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06.03.2024 von Esther Banz

«Samichlausgeschenk: 2,5 Millionen»

Am Steueramt kommt niemand vorbei. Und keine andere Verwaltung weiss so viel über die Menschen, die im Ort leben. Ein Besuch. In Zürich, einer der reichsten Städte der Welt.

Artikel in Thema Steuern
Illustration: Claudine Etter

«Zuerst eine Schätzfrage: Wie hoch war der Grenzsteuersatz in den USA von 1935 bis 1962?»

Bruno Fässler, Direktor Steueramt Stadt Zürich

Im reichen Zürich befinden sich die Büros des Steueramtes in einem Hochhaus. Allerdings irrt, wer denkt, seine Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter hätten die beste Aussicht, thronten über anderen Dienstabtei­lungen der Stadt und vor allem über denen, die für die (finanziell) Benachteiligten zuständig sind. Es ist genau umgekehrt: Das Sozialdepartement arbeitet in den oberen Etagen des Verwaltungszentrums Werd, das Finanzdepartement in den unteren. Im Erdgeschoss kommen aber bisweilen jene, die mit beiden Abteilungen zu tun haben, zusammen: Männer, die sich schwertun mit dem Ausfüllen der Steuererklärung, und Frauen in finanzieller Notlage. Sie erhalten an den hiesigen Schaltern Rat und wenn nötig Unterstützung. Der wochentags für alle zugängliche Kundendienst ist überwacht und gesichert. Das sei früher nicht so gewesen, «da klopften die Leute an und traten dann einfach ein», erklärt der Direktor des Steueramtes, Bruno Fässler, auf einem Rundgang, «bis es vermehrt zu Vorfällen mit Leuten kam, die übergriffig und ausfällig wurden». Der Rechtsanwalt arbeitet seit dreissig Jahren im Steueramt der Stadt Zürich. Seit 2012 ist er Direktor der Dienstabteilung und steht rund 250 Mitarbeitenden vor, die die Hunderttausenden von jährlichen Steuererklärungen bearbeiten. Die meisten von ihnen machen das an zwei bis drei Tagen von zu Hause aus – kein Problem, wo längst alles digital hereinkommt oder im eigenen Scan-Zentrum eingelesen, registriert und indexiert wird. Die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter erhalten automatisiert Dossierzuweisungen – und fangen dann mit der Arbeit an. Sie ­haben Produktivitätsvorgaben: Im Jahr schätzt jede und jeder rund 2500 Dossiers ein. Ausserdem müssen auch das Steuerregister geführt und die Steuern be­zogen werden. Im Homeoffice sei die Produktivität sogar noch gestiegen, sagt Bruno Fässler, das Steueramt habe schon vor dem pandemiebedingten Lockdown alle Arbeit nach Hause verlagern können. 

Es geht um dreieinhalb Milliarden Franken Steuereinnahmen
Auch an diesem Tag arbeiten viele der Sachbearbeitenden von zu Hause aus. Es ist ruhig in den Fluren und Büros im Hochhaus. Unvorstellbar, dass es hier um rund dreieinhalb Milliarden Franken Steuereinnahmen im Jahr geht, das sind etwa 10 Millionen Franken am Tag. Tatsächlich erwirtschaftet die Stadt Zürich mehr als ein Zehntel des BIP der ganzen Schweiz. Gut hundert Länder der Erde haben ein tieferes Bruttoinlandprodukt.
Irgendwo hier muss Geld doch auch hörbar sein. Bruno Fässler greift in den Hosensack, aber Münz klimpert keines. Stattdessen zieht er – nicht zum ersten Mal – Schlüssel und Badge hervor. Jede der vielen Türen zwischen Stockwerken und Büros scheint gesichert. Und plötzlich tönt es beim Öffnen einer dieser Türen nach einer anderen Welt – keine Kassengeräusche, stattdessen: Maschinendröhnen. Der Chef und sein Besuch sind in der amtsinternen Druckerei angekommen. Und hier herrscht Hochbetrieb. Denn es ist Januar – und bis Ende Monat müssen alle rund 260 000 Steuererklärungen in den Haushalten angekommen sein. Metergrosse Rollen mit Papier sind eingespannt und rotieren in hohem Tempo. Eine Maschine druckt die individuellen Daten obendrauf, eine andere falzt, fügt die Beilagen hinzu und verpackt das Ganze in ein Couvert. «Drei pro Sekunde zieht sie rein», ruft der Chef des Steueramtes gegen den Maschinenlärm an und ergänzt: «Nicht in jedem Steuercouvert braucht es dieselben Beilagen.» Angestellte überwachen konzentriert die Maschinen und was sie drucken. Am Ende des automatisierten Prozesses liegen stapelweise Couverts in Boxen – Post, parat für den Versand. Post, die kaum jemand gern aus dem Briefkasten zieht. 
Obwohl den allermeisten klar ist, dass die Steuern finanzieren, was allen lieb und teuer und ohnehin unentbehrlich ist (Spitäler, Schulen, Strassen, Sport, Kultur, ­Information, Wissen, Forschung und so weiter): Wer versucht beim Ausfüllen der Steuererklärung nicht, möglichst viele Abzüge zu machen? Das Ziel, möglichst wenig Steuern zu bezahlen, findet Bruno Fässler legitim. Es gehe dabei ja ums Sparen, «und dieses Ziel haben Sie auch, wenn Sie Ihre Lebensmittel einkaufen gehen». Wenn, dann müsse man über die Gesetze sprechen. Dass Erbschaften hierzulande praktisch nicht versteuert werden müssen, hat der Jurist schon wiederholt kritisiert. Aber sich zur Steuerpolitik zu äussern, sei eigentlich nicht seine Aufgabe. Er habe hier mit seinem Team den Job, Hunderttausende von Steuererklärungen durchzuschleusen und praktisch ebenso viele Rechnungen zu schreiben, das Gesetz zu vollziehen. 
Dennoch: Die dreissig Jahre im Steueramt haben ihn durchaus verändert, räumt der nüchterne Ausdauersportler, der in jungen Jahren in der Triathlon-Nationalmannschaft war, ein: «Man sieht als Steuerverantwortlicher, wie eine Rentnerin nur in Raten zahlen kann, weil sie kaum über die Runden kommt – und am selben Tag liest man in einem Dossier: «Samichlausgeschenk: 2,5 Millionen». Beide Menschen seien zur gleichen Zeit in denselben Strassen unterwegs – und beide hätten ein Anrecht auf ein würdiges Leben. Fässler sagt: «Vom Staat her haben alle genau die gleichen Rechte und Pflichten. Es gibt aber Fälle, wo wir über Jahre hinweg Prozesse führen müssen gegen Leute, die ihre Steuern nicht zahlen wollen – teilweise sehr reiche Leute. Ein Prozess erstreckte sich über 17 Jahre. Wir haben das durchgezogen und über drei Millionen an Steuerfranken und alle Prozesskosten erhalten.»

Zwanzig Jahre lang jeden Samstag eine Million im Lotto gewinnen
In seinem Büro hat es einen Arbeitstisch und einen für Besprechungen. Über diesem ist ein Bildschirm an der Wand befestigt. Darauf projiziert Bruno Fässler ein paar Zahlen. Aber zuvor stellt er jene Schätzfrage, die er schon am Telefon gestellt hatte: «Wie hoch war der Grenzsteuersatz in den USA von 1935 bis 1962?» Als keine schlaue Antwort kommt, wendet er sich seiner Präsentation zu. Darauf ein paar grob gerundete Kennzahlen zur Schweiz, um die Dimensionen des Geldes aufzuzeigen, ganz trocken erst mal:

Gesamtes steuerbares Reinvermögen 2100 Mrd.
Pensionskassenguthaben 1100 Mrd.
3a-Guthaben 130 Mrd. 

AHV-Auszahlungen pro Jahr 46 Mrd. 
Dividenden-Ausschüttungen pro Jahr 100 Mrd.
Erbschaften pro Jahr 100 Mrd. 
Davon gehen 60% an Personen über 60 Jahre 

Und weiter:
Steuereinnahmen Bund 80 Mrd.
Steuereinnahmen Kantone 50 Mrd.
Steuereinnahmen Gemeinden 30 Mrd.
AHV-Beiträge (Einnahmen) 35 Mrd.

Zur Vermögensverteilung in der Schweiz liest man: «Der Anteil des obersten Prozents am Gesamtvermögen ist seit 2005 von 38 Prozent auf 44 Prozent gestiegen.» Die durchschnittliche jährliche Rendite von Schweizer Aktien betrug in den letzten 45 Jahren 10 Prozent. Und noch ein paar nüchterne Zahlen (bevor es lustig wird) – hier geht es um die Wirkung von Zinsen auf Milliardenvermögen. Fässler hat ausgerechnet: X erbt im Alter von 60 Jahren Vermögenswerte von 6 Milliarden und legt alles in Aktien an. Dadurch erzielt er eine durchschnitt­liche Nettorendite (nach Steuern von 50 Prozent) von 4 Prozent pro Jahr. Verprasst X davon jährlich 40 Millionen, so beträgt sein Vermögen nach zehn Jahren 8,4 Milliarden (trotz den 400 Millionen, die er verjubelt hat). Und nach 25 Jahren: 14,3 Milliarden (trotz der Milliarde, die er verjubelt hat in dieser Zeit). 
Die reichste Familie der Schweiz waren 2022 mit 55 Milliarden die Kamprads (Ikea). Die Familie Blocher auf Rang 10 besitzt 15 Milliarden. Bruno Fässler hat ausgerechnet (jetzt wirds lustig): Eine Milliarde bedeutet ungefähr zwanzig Jahre lang jeden Samstag im Lotto eine Million gewinnen. Demnach hätte die Familie Blocher seit 1291 jede Woche rund 400 000 Franken im Lotto gewonnen. Und die Familie Kamprad seit Christi Geburt jede Woche 500 000 Franken.
Zum Vergleich (weniger lustig): Die durchschnittliche AHV-Rente beträgt – auch für Menschen, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet haben – rund 1900 Franken pro Monat, die durchschnittliche BVG-Rente für eine Frau etwa 1600 Franken und für einen Mann etwa 3000 Franken.

Grosse Geldvermögen sind wie Staubsauger
Am Ende seiner Präsentation beantwortet Bruno Fässler die Frage des Grenzsteuersatzes in den USA: Ab dem Zweiten Weltkrieg bis 1962 war er bei über 80 Prozent, zeitweise fast 90 Prozent. So hoch mussten die reichsten US-Amerikanerinnen und Amerikaner ihren Vermögenszuwachs ab der Schwelle, bei der die Progression aufhört, versteuern. Er vergleicht grosse Geldvermögen mit Staubsaugern – mit dem feinen Unterschied, dass diese eben Geld und nicht Staub ansaugen. Er nennt es auch die «Sogwirkung des Kapitals». Und man ahnt es bereits: Ein solches Vermögen kann gar nicht anders, als stetig weiterzuwachsen. Deshalb würden die Reichsten der Reichen sogar dann reicher, wenn sie von ihrem Vermögenszuwachs 90 Prozent der Allgemeinheit abgeben müssten. 
Nach einer Psychologie von Steuerverweigernden gefragt, überlegt Fässler. Und sagt schliesslich: «Von denen, die ich kennengelernt habe: die Geizigen. Und dann gibt es eben jene, die meinen, der Staat gehe sie nichts an.» Darunter hat es wenige, aber unglaublich Mühsame, die der Ansicht sind, für sie gälten exklusive Regeln und Gesetze, nur weil sie reich oder besonders schlau seien. Sie alle verstehen nicht, dass auch sie Teil eines Ganzen sind, eines Sozialverbandes, dass sie vom sozialen Frieden und von der Macht des Staates profitieren. Und dass es dafür Mittel braucht – und das Steueramt diese einholt. 
Ob Arm oder Reich, die Steuern ignorieren geht nicht, sagt Bruno Fässler: «Es gibt Leute, die die Steuererklärung nicht ausfüllen. Sie werden dann eingeschätzt. Ich rate allen: Stecken Sie den Kopf nicht in den Sand! Holen Sie sich Hilfe bei Freunden, Verwandten oder einer Schuldenberatung, zum Beispiel bei der Caritas. Oder melden Sie sich beim Steueramt, wenn Sie nicht mehr weiterwissen.» Es ist ihm ein grosses Anliegen, dass die Leute verstehen: «Das Steueramt vergisst Sie nicht!»


Gegensätze

In der reichen Schweiz öffnet sich die Schere seit 2014 immer mehr: Eine zunehmende Zahl Reicher steht immer mehr Menschen gegenüber, die arm sind, obwohl sie arbeiten: 8,7 Prozent beziehungsweise rund 745 000 waren es 2021 schweizweit. In der Stadt Zürich haben 2022 beinahe 18 000 Personen Sozialhilfegelder zur Existenzsicherung erhalten. Working Poor und wenig Verdie­nende ziehen aber auch zunehmend aus der Stadt weg, insbesondere wenn ihnen die bezahlbare Wohnung  gekündigt wird. Die Personen, die danach in diese frei gewordenen Wohnungen ziehen, verdienen im Durchschnitt 3623 Franken mehr als die vorherigen Mieterinnen und Mieter – das haben Forschende der ETH Zürich herausgefunden. 
Dass gleichzeitig die Zahl der (Super-)Reichen zunimmt, zeigen Zahlen zu den steuerbaren Einkommen, die moneta bei den statistischen Ämtern von Stadt und Kanton Zürich eingeholt hat. So waren es im Jahr 2000 3,8 Prozent Einzelpersonen, die über ein (Multi-)Millionenvermögen verfügten und bei den Verheirateten 8,6 Prozent. Zwanzig Jahre später – 2020 – lebten bereits 5,4 Prozent als Einzelpersonen erfasste (Multi-)Mil­lionäre in der Stadt (beinahe 11 000 Per­sonen) und 15,3 Prozent der Verheirateten gaben ein (Multi-)Millionen­vermögen an. Diese Zahlen korre­lieren in etwa mit denen im Kanton. 

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