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22.09.2021 von Esther Banz

« Man muss eine neue Art von Absicherung finden »

Selbständige waren noch nie gegen Arbeitslosigkeit versichert. Prekarisiert die Gig-Economy sie nun zusätzlich? Ja, sagt der Ökonom Mathias Binswanger. Er arbeitet an einer Lösung.

Artikel in Thema Gig-Economy
Illustration: Claudine Etter
moneta: Mathias Binswanger, Sie forschen hauptsächlich zu Wachstum und Glück. Jetzt be­fassen Sie sich mit der sozialen Absicherung  von Selbständigen, Freischaffenden und ­so­genannten Gig-Arbeitenden. Warum?
Mathias Binswanger: Die Gewerkschaft Syndicom hat ein ­Forschungsteam an der Fachhochschule Nordwestschweiz damit beauftragt, ein funktionierendes Modell für eine ­Arbeitslosenversicherung für Selbständige und Freischaffende zu entwickeln. Syndicom vertritt die Interessen von Grafikerinnen, Fotografen und Journalistinnen – Berufsgruppen, deren Arbeitsplatzsicherheit schon länger ­abnimmt. Die Plattformökonomie schafft jetzt zusätzlich neue Realitäten.
Inwiefern?
In diesen Berufen werden Leute zunehmend nicht mehr fest angestellt, sondern nur noch punktuell beigezogen.
In der Pandemie zeigte sich, dass die fehlende ­Arbeitslosenversicherung (ALV) für Freischaffende und Selbständige ein grosses Problem ist. Seit 1977 sind die Angestellten bei uns obligatorisch gegen Arbeitslosigkeit versichert – ­warum die Selbständigen nicht?
Ein Selbständiger ist traditionell ein Unternehmer, der ein unternehmerisches Risiko eingeht – was man im Normalfall nur tut, wenn man eine gewisse Erwartung hat, erfolgreich zu sein. 
Ist man mit diesem System bisher gut gefahren?
Insgesamt schon. In der Schweiz gibt es ganz viele kleine Unternehmen, die KMU. Lange Zeit lief die Wirtschaft so gut und die Arbeitslosenquote war so tief, dass Firmengründer und -gründerinnen schnell wieder eine An­stellung fanden, wenn es mit dem eigenen Unternehmen nicht klappte. 
Und was bedeutet es, wenn sich die wirtschaft­liche Lage verschlechtert? 
Dass man eine neue Art von Versicherung oder von Ab­sicherung finden muss, weil sonst zu viele Menschen aus dem bestehenden Sozialversicherungssystem heraus­fallen. Eine andere Möglichkeit wäre, die Unternehmen zu zwingen, die Arbeitnehmenden wieder traditionell an­zustellen. Mit der nicht regulierten arbeitsrechtlichen Situa­tion der Selbständigen können die Firmen heute eine ­Lücke ausnützen: Sie müssen nicht die gleichen Sozial­leistungen erbringen wie in den andern, regulierten Bereichen der Wirtschaft. Diese Lücken versucht man jetzt zu schliessen. Der Vorschlag, den wir derzeit erarbeiten, zielt darauf ab. 
Geht Ihr Vorschlag in Richtung ALV-Obligato­rium für Selbständige?
Ja. Aber er sieht nicht vor, dass Unternehmer ebenfalls ALV einzahlen müssen. Ein Grossteil der Unternehmen in der Schweiz ist erfolgreich, auch Kleinunternehmen. Da stellt sich das Problem gar nicht. Auch sind Unternehmens­konkurse in einem gewissen Mass normal. Es geht vielmehr darum, das Loch wieder zu schliessen, das sich jetzt bildet, weil sich immer mehr Leute selbständig machen. Im Fokus stehen jene, die vielleicht zwei Jahre erfolgreich sind und dann vorübergehend nicht mehr. Ohne Ver­sicherung sind sie gezwungen, in Konkurs zu gehen und mit viel Mühe wieder etwas Neues aufzubauen. Das von uns entwickelte Modell soll ihnen ermöglichen, eine schwierige Zeit zu überbrücken.
Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Makroökonomie, Finanzmarkttheorie, Umweltökonomie, Glück und Einkommen sowie Wachstum. Er ist Autor der Bestseller «Die Tretmühlen des Glücks» (2006), «Sinnlose Wettbewerbe» (2010) und «Der Wachstumszwang» (2019). Der gebürtige St. Galler zählt zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz. Weitere Infos: www.mathias-binswanger.ch

Damit sie nicht wegen einer Baisse aufhören müssen?
Genau. Phasen, in denen es weniger gut läuft, sind normal, auch wegen wirtschaftlicher Schwankungen und unvorhersehbarer Situationen wie der Corona-Pandemie, in denen Aufträge ausbleiben. Unser neues Versicherungsmodell ist aber nicht so gedacht, dass man drei Jahre davon profitieren könnte. Die Leistung soll zeitlich begrenzt sein.
Das ist ja auch bei der ALV so. Wären auch die Beiträge vergleichbar?
Ja. Aber die neue Versicherung ist komplexer und flexibler angedacht. Wir haben sie als eine Art Guthaben konzipiert, das man anspart und in schlechten Zeiten anzapfen kann. Wenn es wieder besser läuft, soll man wieder einzahlen können. Es ist wie eine Mischung aus Pensionskasse und direkter Versicherung. Wichtig ist, keine Fehlanreize entstehen zu lassen.
Worin würden diese bestehen?
Wenn es darauf hinauslaufen würde, dass die einen nur einzahlen und die andern nur beziehen.
Fliessen in Ihren Vorschlag bereits Überlegungen hinsichtlich der politischen Mehrheits­fähigkeit ein? 
In gewisser Weise ja. Es macht keinen Sinn, etwas zu entwickeln, von dem man von vornherein weiss, dass es abgelehnt wird. 
Welche Argumente sprechen dagegen, die ­Lücke jetzt zu schliessen und die soziale ­Absicherung jener, die sonst durch die Maschen fallen, zu verbessern?
Es fallen zusätzliche Kosten an. Jene Selbständigen, die jetzt erfolgreich sind, werden vielleicht gar keine Lust ­haben, sich zu versichern; denn dies würde sie allenfalls dazu zwingen, teurer zu offerieren, und dadurch könnten ihnen Aufträge abhandenkommen. Man muss auch genau schauen, wie es im Ausland aussieht. Wenn sich die Leistungen hier verteuern, aber im Ausland billig bleiben, weil dort die Regulierungen fehlen, haben wir auch ein Pro­blem. 
Hätten die Gewerkschaften die Entwicklung, dass sich immer mehr Menschen selbständig machen und nicht mehr arbeitslosenversichert sind, nicht vorhersehen müssen?
Die Gewerkschaften sind zum Teil immer noch im Denken der Industriearbeit verhaftet, fixiert auf traditionelle Arbeitsverhältnisse und das Stundendenken: Da kämpft man für eine Reduktion der Wochenarbeitszeit und für den Erhalt des Rentenalters. Syndicom sucht jetzt als erste Gewerkschaft nach Mitteln gegen die Prekarisierung Selbständiger und Freischaffender, weil «ihre» Berufe besonders betroffen sind. Angesichts des Szenarios, dass die Gig-Ökonomie die Honorare in absehbarer Zeit zusätzlich unter Druck setzen wird, hat die Frage der besseren sozialen Absicherung an Dringlichkeit zugenommen.
Syndicom geht von einem Anstieg der Gig-Economy-Arbeitsverhältnisse aus. Was begünstigt eine solche Entwicklung?
Die ökonomische Lage: Wenn die Wirtschaft sehr gut läuft, sind typischerweise wenige Leute selbständig, weil man genügend relativ gut bezahlte Jobs findet; also nimmt man das Risiko der Selbständigkeit gar nicht erst auf sich. Wenn die Wirtschaft schlechter läuft, sind mehr Leute gezwungen oder wenigstens bereit, selbständig zu arbeiten. Sie sagen sich: Dann versuche ich es halt selber. Heute bieten Online-Plattformen vermeintlich einfache und bessere Möglichkeiten, sich zu vermarkten.
Auf einer Gig-Plattform bot kürzlich ein Texter seine Dienste für 8.50 Franken die Stunde an. ­Bedeuten diese Plattformen das Ende existenz­sichernder Löhne? 
Das haben Sie wohl auf einer internationalen Plattform gesehen. Dort offerieren auch Leute aus Billiglohnländern ihre Leistungen. Häufig sind die Honorare aus diesem Grund so tief. Ausserdem gibt es auch hierzulande Leute, für die die Arbeit via Plattformvermittlung nur ein Zusatzverdienst ist.
Deshalb spielt es für sie keine Rolle, wenn die Honorare tief sind?
Ja. Die Höhe des Stundenansatzes ist für eine Person, die bereits ein Einkommen respektive eine Rente hat oder deren Partner gut verdient, weniger relevant. Das wirkt sich freilich auf den Markt aus und setzt jene unter Druck, die auf ein existenzsicherndes Einkommen angewiesen sind.
Müsste die Politik nicht ein dringliches Inter­esse daran haben, diese Entwicklung zu korrigieren? Wer sich keine ausreichende Vorsorge an­sparen oder erben kann, wird im Alter mit grosser Wahrscheinlichkeit auf Ergänzungsleistungen angewiesen sein.
Es ist tatsächlich ein nicht diskutiertes Thema, dass immer mehr Menschen Ergänzungsleistungen brauchen. Inzwischen schieben alle politischen Kräfte das Rentenproblem vor sich her, weil die Fronten komplett verhärtet sind. Klar ist, dass es so nicht weitergehen kann. 
In einem Beitrag im Syndicom-Magazin schreiben Sie, dass es immer mehr neue Arbeitsformen gebe und dies eine Herausforderung für die ALV sei. Inwiefern? 
Ich meinte damit das System der Arbeitslosenversicherung: Wenn immer weniger Menschen versichert sind, kommt auch weniger Geld herein, um die Leistungen zu bezahlen. Die ALV wird von Arbeitnehmern und Ar­beit­gebern zu gleichen Teilen finanziert. So wäre es auch beim Modell gedacht, das wir Syndicom vorschlagen.
Und was würde es ganz allgemein für ein Land ­bedeuten, wenn künftig immer weniger Menschen gegen Arbeitslosigkeit versichert wären?
Quasi ein Rückfall in eine Zeit, in der man noch ganz viele kleine Unternehmer hatte, die nicht versichert waren. Man sieht dies heute noch in den Entwicklungsländern: Ganz viele Leute arbeiten im informellen Sektor und sind nicht abgesichert. So war das früher auch bei uns.
Die Schweiz zurück auf Niveau Entwicklungsland, was die Absicherung bei Arbeitslosigkeit betrifft – würde da nicht unser ganzes Sozialversicherungssystem ins Wanken geraten?  
Grundsätzlich ja. Im Moment weisen die Daten noch nicht auf eine grosse Gefahr hin. Aber es ist an der Zeit, die internationale Entwicklung der Gig-Economy zu beobachten und Massnahmen zu überlegen.
Syndicom schlägt auch eine Zertifizierung der Gig-Plattformen vor. Was halten Sie davon?
Ich weiss es noch nicht. Man will sicherstellen, dass die Plattformen gewisse Mindestanforderungen einhalten. Aber wir haben bereits so viele Zertifikate. Und ich habe Zweifel daran, dass wir alle Probleme damit lösen können. 
Gerade die Internationalisierung der Arbeit, wie sie die Gig-Plattformen ermöglichen, machen eine Regulierung wahrscheinlich um ein Vielfaches komplexer. 
Ja. International hat sich noch nichts etabliert. Auch die Begriffe rund um die Gig-Arbeit sind noch nicht exakt definiert, und wir kennen keine verlässlichen Zahlen. Deshalb haben wir schlicht keine Ahnung, wie viele Menschen sich mit dem Modell, das wir jetzt entwickeln, versichern lassen würden. 
Auf der Suche nach einem versicherungstechnisch dritten Weg – zwischen angestellt und selb­ständig – fischen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen also ein Stück weit im Trüben?
Ja. Aber nur indem man die Herausforderung genau anschaut, kann man sie auch verstehen und Lösungen dafür finden. Man muss die Karten auf den Tisch legen und ­einen Vorschlag machen. Dann sieht man, ob die Leute ­eine solche Versicherung überhaupt wollen. Oder was sie daran stört und welche Anpassungen es braucht. Man muss mit etwas anfangen.
Sie forschen ja seit längerem zu Glück und ­Lebenszufriedenheit: Welche Bedeutung hat die Arbeitsplatzsicherheit für das Wohl­befinden der Menschen?
Sie ist ein ganz zentraler Aspekt unserer Lebensqualität. Die Schweiz hat hier im Vergleich mit anderen Ländern sehr hohe Werte. Die Mehrheit der Menschen in der Schweiz muss nicht damit rechnen, demnächst den ­Arbeitsplatz zu verlieren. Wenn doch, beeinflusst das die Lebenszufriedenheit negativ. 
In Ihrem letzten, 2019 erschienenen Buch geht es um Wachstum. Was beschäftigte Sie ­dabei konkret? 
Die Frage, wieso Wirtschaften nur mit Wachstum funktioniert, und welche Konsequenzen das mit sich bringt, wo das hinführt und wie sich das Wirtschaftssystem weiterentwickelt.
Kann man Sie als wachstumskritisch bezeichnen?
Ich sehe Wachstum ambivalent. Lange Zeit herrschten die Vorteile vor, jetzt beginnen in den hoch entwickelten Ländern die Nachteile zu dominieren. Das Wachstum ­produziert Kollateralschäden, vor allem in der Umwelt, und die Menschen werden nicht mehr glücklicher oder ­zufriedener mit zunehmendem Wohlstand. Wir treiben das System nicht mehr mit unseren Bedürfnissen an, sondern das System treibt uns an. Wir sind gezwungen, weiterzumachen, auch wenn wir gar nicht mehr wissen, warum und wozu.

Selbständig und freischaffend: dasselbe?

Die Sozialversicherungen AHV (Alters- und Hinterlassenen­versicherung), IV (Invalidenversicherung) und EO (Erwerbs­ersatzordnung) unterscheiden zwischen Unselbständig­erwerbenden (Angestellten) und Selb­ständigerwerbenden.
Als sozialversicherungsrechtlich selbständigerwerbend ­gelten Personen, die unter ­eigenem Namen und auf eigene Rechnung arbeiten sowie in ­unabhängiger Stellung sind und ihr eigenes wirtschaft­liches Risiko tragen.
Freie Mitarbeitende wiederum sind – gemäss Bundesgericht – weder eindeutig zur Definition der Arbeitnehmenden noch den Selbständigen zuzurechnen. Auf Deutsch werden sie oft als Freelancer, Freischaffende, Freiberufler oder eben als freie «Mit­arbeiter» bezeichnet. Freelance-Tätigkeiten kommen in vielen Schattierungen vor.
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