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07.06.2023 von Esther Banz

Das Geld immer nah am Körper

In der Schweiz muss die Grundversorgung im Zahlungsverkehr gewährleistet sein – «im ganzen Land». Trotzdem ist rund ein Prozent der Bevölkerung von grundlegenden Rechten und Dienstleistungen, wie sie Banken und die Post anbieten, ausgeschlossen.

Artikel in Thema Finanzielle Inklusion
Illustration: Claudine Etter

Schwarz auf weiss steht es auf einer Internetseite der Schweizerischen Eidgenossenschaft: Wer in der Schweiz lebt, hat Anrecht auf grundlegende Finanzdienst­leistungen. «Grundversorgung beim Zahlungsverkehr» nennt sich das. Dieses zwingende Angebot umfasst das Eröffnen und Führen eines eigenen Zahlungsverkehrskontos, das Überweisen von Geld vom eigenen Konto auf jenes einer dritten Person, Bareinzahlungen aufs eigene Konto und Bargeldbezug von ebendiesem. Ganz abgesehen davon, dass man natürlich auch die Möglichkeit haben muss, Bargeld auf das Konto einer anderen Person einzubezahlen. Alle diese Dienstleistungen müssen in der Schweiz an einem Ort getätigt werden können, der innert maximal dreissig Minuten zu Fuss oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel erreichbar ist. Der Bund hat diesen Grundversorgungsauftrag der Post mit ihrer Postfinance übertragen und überprüft jährlich, ob sie ihn auch erfüllt. Im Blick ist dabei beispielsweise auch das Online-Banking der Postfinance, es muss barrierefrei sein – sprich: Menschen mit einer Behinderung müssen es genauso nutzen können wie alle andern. 
Wobei «alle» in Bezug auf die Grundversorgung eben nicht ganz zutrifft. Es gibt Ausnahmen, die in den Grundversorgungserklärungen nicht explizit erwähnt sind: Etwa ein Prozent der Schweizer Bevölkerung hat kein Recht auf ein Konto. Mitbetroffen sind Kinder.


Mehr als 76 000 Menschen ohne gültige Papiere

Monica Gonzales ist eine der Erwachsenen hierzulande, die zwar hart arbeiten und Geld verdienen, sich dieses aber nicht auf ein Post- oder Bankkonto einzahlen lassen können – weil sie keines haben dürfen. Sie verrät ihren richtigen Namen besser nicht, denn sie hat in der Schweiz keinen legalen Aufenthaltsstatus. An einem Tag im April erscheint die schnell und präzise sprechende Frau im Büro der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich (SPAZ) im Gebäude der Genossenschaft Kalkbreite. Den ersten Verabredungstermin musste sie ab­sagen, weil ihr Arbeitseinsatz kurzfristig verschoben worden war. Gonzales kann es sich nicht leisten, einer Auftraggeberin gegenüber kompliziert zu tun. Sie arbeitet, wie die meisten Sans-Papiers-Frauen aus Lateinamerika, als Reinigungskraft und Kinderbetreuerin. Wie viele sie sind, weiss niemand genau. Der Bund schätzt die Zahl aller Sans-Papiers in der Schweiz in einem Bericht aus dem Jahr 2018 auf etwa 76 000; die Sans-Papiers-Organisationen gehen von deutlich mehr Menschen aus. Menschen, die hier zum Teil seit vielen Jahren arbeiten, sich aber verstecken müssen und kaum eine Perspektive haben, ihren Status in absehbarer Zeit legalisieren zu können. Obwohl sie gebraucht werden und zum Wohlstand im Land beitragen. 


Keine Aufenthaltsbewilligung, kein Bankkonto

Die Südamerikanerin kam kurz vor der Corona-Zeit in die Schweiz. Sie wohnte damals bei Leuten, für die sie auch arbeitete. Ihren Lohn sah sie nie – das Geld liess Gonzales direkt in ihr Heimatland überweisen, zu ihrer Familie. Obwohl sie als erwachsene Frau somit komplett abhängig und bevormundet war, fühlte sie sich gut und dankbar: «Ich hatte ein Zimmer und zu essen, ich war meistens zu Hause, und meine Arbeitgeber ermöglichten mir einen Einstieg ins Land, erklärten mir vieles. Ich war auch froh, an einem Ort zu sein, wo sauberes Wasser fliesst und das Licht brennt, wenn man es braucht. Ich fühlte mich aufgehoben.» Auch hätten ihre Arbeitgeber das Geld tatsächlich korrekt überwiesen.
Nach einem Jahr war das Arbeitsverhältnis zu Ende. Gonzales musste etwas Neues finden, sowohl zum Arbeiten als auch zum Wohnen. Sie realisierte erst da richtig, was es bedeutet, keine Arbeitsbewilligung, ja überhaupt keinen geregelten Aufenthaltsstatus zu haben oder in absehbarer Zeit erlangen zu können. Zum Beispiel, dass sie kein Bankkonto eröffnen kann: «Ich wunderte mich. Warum soll das nicht gehen? Ich verdiene ja Geld, das muss ich doch an einen Ort hinbringen und sicher aufbewahren können.» Erst als sie verstanden habe, dass es für jemanden wie sie keine Möglichkeit gebe, legal hier zu leben und zu arbeiten, sei ihr auch klar geworden: Sie würde nie eine offizielle Adresse haben können. Und somit auch kein Bankkonto und keine Möglichkeit, selber eine Wohnung oder ein Zimmer zu mieten. «Ich breche ja in einem wichtigen Bereich das Gesetz, rein durch meine Anwesenheit hier. Ich bin deshalb total ausgeschlossen.» 
Einmal war sie an einem Treffen mit anderen Sans-Papiers. «Ich hatte das Geld für die Zimmermiete der kommenden Wochen bei mir – viel Geld.» Am Ende des Treffens musste sie schnell weiter, um rechtzeitig zu ihrer Arbeit zu kommen. Erst unterwegs realisierte sie, dass sie ihre Handtasche mit dem ganzen Geld darin vergessen hatte. «Das war ein Schock! Zum Glück nahm niemand die Tasche an sich, aber zwei Frauen untersuchten sie, um herauszufinden, wem sie gehört. Ich musste mich dann für das Geld rechtfertigen.» Diesen Stress, ihr verdientes Geld zu verlieren, habe sie jeden Tag, eigentlich pausenlos, sagt Gonzales: «Weil ich alles, was ich verdiene, stets auf mir trage. Es gibt keinen Platz, wo ich es sicher deponieren kann. Auch nicht in meinem Zimmer, denn das kann ich nicht abschliessen.» Zudem könne es jeden Moment passieren, dass sie von der Polizei kontrolliert und festgenommen werde. «Ich könnte dann nicht mehr zurück, um meine Sachen zu holen.»


« Die Dienstleistungen des Zahlungsverkehrs, das heisst Einzahlungen, Auszahlungen und Überweisungen, müssen für alle Bevölkerungsgruppen in allen Landesgegenden in angemessener Weise zugänglich sein. »

Bundesamt für Kommunikation (Bakom)


Dem Unrecht ausgeliefert
Monica Gonzales bevorzugt es, sich nicht zu wehren, wenn ihr Unrecht geschieht – wegen der Gefahr, verraten zu werden. Sagt ihr jemand kurzfristig den Arbeitseinsatz ab, sodass sie auf den Lohn verzichten muss, mit dem sie gerechnet hat, um Miete und Essen zu bezahlen: Pech gehabt. Oder die Arbeitgeberin vergisst, Bargeld abzuheben und ihr hinzulegen, sodass sie ihren Lohn erst zwei Wochen später entgegennehmen kann. Gonzales sagt dann – zu sich und zur Arbeitgeberin: «Kein Problem, nächstes Mal!», und lächelt. Behauptet jemand, er bezahle die AHV ein – dieses Grundrecht muss auch in der Schweiz eingehalten werden, zusammen mit dem Zugang zur Krankenkasse –, und Gonzales erfährt erst durch einen Anruf bei der SVA ein Jahr später, dass dem nie so war: Pech gehabt und positiv bleiben. Von anderen weiss sie, dass sie auch schon um ihren Lohn betrogen wurden. Immerhin ist ihr das noch nie passiert.


Arbeitsleistung, ja – Leben in Würde, nein

Bea Schwager, Leiterin der Sans-Papiers-Anlaufstelle SPAZ in Zürich, engagiert sich seit Jahrzehnten für hier arbeitende Menschen, die keine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Vor zwei Jahren hat die Stadt Zürich die Anlaufstelle mit dem Gleichstellungspreis ausgezeichnet. Das Online-Magazin «Republik» zitierte damals aus der Laudatio von alt Bundesrätin Ruth Dreifuss: «Es verstösst gegen die Menschenrechte, die Arbeit der Menschen anzunehmen und sie rechtlos zu belassen.» Es ist auch nicht aufrichtig, denn der Bedarf an dieser Arbeitsleistung ist gross. Ganz offensichtlich gibt es in den Arbeitsbereichen, in denen Sans-Papiers am häufigsten arbeiten (putzen und Kinder betreuen), einen Fachkräftemangel. Dadurch, dass keine ausser den Grundrechten zugestanden werden, bleiben sie in jeder Hinsicht vulnerabel, ihr Lohn und ihre ganzen Arbeitsbedingungen sind mehrheitlich prekär, oft werden sie ausgenutzt. Ein Leben in Würde sieht anders aus.
Monica Gonzales träumt jeden Tag davon, ganz normal hier leben und arbeiten zu können – ohne die ständige Angst, mit der sie jetzt lebt: «Ich müsste mich nicht mehr verstecken und wäre nicht mehr ständig von anderen abhängig.» Sie bestätigt, was bereits im 2010 erschienenen Bericht der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM) beschrieben war: Ihr war beim Herkommen – wie wohl den meisten – nicht bewusst, dass sie ihren Aufenthalt hier nicht würde legalisieren können. Und sie hatte keine Ahnung, was es bedeutet, ohne Bewilligung hier zu leben. Aber zurück ins Herkunftsland zu gehen, ist keine Alternative. Die kleine Perspektive, die sie hier hat, ist immer noch grösser als jene dort. Und ihre Arbeit ist hier ja gefragt. 


Hoffnungsschimmer City Card?

Monica Gonzales lebt in Zürich. Hoffnung macht ihr jetzt die Züri City Card, die eine Mehrheit der Stadtzürcher Stimmberechtigten einführen will. Mit der städtischen Identitätskarte könnten sich alle, die in der Stadt wohnen, ausweisen – unabhängig von ihrem aktuellen Aufenthaltsstatus –, und dies auch gegenüber der Polizei. Wird eine City Card künftig beim Eröffnen eines Bankkontos helfen? Die Alternative Bank Schweiz und die Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich liessen diese Frage bereits von der Finma prüfen, als die City Card den Rückhalt des Zürcher Stadtrats und der Stimmberechtigten noch nicht hatte – mit negativem Ergebnis (siehe Kommentar der Bank). Es braucht wohl weitere politische Vorstösse, damit eine solche «ID» (es gibt in weiteren Schweizer Städten City-Card-Initiativen) künftig auch der finanziellen Inklusion dient. Was für ein Armutszeugnis für ein Land, wenn Menschen, die zum guten Funktionieren seiner Wirtschaft und Gesellschaft beitragen, jeden Tag Angst haben müssen. 


Bücher zum Thema

«Von der Kraft des Durch­haltens – Sans-Papiers erzählen ihre Wirklichkeit.» Heraus­gegeben von den Sans-Papiers-Kollektiven Basel, der Anlaufstelle für Sans-papiers Basel und der Anny-Klawa-Morf-Stiftung.Verlag Edition 8. 2023. 

«Die Unsichtbaren – Sans-Papiers inder Schweiz». Tanja Polli und Ursula Markus. Rotpunktverlag. 2021.


Kommentar der ABS

Ohne Legalisierung geht es nicht

Soziale Integration ist einer von neun Förderbereichen der Alternativen Bank Schweiz (ABS). Immer wieder setzt sich die Bank mit der Frage auseinander, wie sie sich über die Vergabe von Krediten an soziale Organisationen hinaus für dieses Anliegen engagieren kann. Bereits 2016 klärte sie gemeinsam mit der Sans-Papiers-­Anlaufstelle Zürich (SPAZ) ab, ob es eine legale Möglichkeit gibt, Sans-Papiers Zugang zu grundlegenden Bankdienstleistungen zu ermöglichen. Das Fazit: Ohne Legalisierung des Aufenthaltsstatus und somit Zugang zu korrekt versteuertem Einkommen gibt es beträchtliche Hürden und Risiken.
So ist es ohne Identitätskarte für eine Bank unmöglich, ein Konto zu eröffnen. Diese Anforderung könnten Sans-Papiers in Zürich dank der City Card bald er­füllen (vgl. Hauptartikel). Das Problem: Die «Vereinbarung über die Standesregeln zur Sorgfaltspflicht der Banken» verpflichtet Banken zwar nicht dazu, den Aufen­thaltsstatus einer Person zu überprüfen – wohl aber, deren Nationalität festzustellen. Darüber gibt die City Card bewusst keine Auskunft, sodass die ABS trotzdem zusätzliche Dokumente ein­fordern müsste. 
Eine weitere Hürde ist, dass der illegale Aufenthaltsstatus Sans-Papiers unvermeidlich in die Schwarzarbeit drängt. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der ABS verpflichten ihre Kundschaft zur Steuerehrlichkeit. Zwar ist dies bei allen Kundinnen und Kunden eine Selbstverpflichtung, welche die Bank nicht kontrollieren kann. Bei Sans-Papiers besteht jedoch eine grundsätzliche Unmöglichkeit, dieser Anforderung gerecht zu werden.
Neben diesen Hürden gibt es ein ernst­haftes Risiko für Sans-Papiers mit einem Konto und damit auch für die ABS: Aufgrund ihrer prekären Situation ist zu erwarten, dass Sans-Papiers leichter Opfer von «Money Muling» werden, einer Form von Geldwäscherei. Dabei würden sie ihr Konto Kriminellen für Durch­lauftrans­aktionen zur Verfügung stellen. Als Gegenleistung könnten sie einen Teil der transferierten Summe zurückbehalten. Oft sind sich Menschen, die ihre Konten für solche Transaktionen zur Verfügung stellen, gar nicht bewusst, dass sie etwas Illegales tun. Dennoch müsste die ABS Meldung an die Geldwäschereifachstelle machen, die ihrerseits anschliessend die Strafverfolgungsbehörden einschalten müsste. In diesem Sinne ist fraglich, ob ein Bank­konto allein für Sans-Papiers Fluch oder Segen wäre. 

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