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16.06.2021 von Roland Fischer

Regen in Mestre, Sonne in Venedig

Venedig ist schön, Venedig ist überlaufen, aber vor allem: Venedig ist die einzige wirklich autofreie Stadt der Welt. Können wir etwas lernen von der Serenissima, wenn es um Mobilität geht? Und überhaupt: Ist der städtebauliche Sonderfall eher Fluch oder Segen? Eine urbanistische Spurensuche vor Ort, nicht nur im historischen Zentrum, sondern auch auf dem Festland.

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Foto: zVg

In Mestre regnet’s, «piove a Mestre», sagt jemand am Nachbartisch. Samstagmorgen, Einheimische geben sich daran zu erkennen, dass sie schon nach zehn ein Glas Wein auf dem Tisch stehen haben statt eines Cappuccinos. «Un ombra», so heisst das hier, ein [Glas am] Schatten. Und tatsächlich, schon drückt die Sonne durch die Wolken. Venedig, das sind (mindestens) zwei Welten, auch meteorologisch: Es gibt die Lagune, und es gibt die Terra ferma, das Festland. 260 000 Einwohner hat die Gemeinde insgesamt, 200 000 davon leben nicht im von Touristinnen und Touristen – und auch mal von Aqua Alta – überschwemmten historischen Zentrum, sondern in Mestre, Marghera und auf dem Lido. Wo, notabene, überall automobile Normalität herrscht. Nur im historischen Zentrum, da funktioniert die Welt ein wenig anders. 

Um mehr über Venedig als – womögliche – städtebauliche Utopie herauszufinden, ist man unterwegs zu Alessandro Cherubini, zu Fuss versteht sich, ins Castello-Viertel, vielleicht der nach wie vor ursprünglichste Teil Venedigs. Alessandro packt seine Sachen in Bubblewrap, während man sich mit ihm über seine Heimatstadt unterhält. Er hat die Wohnung – ein Schmuckstück, gut versteckt in einer Seitengasse, man würde sofort einziehen – vor kurzem verkauft, nun zieht der Architekt mit seiner Familie definitiv hinüber aufs Festland. Die Cherubinis sind nicht die einzigen. Um 1950 hatte das historische Venedig noch über 175 000 Einwohner, nun nähert man sich langsam der 50 000er-Grenze. Und das hat Folgen. Also, die Frage an Alessandro: Venedig als urbaner Alltag – Traum oder Alptraum? Er ist in der Stadt aufgewachsen, hat 50 Jahre hier gelebt und zögert nicht, dies im Rückblick als Realität gewordene Utopie zu beschreiben: Als Kind einfach zu Fuss in die Schule, die Eltern mussten sich eigentlich nie Sorgen machen. Spielen in den Höfen, alles funktionierte kleinräumig, die Quartiere waren voller Leben. Ein Privileg, sagt er – er sei sich sehr wohl bewusst gewesen, dass er in einer besonderen Stadt lebte. Als junger Erwachsener träumte man in Venedig womöglich davon, ein kleines Boot zu kaufen. Aber ein Auto? Wäre ihm bis zum Umzug aufs Festland nie in den Sinn gekommen.

Alles ist langsam, auch die Ambulanz

Venedig ist in vielerlei Hinsicht eine aussergewöhnliche Stadt – man kennt die Historie, man kennt die Palazzi, man kennt den morbiden Charme der Kanäle. Aber vielleicht ist die Sache eigentlich ganz einfach: Venedig kommt ganz ohne Autos aus. Das hat zunächst einmal einen sehr atmosphärischen Effekt: Stille. Paola Viganò, die als Architektin und Städtebau-Expertin in Venedig und Lausanne lehrt, sagt, das falle ihr immer als erstes auf, wenn sie in ihre Wohnung in Venedig komme: wie still es nachts werde. Ohne dieses dauernde «weisse Rauschen» an das wir uns längst gewöhnt hätten bekomme der Schlaf eine ganz andere Qualität. Tagsüber merkt man vor allem einen anderen Unterschied: Venedig ist langsam. Diese Langsamkeit ist nicht etwa Charaktersache der Bewohner, sie ist der Stadt tief eingeschrieben. In Venedig gibt es keine raschen Verbindungen, meist ist man ebenso schnell ob man nun zu Fuss geht oder den öffentlichen Verkehr – die Vaporetti – nutzt. Das bekomme man mitunter auch unangenehm zu spüren, als Bewohnerin, erzählt Viganò: Als sich ein Unikollege unlängst plötzlich unwohl gefühlt habe, habe man entschieden, die Ambulanz zu rufen. Auch die kommt in Venedig, selbstverständlich, mit dem Boot. Eine geschlagene Dreiviertelstunde hätten sie gewartet, etwa nochmal so lang sei es gegangen, bis sie endlich im Spital angekommen seien. Der Notfall habe sich als harmlos erwiesen, in diesem Fall. Aber Viganò möchte sich lieber nicht ausmalen, wie nervenaufreibend ein solches Erlebnis sein muss, wenn wirklich jede Minute zählt.

Nein, praktisch, effizient, optimiert: so ist Venedig nicht. Man verliert sich leicht im Gassengewirr, es wird auch viel zu oft viel zu eng. Taxis sind teuer, auch die Vaporetti nehmen umständliche Wege. Venedig als urbane Struktur ist eigentlich unmöglich, und trotzdem: wunderschön. Was ist es bloss, das uns das gewachsene, kleinräumige, irgendwie organisch Verschlungene so lieben lässt gegenüber der Geradlinigkeit und Aufgeräumtheit der Moderne? Das Seltsame ist ja, dass unsere Städte vielleicht sogar mehr von (meist gescheiterten) städtebaulichen Utopien geprägt sind als Venedig, seien es die Haussmannschen Einschnitte in Paris oder vor allem all die Nachkriegsprojekte, die Verkehrsflüsse neu regelten und in manchen Regionen ganze Betonstädte entstehen liessen, inklusive grossartiger städtebaulicher Visionen: moderne Effizienz, unbegrenzte Mobilität, soziale Gleichheit.

Genug von der schönen Abnormalität

Venedig hat seine Utopie einfach ein wenig nebenbei bekommen, über die Jahrhunderte; man könnte auch sagen, Venedig ist einfach als Ganzes so geblieben wie unsere Städte auch mal waren. Von städtebaulichen Theorien und entsprechenden Reissbrettentwürfen weitestgehend verschont. Insofern, meint Alessandro, sei das Wort «Utopie» eigentlich fehl am Platz: Venedig habe sich einfach so entwickelt, aus Notwendigkeit, nicht einem städtebaulichen Ideal folgend. Und ideal ist die Situation heute endgültig nicht mehr, sonst würde er ja nicht wegziehen. 

Es ist ein Teufelskreis: Weil das Leben in Venedig immer mehr auf den Tourismus ausgerichtet ist, ziehen immer mehr Leute weg, was wiederum zur Folge hat, dass immer mehr lokale Dienstleistungen wegbrechen. Alessandro zählt auf: Kaum normale Läden mehr – auch im Supermarkt koste das Mineralwasser fünfmal so viel wie sonst in Italien –, in den Schulen nur noch Kinder von Gondolieren und Taxifahrern, vom aus dem Ruder laufenden Immobilienmarkt gar nicht zu reden. Der Familie Cherubini wurde es irgendwann zu viel, in dieser schönen Abnormalität zu leben. Unlängst gab es sogar Pläne, das Spital zu schliessen – der Protest der Bevölkerung konnte das fürs Erste abwenden. Wenn er rüber aufs Festland komme, fühle sich das an wie eine Befreiung: einfach ein normales Leben, vor allem für die Kinder. Es sind die simplen Dinge, die in Venedig fehlen: ein Rugby-Club zum Beispiel.

Gemeinsame Räume für alle Verkehrsteilnehmenden

Utopien sind kompliziert, das betont auch Viganò. Und beinhalteten eben immer auch Unerwünschtes. Sicher, andere Städte könnten von Venedigs Langsamkeit lernen, aber einfach so kopieren kann man das venezianische Modell nicht. Zunächst müsse man sich ohnehin klar machen, welches Ziel man mit einer solchen Verlangsamung verfolge: ein ethisches, ein ökologisches, ein soziales? Das wird sich entsprechend verschieden auf den städtebaulichen Entwurf auswirken – und in mancher Hinsicht wird man auf Geschwindigkeit eher nicht verzichten wollen, siehe das Beispiel der Rettungsdienste. Aber den Fokus auf den Fussverkehr findet sie auf jeden Fall richtig: Für sie wäre es sogar «philosophisch» von Vorteil, mehr zu Fuss unterwegs zu sein in den Städten – «wir denken besser, wenn wir uns mit Aufmerksamkeit fortbewegen.»

Apropos Fortbewegung durch die Stadt: Für Besucherinnen und Besucher fühlt es sich so an, als würde sich das venezianische Verkehrsnetz im Wesentlichen an Passanten orientieren. Es gibt aber noch ein zweites Wegsystem, was einem erst klar wird, wenn man hie und da mit einem privaten Boot unterwegs ist – plötzlich nimmt man ganz andere Routen, manche Direktverbindungen hat man gar nicht auf dem Radar. Die Stadt ist gewissermassen zweimal erschlossen ist, einmal für Fussgänger und einmal vom Wasser her – was man von einer Auto-Stadt ja nicht kenne, wo mehr oder weniger dasselbe Strassensystem für alle gilt, erwähnt man Viganò gegenüber. Da widerspricht die Expertin vehement: Aus städtebaulicher Sicht sei das keineswegs etwas Besonderes, das Separieren der Verkehrsflüsse sei geradezu ein bestimmendes Merkmal aller moderner Stadtentwürfe, bei Le Corbusier angefangen. Alle «neuen» Städte des 20. Jahrhunderts hätten solche unterschiedliche «Grids» propagiert. Irgendwann aber musste man sich eingestehen, dass das nirgends wirklich geklappt hat: Das Resultat waren Sterilität, leere Plätze, wenig einladende Räume. In den letzten Jahrzehnten habe man deshalb im Städtebau genau im Gegenteil wieder begonnen, die Verkehrsflüsse zu «remixen» und gemeinsame Räume für alle Verkehrsteilnehmenden zu finden. Das funktioniere aber nur, wenn wir die Anzahl Autos – und ihre Geschwindigkeit – drastisch reduzieren, sonst gäbe es kein Miteinander. Und wiederum staunt man ein wenig über diese Stadt, die eine weitere städtebauliche Utopie so selbstverständlich hinbekommen hat, während wir mit Planspielen sonst eher gescheitert sind. Man könnte Venedig insofern auch als  Anleitung zur raumplanerischen Demut lesen.

Hinüber aufs Festland

In Mestre regnet’s dann doch nicht. Zu Fuss kommt man da nicht hin, aber mit dem Zug ist es nicht weit. Aber trotz Sonne, ein bisschen ein Schock ist es dann doch, wenn man zum Bahnhof heraustritt. Es erwartet einen nicht ein grosszügiger Vorplatz mit Sicht auf den Canal Grande, eine Einladung erst einmal zum Anhalten und Schauen, es erwartet einen eine grosse Unübersichtlichkeit und eine breite Strasse. Innehalten heisst hier vor allem: rotes Ampelmännchen. Hat man die Strasse erst einmal überquert, macht es einem die Stadt, die sich so richtig erst im Zuge des industriellen Aufschwungs im 20. Jahrhundert entwickelt hat, nicht leichter. Das historische Zentrum ist weit weg vom Bahnhof, dazwischen hat sich – wohl programmatisch – ein perfektes Kontrastprogramm zur venezianischen Altstadt breitgemacht: rechtwinkliges Strassenraster, reduzierte Formensprache, Nüchternheit der Nachkriegsmoderne. Stellvertretend dafür ein Betonmonstrum an der Piazzale Leonardo da Vinci, 1965 gebaut, ein mächtiger Büro- und Wohnungskomplex, ein exemplarisches Beispiel für die «neue» Stadt. Hinten in der Altstadt, deren Charme man mit viel gutem Willen herb nennen kann, buhlt seit ein paar Jahren ein Museumsneubau um Aufmerksamkeit, auffällige Architektur, die wohl ähnlich schnell altern wird wie das Monstrum aus den 1960ern. Es ist ein einziges architektonisches Durcheinander, vom Strassenraster mühsam zusammengehalten.

 

Drüben in Venedig dagegen: eine in sich geschlossene elegante Zeitlosigkeit. Für Viganò ist dies die andere grosse Qualität der Stadt: Venedig durchziehe eine «Einfachheit des Designs». Das führe zu einer «aussergewöhnlichen Qualität» des (öffentlichen) Raums: «In Venedig ist es überall interessant zu spazieren.» In anderen Städten dagegen fänden sich immer wieder weite Gebiete, die überhaupt nicht für Passanten gestaltet seien. Wohl wahr, denkt man in Mestre.

Eine Insel für alles, was in Venedig keinen Platz hat

Noch einiges unwirtlicher wird das Ganze zur Lagune hin. Der Urbanraum franst aus in ein halbwildes, halbindustrielles Hafengebiet, von hier werden nach wie vor die meisten Waren in die Lagune transportiert. Als der Hafen Marghera 1917 eröffnet wurde, verstärkte sich die Arbeitsteilung zwischen dem Festland und der Altstadt, die von nun an vor allem auf Tourismus setzte. Eine Eisenbahnbrücke von Mestre nach Venedig hinüber gab es zwar schon seit 1846, aber richtig angebunden ans Festland ist Venedig erst seit dem faschistischen Renommierprojekt einer Strassenverbindung, später Ponte della Libertà genannt. Bis dahin wurden alle Waren auf dem Boot in die Lagune gebracht. Dann kamen die Autos und Busse, zumindest bis zur Piazzale Roma und zum Parcheggio del Doge, einem irren Betonbau, der natürlich bald aus allen Nähten platzte. Und so kam die Moderne auch nach Venedig, man baute kurzerhand eine neue Insel im Westen, ein städtebauliches Ghetto für all das, wofür in Venedig eigentlich kein Platz ist: Autos, Lagerhäuser, Park- und Umschlagplätze. Willkommen auf Tronchetto, dem vielleicht eigenartigsten Ort in dieser eigenartigen Stadt.

 

Wer weiss schon, dass Venedig eine Metrolinie hat? Der sogenannte «People Mover», eine automatische Hochbahn, verbindet seit 2010 die Piazzale Roma mit dem Riesenparkhaus auf dem schön geometrisch gezeichneten Neuland. Wer darauf besteht, Venedig mit dem Auto zu besuchen, wird direkt Richtung Tronchetto geleitet, man kann aber auch zu Fuss hinaus spazieren, allerdings merkt man überall, dass hier nicht für Passanten geplant wurde. Wie zum Trotz stehen auf dem Vorplatz des Parkings sogar Mietvelos und Elektro-Trottinette herum. Über Monate wohl ungenutzt, wo will man auch hin damit? Sobald man zurück im historischen Zentrum ist, gilt Fahrverbot. Ob explizit oder nicht: Niemand käme auf die Idee, zwischen all den Brückentreppen auf Rädern unterwegs zu sein – das gilt im Übrigen auch für Rollstühle. Eine besonders inklusive Stadt war Venedig nie. Auf Tronchetto sind Gassengewirr und Historie weit weg, stattdessen beherrschen grosszügige (und meist ziemlich leere) Räume, Betonfunktionalität und das Rauschen der Autos das Bild. Und dazu das schöne Gefühl, unter Einheimischen und Teil einer ganz alltäglichen Szenerie zu sein, wenn man ganz vorne am Kai einen Kaffee nimmt und zuschaut, wie die Autofähren zum Lido hinaus sich im Halbstundentakt leeren und wieder füllen.

Zwischen Utopie und Dystopie

Ansonsten ist man unter Einheimischen am ehesten spät am Abend, zum Beispiel im «Al Portego», einer beliebten Apéro-Bar, unweit von Rialto, aber dennoch gut versteckt. Als man den Kellner beim Aufräumen nach seiner Meinung zu Venedig und Utopie bzw. Dystopie fragt, meint er achselzuckend: «Tra le due.» Irgendwie dazwischen. Er sei von hier, ja. Auf die Frage, wie oft er sich denn schon überlegt habe wegzuziehen, kommt die Antwort prompt: Sei eigentlich schon passiert. Er habe was gekauft, auf dem Festland. «Hier kann ich mir ja nichts leisten.»

 

«It’s the economy, stupid.» Natürlich. Alessandro schien einigermassen ungerührt, wie er da in seiner Traumwohnung seine Bilder einpackte und Kisten stapelte, aber einmal war ihm der Frust doch deutlich anzumerken. Weil er weiss, dass Venedig es selber in der Hand hätte, eine lebenswerte Stadt zu sein. Aber es dürfe niemanden wundern, dass sich die Dinge so entwickelt hätten – und es werde sich auch nicht ändern, auch nicht jetzt, da die Einheimischen gemerkt hätten, wie schön es sein könnte mit weniger Touristen. Der Zustand Venedigs spiegle den Charakter seiner Bewohner, die in ihrer Seele Geschäftsleute und Profiteure seien. Und der Tourismus ist nun einmal ein perfekter Goldesel. «Die wirkliche Utopie, das ist nicht ein Venedig ohne Autos – es wäre ein Venedig ohne Venezianer.»

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