In einer Welt, in der alles immer knapper zu werden scheint, ist es für den Ökonomen Christian Arnsperger an der Zeit Wohlstand neu zu definieren. Im Interview plädiert er für Suffizienz, die für Individuen und für Unternehmen funktioniere. Unter der Bedingung, dass es gelinge, unsere Angst vor Knappheit zu überwinden.
moneta: Christian Arnsperger, seit dem 2. August lebt die Menschheit auf Pump. An dem Tag waren alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht, die die Erde innerhalb eines Jahres generieren kann. Auch wir in der Schweiz haben unseren Teil dazu beigetragen. Wir konsumieren im Schnitt viel zu viel, obschon alles knapp zu werden scheint?
Christian Arnsperger: Die Schweiz hat einen kollektiven Fussabdruck von ungefähr 2,8 Planeten. Nicht der weltweit schlechteste Wert, aber dennoch massiv zu hoch und deswegen auch schamvoll ungerecht. Wie alle anderen Bewohnerinnen und Bewohner der Erde hat jede und jeder von uns ein Recht auf einen ökologischen Fussabdruck von einem Planeten. Mehr ist einfach nicht vorhanden.
Kürzlich habe ich Bettina Höchli, die an der Universität Bern zu Verhaltensänderungen forscht, gefragt, wieso wir so viel konsumieren. Sie meinte, kurz gesagt, weil wir es könnten. Was würden Sie sagen?
Ich sehe das ähnlich. Wir sind im Durchschnitt viel zu reich und leben viel zu anspruchsvoll, was unseren Ressourcenkonsum betrifft. Aber die Schweiz ist erst seit einem Jahrhundert wirklich wohlhabend. Zudem haben wir auch heute noch erhebliche Probleme mit sozialer Ungleichheit. Das sieht man unter anderem im Gesundheitswesen und auf dem Immobilienmarkt. Und das macht es selbstverständlich für viele Schweizerinnen und Schweizer schwierig einzusehen, weshalb sie ihren Konsum reduzieren sollten.
Das klingt jetzt so, als läge die Verantwortung für den Überkonsum bei uns als Individuen, als Konsumentinnen und Konsumenten.
Meistens handeln wir im täglichen Leben tatsächlich äusserst unkritisch. Wir lassen uns leicht beeinflussen und haben allerlei nicht sehr ökologische Gewohnheiten – wir fahren unüberlegt Auto, benützen gedanken- und pausenlos unsere Smartphones, werfen unseren Müll ohne nachzudenken weg und vieles mehr. Allerdings sind wir dadurch bloss Werkzeuge der grossen Konsummaschine. Diese manipuliert unsere tieferen Emotionen und verleitet uns zum Überkonsum. So, als befinde sich darin der Sinn unserer Existenz. Es ist nicht einfach, sich diesen Mechanismen zu entziehen.
Also liegt die Verantwortung eher bei den Unternehmen, die möglichst viel verkaufen wollen?
Natürlich ist das im Konsumkapitalismus immer der Fall: Unsere Nachfrage ist nichts mehr als ein Mittel für die Unternehmen, um Gewinn zu erwirtschaften. Dabei ist es egal, ob wir das, was wir konsumieren, auch wirklich brauchen, oder ob unsere Wünsche und Begehren nach Gütern, Reisen oder Luxus von Werbung und Marketing fabriziert wurden.
Sie befassen sich in Ihrer Forschung mit Suffizienz, eine Art Gegenkonzept zum Konsumkapitalismus. Neben Effizienz und Konsistenz ist sie eine der drei zentralen Nachhaltigkeitsstrategien. Was bedeutet Suffizienz genau?
Ganz einfach: Genug für jede und jeden. Wir müssen selbstkritisch, aber auch gesellschaftskritisch unsere sogenannten «Bedürfnisse» hinterfragen. Was ist eigentlich «genug» für mich, für uns? Das Ziel muss sein, einen Weg zu finden, dass jede und jeder eine Existenz führt, die auf Dauer einen ökologischen Fussabdruck von maximal einer Erde hat – auf keinen Fall mehr.
Das heisst, Suffizienz ist eine Art selbstauferlegte Knappheit?
«Knappheit» klingt so bedrohlich. Ich bevorzuge die Idee einer intelligenten Selbstbegrenzung. Es geht darum einzusehen, dass die ökologische Gleichung schon seit Jahrzehnten nicht mehr aufgeht, weil wir Angst haben, zu wenig zu haben. Das ist der wichtigste Grund dafür. Und von dieser Angst sollten wir uns befreien. Denn auch wenn Suffizienz Selbstbegrenzung bedeutet, bleibt noch viel Platz für verschiedene Gesellschaftsformen, Kulturen, Geschmäcker und Lebensorientierungen. Wenn wir aber vom falschen Bedürfnis besessen sind, immer mehr zu haben, anstatt mehr Gleichheit und Gerechtigkeit zu schaffen, dann fördern wir genau jene Knappheit, die wir eigentlich so fürchten.
Konsumieren wir wirklich aus Angst zu viel?
Die Angst vor Knappheit ist gross – selbst, und vielleicht gerade, in einem der reichsten Länder der Welt. Dies sind sich die allerwenigsten bewusst: Unser Reichtum und unser Überfluss sind als existentielle Abwehrmittel entstanden. Wir habe zu viel – und werden dadurch zerstörerisch, weil wir übermässig Angst haben, zu wenig zu haben! Wir haben da kulturell gesehen leider keinen Bremsmechanismus eingebaut. Heute ist die Schweiz wie ein Neureicher, der ständig reicher werden muss, um immer wieder das Gespenst seiner armen Gross- und Urgrosseltern zu beschwören.
Marshall Sahlins hat in den 1970er-Jahren einen Aufsatz veröffentlicht, mit Gedanken, die mich stark an das Prinzip der Suffizienz erinnern. Er behauptet darin, zumindest indirekt, dass es Knappheit eigentlich gar nicht gebe. Das Problem sei eher, dass wir annehmen würden, unsere Bedürfnisse seien unbegrenzt. Würden wir unsere Bedürfnisse reduzieren, bräuchten wir viel weniger Ressourcen, um zufrieden zu sein. Was halten Sie von diesen Gedanken?
Ich bin ein grosser Fan von Sahlins! In meinem neuesten Buch «L’existence écologique» habe ich sogar einen Menschentypus nach ihm benannt: das «Sahlins’sche» Individuum. In der Tat geht es Sahlins darum, den Fokus von der Knappheit auf die Bedürfnisse zu lenken. Selbstverständlich gibt es immer wieder objektive Knappheit. Dies erfahren arme Regionen und Länder immer wieder und auch Menschen hier in der Schweiz. Aber diese Knappheit ist fast nie «natürlich» bedingt, sondern hat eine schamvolle Ursache: Dass viele Menschen in den reicheren Teilen des Planeten ihre Bedürfnisse, die sie nie kritisch hinterfragt haben, zügellos befriedigen.
Also ist das Knappheitsproblem auch ein Verteilungsproblem? Die Ressourcen sind knapp, weil wir zu viel konsumieren, während andere zu wenig haben?
Ja, das ist ungefähr richtig. In der kapitalistischen Ideologie ist ein Trugschluss verwurzelt: Nämlich, dass diejenigen, die am wenigsten haben, nur dann mehr haben können, wenn auch jene, die bereits schon viel oder zu viel haben, immer weiter konsumieren dürfen. Das ist im Grunde genommen die Idee hinter dem Wirtschaftswachstum. Aber es kann doch nicht aufgehen, dass Knappheit durch denselben Mechanismus überwunden werden soll, durch den sie überhaupt erst entstanden ist. Das führt zu einer unglaublichen Verschwendung. Vor allem dann, wenn die «Bedürfnisse», die so befriedigt werden, sinnlose und absurde Formen eines leeren Begehrens sind.
Wie kommen wir da wieder raus?
Knappheit verschwindet nur dann, wenn wir alle zu «Sahlins’schen» Menschen werden. Das sind Menschen, die gelernt haben, zusammen darüber nachzudenken, was ihnen legitim zusteht. Sie haben gelernt, wie gross ihre Bedürfnisse sein dürfen, damit auch alle anderen Menschen ihren ähnlichen Bedürfnissen gleichermassen befriedigen können. Dies, ohne dass der kollektive Konsum die planetaren Grenzen überschreitet. Und das ist in der Tat ein Verteilungsproblem, kein Knappheitsproblem.
Kann es uns als Gesellschaft gelingen, unsere Bedürfnisse runterzuschrauben und Wohlstand neu zu definieren?
Es muss uns gelingen. Wir haben keine andere Wahl. Die Ansätze dazu gibt es schon seit langer Zeit. Ein gutes Beispiel ist die Gegenkultur der 1960er- und 70er-Jahre und ihre aktuellen Ausläufer, wie beispielsweise der Verein Neustart Schweiz, der vom Zürcher Autor Hans Widmer mitgegründet wurde. Dieser beteuert seit Jahren, unser Land müsse zurück «auf den Boden kommen», indem es seinen ökologischen Fussabdruck durch neue, solidarische und «commons»-orientierte Gesellschaftsmodelle und Wohnarten stark reduziert.
Wird dazu auch geforscht?
Ja. Meine Kollegin Julia Steinberger [SR4] arbeitet seit Jahren an genauen Rechnungen, die klar zeigen, dass wir mit nur der Hälfte unseres aktuellen Energieverbrauchs gut auskommen könnten. Wenn wir zudem eine neue und bessere Auffassung von Lebensfreude und existentiellem Sinn kulturell erarbeiten –wie etwa der «alternative Hedonismus» der britischen Philosophin Kate Soper –, kann uns die Wende durchaus gelingen. Wir müssen eine Postwachstumskultur aufbauen. Das bedeutet, quer durch unser gesamtes Bildungswesen und unsere ganze politische Landschaft eine neue Art von ökologischer und «existenzieller» Intelligenz kultivieren und verbreiten.
Etwas konkreter: Wie finden wir dann heraus, welche Bedürfnisse angemessen sind?
Indem wir erst einmal akzeptieren, dass es wichtig ist, sich darüber Gedanken zu machen. Indem wir endlich aufhören, das Loch der Sinnlosigkeit in uns mit sinnlosem Überfluss zu füllen. Indem wir unsere Bedürfnisse kritisch hinterfragen und wieder im engeren lokalen Dasein, in menschlicher Wärme, geringerer Mobilität und kleineren Umkreisen Sinn und Fülle finden – anstatt vom Kapitalismus und von seinen privaten Gewinnmachern die Anerkennung unserer Existenz zu erwarten. Das klingt womöglich zuerst einmal abstrakt, ist aber in Wirklichkeit zutiefst konkret und alltäglich.
Zuvor haben Sie festgehalten, dass Unternehmen eine grosse Verantwortung am Überkonsum tragen. Das heisst, auch sie müssten sich verändern. Funktioniert denn Suffizienz auch für Unternehmen?
Auch Unternehmen können suffizient werden. Sie fragen sich dann: Können wir so produzieren, verkaufen und Gewinn machen, dass sich unser Ressourcenverbrauch innerhalb der planetaren Grenzen bewegt? Dies, auch wenn der Konsum eingerechnet ist, den unsere Mitarbeitenden und Eigentümerinnen und Eigentümer mit dem Geld tätigen, das wir ihnen zahlen, also die gesamte Liefer-, Produktions- und Einkommensausschüttungskette berücksichtigt würde? Können wir in einer Art und Weise handeln, dass der ökologische Fussabdruck der ganzen Wirtschaft weniger als ein Planet betragen würde, wenn alle Unternehmen unserem Vorbild folgen würden?
Das sind schwierige Fragen.
Das ist tatsächlich so. Und nicht suffiziente Unternehmen stellen sie nicht – und wollen das oft auch nicht –, weil Suffizienz in keiner Business School auch nur die geringste Rolle spielt. Gewinnmaximierung, nicht Suffizienz, wird dort gelehrt und vorgeschrieben. Wenn wir suffizienzorientiert handeln wollen, suchen wir nach einem Geschäftsmodell, das sogenannte «Reboundeffekte» ausschliesst: Wir versuchen nie, durch Produktivitäts- oder Effizienzverbesserungen Kosten zu senken, um dann mehr herzustellen und verkaufen zu können.
Welche konkreten Schritte kann denn ein Unternehmen machen, wenn es suffizient werden will?
Ein solches Unternehmen muss zuallererst eine selbstbewusste und stolze Pionierhaltung einnehmen. Es bekennt: Bei uns herrscht ab jetzt Gewinnsuffizienz anstatt Gewinnmaximierung. Wir nutzen Innovationen ausschliesslich, um unseren Fussabdruck zu verringern, selbst wenn das weniger Produktion, Verkaufsvolumen und Umsatz bedeuten sollte. Mitarbeitende, Aktionärinnen und Aktionäre sowie Kundinnen und Kunden müssen fühlen, dass sie in ein ganz neues wirtschaftliches «Ökosystem» eingefügt werden. Eines, in dem fast alles anders funktioniert als bei den anderen. Für das Unternehmen bedeutet das auch die Bereitschaft, sich von manchen Leuten zu trennen, die da nicht mitmachen wollen. Ab dann wird das ganze Geschäftsmodell leichter umzusetzen, mit viel weniger Kompromissen.
Es braucht also eine Abkehr von der Gewinnmaximierung und damit einem zentralen Unternehmensziel innerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaft. Kann diese überhaupt suffizient werden oder braucht es ein neues Wirtschaftssystem?
Ich bezweifle sehr, dass die kapitalistische Marktwirtschaft suffizient werden kann. Das liegt nicht in ihren Genen und ist auch nicht der Auftrag, der ihr historisch in unserer Kultur zugedacht wurde. Das Kapital, wie es unser System auffasst, mag weder Grenzen noch Begrenzungen – das hat jemand wie Rosa Luxemburg bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstanden. Wir brauchen sicher diverse Formen von Postkapitalismus, in denen andere Werte herrschen – lokalere, egalitaristischere, demokratischere, langsamere und wahrscheinlich kleinere Wirtschaftseinheiten. Sicher sollte auch die Einkommenssicherung anders sein, etwa mit einer Form von Grundeinkommen. Das alles ist bereits seit Jahrzehnten erforscht und steht bereit; es wird nur durch den Druck der herrschenden Ideologie und durch die zahlreichen Lobbys der kapitalistischen Unternehmen verhindert.
Wie weit sind wir von einer solchen neuen Wirtschaft entfernt?
Suffizienz mit einer neuen Lebensauffassung führt zu mehr Demokratie, mehr Solidarität und weniger – viel weniger – Gier und Zynismus. Ich glaube, dafür sind mehr heutige Unternehmerinnen und Unternehmer bereit, als man denkt – sie brauchen bloss einen neuen Rahmen und eine neue Kultur, die es ihnen ermöglichen, aus den konventionellen Sichtweisen auszubrechen.
Christian Arnsperger, L'Existence écologique: Critique existentielle de la croissance et anthropologie de l'après-croissance, Éditions du Seuil, 2023.
Simon Rindlisbacher ist freischaffender Texter und Kommunikationsberater
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