten für ihr Gesundheitssystem, sowohl in Umfragen bei der Bevölkerung als auch im internationalen Vergleich. Es zeigt sich aber: Selbst in einem guten System variieren die Chancen auf Behandlung stark. Oder wie es Cullati und Remund formulieren: «Der gesundheitliche Fortschritt in der Schweiz ist ungleich verteilt.» Laut Obsan wurden bereits verschiedene Angebote geschaffen, um das Gesundheitssystem zugänglicher für armutsbetroffene Menschen zu machen. Dennoch könne die Zusammenarbeit zwischen Gesundheits- und Sozialwesen verbessert werden. Idealerweise wird auch das Gesundheitspersonal besser für den Umgang mit sozialen Bedürfnissen geschult. Eine Studie der Berner Fachhochschule und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften empfiehlt, Zugangshürden abzubauen – etwa bei der Finanzierung von Arzt- und Zahnarztbesuchen sowie durch mehr Gesundheitskompetenz, niedrigere soziokulturelle Barrieren und Sprachförderung. Dabei gibt es gemäss der Studie eine besonders wichtige Zielgruppe: ältere Menschen, die Sozialhilfe beziehen.