In touristischen Berggemeinden fehlen zunehmend Wohnungen für Familien und Menschen, die dort arbeiten. Betroffen ist auch Pontresina GR. Eine neue Steuer für die «Zweitheimischen» soll das Dorfleben erhalten. Gemeindepräsidentin Nora Saratz Cazin erklärt.
moneta: Nora Saratz Cazin, holen Sie uns nach Pontresina: Was ist das für ein Ort?
Nora Saratz Cazin: Pontresina ist eine lebendige, sonnige Gemeinde in den Bündner Alpen. Anders als in neueren Alpen-Resorts, leben hier Einheimische mit ihren Familien – teilweise seit vielen Generationen. Die Einheimischen sind fröhliche und gastfreundliche Menschen. Der Tourismus hat eine lange Tradition: Die älteste Gästeunterkunft datiert aus dem 17. Jahrhundert. Damals bot man Betten an für jene, die an der Via Valtellina zwischen Italien und der Schweiz Handel trieben.
Ist Pontresina noch immer so gastfreundlich?
Ja! Wir haben etwa 2400 Hotelbetten, rund 230 bewirtschaftete Ferienwohnungen sowie privat genutzte Zweitwohnungen und einen Campingplatz. Demgegenüber leben rund 2100 Personen fest in Pontresina. Nur noch 42 Prozent der Wohnungen werden als Erstwohnungen genutzt. Der Bau von Zweitwohnungen ging in den 1960er-, 1970er-Jahren richtig los. Wir Einheimischen haben davon übrigens sehr profitiert. Erst jetzt merkt man, dass der eigene Erfolg zum Nachteil wird.
Das seit acht Jahren gültige Zweitwohnungsgesetz wurde so ausgestaltet, dass Wohnraum, der bereits vor der Annahme der Initiative (2012) bestand, zu Zweitwohnungen umgenutzt werden durfte. Erhöhte das den Druck?
Oh ja! Unser altes System funktioniert nicht mehr. Im Engadin hatte jede Gemeinde ein Gesetz, mit dem sie die Schaffung von Erstwohnraum förderte. Das Zweitwohnungsgesetz des Bundes löste diese Regelungen ab. Das hat dazu geführt, dass eine grosse Nachfrage nach altrechtlichen Wohnungen besteht und seit 2012 kaum mehr Erstwohnungen gebaut wurden.
Das war nicht das Ziel der Zweitwohnungsinitiative.
Ursprünglich hatte die Initiative zwei Ziele: die Reduktion der Zweitwohnungen und den Stopp der Zersiedelung. Wohl um das Ziel des Stopps der Zersiedelung durchsetzen zu können, sind die Initianten – ob im Bewusstsein der Konsequenzen oder nicht – den bürgerlichen Parteien entgegengekommen, indem sie einen Kompromiss betreffend den Altbestand eingegangen sind. Dadurch nahm der Druck auf den Altbestand stark zu und hat zu mehr Zweitwohnungen geführt.
Was passiert, wenn in einer Gemeinde bezahlbare Wohnungen fehlen?
Dann ziehen vor allem Familien mit Kindern weg. Bei uns sind von den 269 Kindern, die zwischen 2010 und 2022 geboren wurden, bereits 50 nicht mehr da. Das hat nicht nur mit der Wohnsituation zu tun, aber wer bei Zuwachs mehr Platz braucht, findet nichts Bezahlbares. Manchmal werden bestehende Mietverhältnisse aufgekündigt, um die Wohnung zu verkaufen oder an Feriengäste zu vermieten.
Sind auch ältere Menschen betroffen?
Ja, und es dünkt mich schade, wenn jemand hier verwurzelt ist, lange Steuern bezahlt hat und dann im Alter wegziehen muss.
Apropos Steuern: Sie setzen nun auf eine Zweitwohnungssteuer, um Erstwohnungen zu sichern. Ist das die beste Lösung?
Das wissen wir noch nicht. Wir suchen nach Möglichkeiten, die Vermietung an Einheimische wieder attraktiver zu machen. Und wir wollen die von uns gegründete Stiftung zum Erstellen und Erhalt von Erstwohnraum finanzieren. Die Zweitwohnungssteuer soll dereinst auf jede Wohnung geschuldet sein, die als Zweitwohnung genutzt wird, egal, wer der Eigentümer ist, ob Einheimische oder Zweitheimische.
Sie beziehen in Ihrem Prozess auch diese «Zweitheimischen» in die Lösungsfindung ein, fragen nach weiteren Vorschlägen – wie sind die Reaktionen?
Wir wollen eine offene Diskussion und haben über 700 Mitwirkungseingaben erhalten! Es ist inzwischen vielen bewusst, dass es eine gegenseitige Abhängigkeit gibt. Der Wert der Zweitwohnungen hängt ja direkt zusammen mit dem Angebot, das wir haben, mit den Dienstleistungen – und mit den Menschen, die diese erbringen.
Steuern sind bekanntlich nicht besonders populär. Ihnen scheint aber das Kunststück zu gelingen, mit einem Steuervorhaben breite Kreise für die drängenden Probleme einer attraktiven Berggemeinde zu sensibilisieren, auch im Unterland…
Ich hoffe es! Es geht uns darum, das Bewusstsein zu schärfen für diese Entwicklung, die das Leben in einer Gemeinde zum Kippen bringen kann.
Esther Banz ist freischaffende Journalistin.
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