591
16.06.2021 von Esther Banz

«Wir sind Nützlinge! »

Monika Litscher leitet den Verein Fussverkehr Schweiz. Ihr Ziel: ein öffentlicher Raum, in dem die Menschen im Zentrum stehen.

Artikel in Thema Porträts
Foto: zvg
moneta: Monika Litscher, für alle Verkehrsmittel gibt es eine Lobby, nur die zu  Fuss Gehenden und ihre Interessen sind kaum wahrnehmbar in den öffentlichen Debatten. Warum?
Monika Litscher: Das stimmt, und es ist paradox, denn wir sind ja ausnahmslos alle auch Fussgängerinnen und Fussgänger. Zu Fuss gehen ist die natürlichste Form, sich fortzubewegen. Auch die Wege zum Auto oder zum Velo, in die Gartenbeiz oder zur Bushaltestelle sind Fusswege.
Warum werden Fussgängerinnen und Fussgänger also nicht mehr gehört? 
Ein wichtiger Grund ist, dass sich nur wenige Menschen primär als zu Fuss Gehende verstehen und Gehen als Fortbewegungsmittel so normal ist. Viele denken: Warum sich für etwas einsetzen, das so selbstverständlich ist? Dabei ist es das gar nicht.
Wie meinen Sie das?
Salopp gesagt: Der Staat war in den letzten 100 Jahren nicht darum besorgt, unsere Strassen fussgängerfreundlich zu machen. Ein zweiter wichtiger Punkt ist: Es gibt keine Fussgänger-Mobilitätsprodukte und deshalb keine Industrie, die ein Geschäft machen will.
Mit dem Gehen lässt sich also nichts verdienen?
Oh doch, und ob! Das ist das nächste Paradox: Jeder Meter, den Menschen zu Fuss zurücklegen, generiert einen öffentlichen Wert, einen sozialen und volkswirtschaft­lichen Nutzen. Allein der Gesundheits­nutzen durchs Zufussgehen lag 2017 bei 907 Millionen Franken. Eigentlich müssten alle, die zu Fuss gehen, dafür Geld ver­langen. Ausserdem verursachen wir kaum Kosten. Kurz: Wir Fussgängerinnen und Fussgänger sind sozusagen Nützlinge!
Wie schaffe ich denn mittels einfachen Gehens einen monetären Wert?
Es ist ganz einfach: Die Dichte an Portemonnaies ist in Fussgängerzonen viel höher als in einer Innenstadt voller Autos. Zu Fuss Gehende bringen mehr Profit als Autofahrende, das ist aus Erhebungen in vielen Städten bekannt.
Fussverkehr Schweiz berät die öffentliche Hand bei Planungsfragen rund ums Zufussgehen. Was ist für Menschen, die zu Fuss unterwegs sind, eine gute Umwelt?
Das Netz an Möglichkeiten, sich zu bewegen, sollte möglichst engmaschig, angenehm, direkt, hindernisfrei und sicher sein. Das macht das Gehen attraktiv. Dafür braucht es gute Planungsgrundlagen – die letzten rund 100 Jahre ist vor allem fürs Auto und ums Auto herum geplant worden. Unser Ansatz ist es, für Menschen zu planen, nicht für Maschinen.
Also: den Fussgängerinnen und Fussgängern den Raum zurückgeben?
Ja, das passiert beispielsweise im kommenden Sommer in mehreren Quartieren in Zürich, wo temporär einzelne Strassen für den Verkehr gesperrt werden. Bei unseren Projekten versuchen wir, die Menschen vor Ort einzubeziehen. Wir sagen ihnen: Das ist euer Strassenraum, ihr dürft ihn euch wieder aneignen, eine Sitzbank aufstellen, spielen! Interessant ist, dass viele dabei Hemmungen überwinden müssen. Diese Wiederaneignung geht gegen unsere Er­ziehung – seit frühster Kindheit haben wir gelernt, auf der Strasse aufzupassen. Zu Fuss Gehende wurden im Verkehr immer als die Schwächsten gesehen und auch so behandelt. Dabei ist ein Mensch, der zu Fuss unterwegs ist, nur dann verletzlich, unsicher und schwach, wenn er dazu gemacht wird.
Wie sieht die perfekte Stadt aus Sicht des Fussverkehrs aus?
Die Menschen stehen im Zentrum und sind willkommen. Viel mehr Menschen sind zu Fuss als im Auto unterwegs. Zu Fuss zu gehen, ist eben immer mehr, als von A nach B zu gehen. Es hat in sich bereits eine Qualität, für einen selber – denn man tut sich mehrfach Gutes und tritt mit andern in Kontakt –, aber auch für die Umwelt hat diese Mobilitätsform nur Vorteile. Man nimmt niemandem Platz weg und gefährdet niemanden. Zu Fuss gehen ist Ausdruck einer anderen Grundhaltung: eine Absage an die rein effizienzorientierte Fortbewegung. Es ist mehr als blosse Mobilität.
Wie gelangen wir dahin? 
Zuallererst müssen wir verstehen und anerkennen, dass Strassen öffentliche Räume und somit Lebensräume sind.

Über Monika Litscher

Monika Litscher leitet seit 2019 die Geschäfts­stelle des gemeinnützigen Vereins Fussverkehr Schweiz. Die Kulturwissenschaftlerin, ­Ethnologin und Stadtforscherin möchte die vielen Vor­teile des Zufussgehens vermehrt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung rücken. ­Zuvor leitete sie an verschiedenen Hochschulen und Universitäten Forschungs- und Auftragsarbeiten in den Themenbereichen Stadtkultur und öffentliche Räume. Sie lebt in Zürich.
Artikel ausdrucken
Verwandte Artikel

Die Rückeroberung des öffentlichen Raums

Mehrere europäische Stadtregierungen verfolgen ambitionierte Pläne, um ihre (Innen)Städte vom Autoverkehr zu befreien. Zum Beispiel Paris, Gent oder Barcelona. Wie gehen sie dabei vor?
16.06.2021 von Katharina Wehrli
Artikel nur online

Die Stadt neu gestalten –  klimaneutral

Lausanne hat einen ehrgeizigen Klimaplan vorgelegt: Bis 2030 sollen benzin- und ­dieselbetriebene Autos aus der Stadt verbannt und der motorisierte Individualverkehr ­halbiert werden. Kann die Waadtländer Hauptstadt das schaffen? Der Wille ist da, ­doch die Herausforderungen sind riesig.
16.06.2021 von Muriel Raemy