Im reichen Zürich befinden sich die Büros des Steueramtes in einem Hochhaus. Allerdings irrt, wer denkt, seine Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter hätten die beste Aussicht, thronten über anderen Dienstabteilungen der Stadt und vor allem über denen, die für die (finanziell) Benachteiligten zuständig sind. Es ist genau umgekehrt: Das Sozialdepartement arbeitet in den oberen Etagen des Verwaltungszentrums Werd, das Finanzdepartement in den unteren. Im Erdgeschoss kommen aber bisweilen jene, die mit beiden Abteilungen zu tun haben, zusammen: Männer, die sich schwertun mit dem Ausfüllen der Steuererklärung, und Frauen in finanzieller Notlage. Sie erhalten an den hiesigen Schaltern Rat und wenn nötig Unterstützung. Der wochentags für alle zugängliche Kundendienst ist überwacht und gesichert. Das sei früher nicht so gewesen, «da klopften die Leute an und traten dann einfach ein», erklärt der Direktor des Steueramtes, Bruno Fässler, auf einem Rundgang, «bis es vermehrt zu Vorfällen mit Leuten kam, die übergriffig und ausfällig wurden». Der Rechtsanwalt arbeitet seit dreissig Jahren im Steueramt der Stadt Zürich. Seit 2012 ist er Direktor der Dienstabteilung und steht rund 250 Mitarbeitenden vor, die die Hunderttausenden von jährlichen Steuererklärungen bearbeiten. Die meisten von ihnen machen das an zwei bis drei Tagen von zu Hause aus – kein Problem, wo längst alles digital hereinkommt oder im eigenen Scan-Zentrum eingelesen, registriert und indexiert wird. Die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter erhalten automatisiert Dossierzuweisungen – und fangen dann mit der Arbeit an. Sie haben Produktivitätsvorgaben: Im Jahr schätzt jede und jeder rund 2500 Dossiers ein. Ausserdem müssen auch das Steuerregister geführt und die Steuern bezogen werden. Im Homeoffice sei die Produktivität sogar noch gestiegen, sagt Bruno Fässler, das Steueramt habe schon vor dem pandemiebedingten Lockdown alle Arbeit nach Hause verlagern können.
Es geht um dreieinhalb Milliarden Franken Steuereinnahmen
Auch an diesem Tag arbeiten viele der Sachbearbeitenden von zu Hause aus. Es ist ruhig in den Fluren und Büros im Hochhaus. Unvorstellbar, dass es hier um rund dreieinhalb Milliarden Franken Steuereinnahmen im Jahr geht, das sind etwa 10 Millionen Franken am Tag. Tatsächlich erwirtschaftet die Stadt Zürich mehr als ein Zehntel des BIP der ganzen Schweiz. Gut hundert Länder der Erde haben ein tieferes Bruttoinlandprodukt.
Irgendwo hier muss Geld doch auch hörbar sein. Bruno Fässler greift in den Hosensack, aber Münz klimpert keines. Stattdessen zieht er – nicht zum ersten Mal – Schlüssel und Badge hervor. Jede der vielen Türen zwischen Stockwerken und Büros scheint gesichert. Und plötzlich tönt es beim Öffnen einer dieser Türen nach einer anderen Welt – keine Kassengeräusche, stattdessen: Maschinendröhnen. Der Chef und sein Besuch sind in der amtsinternen Druckerei angekommen. Und hier herrscht Hochbetrieb. Denn es ist Januar – und bis Ende Monat müssen alle rund 260 000 Steuererklärungen in den Haushalten angekommen sein. Metergrosse Rollen mit Papier sind eingespannt und rotieren in hohem Tempo. Eine Maschine druckt die individuellen Daten obendrauf, eine andere falzt, fügt die Beilagen hinzu und verpackt das Ganze in ein Couvert. «Drei pro Sekunde zieht sie rein», ruft der Chef des Steueramtes gegen den Maschinenlärm an und ergänzt: «Nicht in jedem Steuercouvert braucht es dieselben Beilagen.» Angestellte überwachen konzentriert die Maschinen und was sie drucken. Am Ende des automatisierten Prozesses liegen stapelweise Couverts in Boxen – Post, parat für den Versand. Post, die kaum jemand gern aus dem Briefkasten zieht.
Obwohl den allermeisten klar ist, dass die Steuern finanzieren, was allen lieb und teuer und ohnehin unentbehrlich ist (Spitäler, Schulen, Strassen, Sport, Kultur, Information, Wissen, Forschung und so weiter): Wer versucht beim Ausfüllen der Steuererklärung nicht, möglichst viele Abzüge zu machen? Das Ziel, möglichst wenig Steuern zu bezahlen, findet Bruno Fässler legitim. Es gehe dabei ja ums Sparen, «und dieses Ziel haben Sie auch, wenn Sie Ihre Lebensmittel einkaufen gehen». Wenn, dann müsse man über die Gesetze sprechen. Dass Erbschaften hierzulande praktisch nicht versteuert werden müssen, hat der Jurist schon wiederholt kritisiert. Aber sich zur Steuerpolitik zu äussern, sei eigentlich nicht seine Aufgabe. Er habe hier mit seinem Team den Job, Hunderttausende von Steuererklärungen durchzuschleusen und praktisch ebenso viele Rechnungen zu schreiben, das Gesetz zu vollziehen.
Dennoch: Die dreissig Jahre im Steueramt haben ihn durchaus verändert, räumt der nüchterne Ausdauersportler, der in jungen Jahren in der Triathlon-Nationalmannschaft war, ein: «Man sieht als Steuerverantwortlicher, wie eine Rentnerin nur in Raten zahlen kann, weil sie kaum über die Runden kommt – und am selben Tag liest man in einem Dossier: «Samichlausgeschenk: 2,5 Millionen». Beide Menschen seien zur gleichen Zeit in denselben Strassen unterwegs – und beide hätten ein Anrecht auf ein würdiges Leben. Fässler sagt: «Vom Staat her haben alle genau die gleichen Rechte und Pflichten. Es gibt aber Fälle, wo wir über Jahre hinweg Prozesse führen müssen gegen Leute, die ihre Steuern nicht zahlen wollen – teilweise sehr reiche Leute. Ein Prozess erstreckte sich über 17 Jahre. Wir haben das durchgezogen und über drei Millionen an Steuerfranken und alle Prozesskosten erhalten.»