Heute transportieren wir Waren und Personen vorab auf Strasse und Schiene. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts nutzte man dafür noch die Gewässer. Könnten Flüsse, Kanäle und Seen die Funktion des Gütertransports wieder übernehmen und Städte so autofrei werden? Ein Gespräch mit dem Wasserbauexperten und emeritierten ETH-Professor Daniel L. Vischer, der zur Geschichte der Nutzung hiesiger Gewässer ein Buch geschrieben hat.
In Mestre regnet’s, «piove a Mestre», sagt jemand am Nachbartisch. Samstagmorgen, Einheimische geben sich daran zu erkennen, dass sie schon nach zehn ein Glas Wein auf dem Tisch stehen haben statt eines Cappuccinos. «Un ombra», so heisst das hier, ein [Glas am] Schatten. Und tatsächlich, schon drückt die Sonne durch die Wolken. Venedig, das sind (mindestens) zwei Welten, auch meteorologisch: Es gibt die Lagune, und es gibt die Terra ferma, das Festland. 260 000 Einwohner hat die Gemeinde insgesamt, 200 000 davon leben nicht im von Touristinnen und Touristen – und auch mal von Aqua Alta – überschwemmten historischen Zentrum, sondern in Mestre, Marghera und auf dem Lido. Wo, notabene, überall automobile Normalität herrscht. Nur im historischen Zentrum, da funktioniert die Welt ein wenig anders.
Um mehr über Venedig als – womögliche – städtebauliche Utopie herauszufinden, ist man unterwegs zu Alessandro Cherubini, zu Fuss versteht sich, ins Castello-Viertel, vielleicht der nach wie vor ursprünglichste Teil Venedigs. Alessandro packt seine Sachen in Bubblewrap, während man sich mit ihm über seine Heimatstadt unterhält. Er hat die Wohnung – ein Schmuckstück, gut versteckt in einer Seitengasse, man würde sofort einziehen – vor kurzem verkauft, nun zieht der Architekt mit seiner Familie definitiv hinüber aufs Festland. Die Cherubinis sind nicht die einzigen. Um 1950 hatte das historische Venedig noch über 175 000 Einwohner, nun nähert man sich langsam der 50 000er-Grenze. Und das hat Folgen. Also, die Frage an Alessandro: Venedig als urbaner Alltag – Traum oder Alptraum? Er ist in der Stadt aufgewachsen, hat 50 Jahre hier gelebt und zögert nicht, dies im Rückblick als Realität gewordene Utopie zu beschreiben: Als Kind einfach zu Fuss in die Schule, die Eltern mussten sich eigentlich nie Sorgen machen. Spielen in den Höfen, alles funktionierte kleinräumig, die Quartiere waren voller Leben. Ein Privileg, sagt er – er sei sich sehr wohl bewusst gewesen, dass er in einer besonderen Stadt lebte. Als junger Erwachsener träumte man in Venedig womöglich davon, ein kleines Boot zu kaufen. Aber ein Auto? Wäre ihm bis zum Umzug aufs Festland nie in den Sinn gekommen.