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04.12.2024 von Roland Fischer

Immer schön positiv bleiben

Es gibt einen neuen glitzernden Stern am ­Nachhaltigkeitshimmel: Die Nature-Positive-Bewegung verspricht die hoffnungsvolle Flucht nach vorn, indem sie Naturschutz zur Investitionschance erklärt. Doch die konkreten wirtschaftlichen ­Rezepte wecken Zweifel.

Artikel in Thema Hoffnung
Illustration: Claudine Etter

Wenn es um Naturschutz und spezifischer um Biodiversität geht, macht sich leicht Ernüchterung breit – global geht es offensichtlich in die falsche Richtung, auch wenn es immer wieder hoffnungsvolle lokale Ansätze gibt. Eine neue Bewegung möchte die Dynamik umdrehen. Mehr Natur, nicht weniger! Mehr Biodiversität, mehr geschützte Landschaften. Immer öfter hört man von «Nature Positive» als Vision einer grüneren Zukunft; das reicht von naturbewussten Versicherungen über naturbewusste Modeschauen bis hin zu naturbewussten Städten. Grosse Unternehmen, darunter Salesforce, GSK, Holcim und Unilever, machen sich den Slogan zu eigen, und diesen Oktober gab es in Australien auch den ersten globalen Nature-Positive-Kongress. In einer Medienmitteilung lässt sich der frühere australische Finanzminister Ken Henry, der heute dem Nature-Finance-Council vorsteht, folgendermassen zitieren: «Indem wir zusammenarbeiten, können wir neue Geschäfts- und Finanzmodelle entwickeln sowie das rechtliche Umfeld besser gestalten, um Vorteile für die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Natur zu schaffen.»

Neue Geschäftsmodelle? Die Rangfolge im letzten Satz jedenfalls ist bezeichnend: Naturschutz, der nicht wehtut, sondern, ganz im Gegenteil, Vorteile für die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Natur bringt. Wer könnte da schon etwas dagegen haben? Wirtschafts­nahe Kreise ganz bestimmt nicht. Oder wie es Andrian Kreye, Feuilleton-Redaktor bei der «Süddeutschen Zeitung», nach einer Konferenz in München durchaus enthusiastisch beschrieb: «Erst wenn Wissenschaft und Technik, Politik und Wirtschaft gemeinsam erkannt haben, dass der Schutz der Umwelt nicht nur eine Polykrise, sondern ein Investitionsmodell sein kann, wird aus dem Protest und der Verzweiflung ein Schub der Innovation und Problemlösung.»

Naturverlust bis 2030 stoppen
Das Versprechen ist also, dass Naturschutz nicht nur ein abstraktes gutes Geschäft für die Zukunft ist, sondern ein ganz konkretes und renditeträchtiges für die Gegenwart. Statt starker Regulierung will die Nature-Positive-Initiative (NPI) Investitionen im privaten Sektor ankurbeln, um die Natur nicht nur zu schützen, sondern ihr sogar bei der Erholung zu helfen. Die NPI entstand aus einem Netzwerk von Umweltorganisationen, Plattformen für nachhaltige Wirtschaft und Forschenden und wird vom ehemaligen WWF-International-Chef Marco Lambertini geleitet. Ihr Ziel ist, ein ehrgeiziges, wissenschaftlich fundiertes und messbares globales Ziel für die Natur zu definieren und dieses international zu verankern. Konkret soll der Naturverlust bis 2030 gestoppt und umgedreht werden, mit einer «vollständigen Wiederherstellung bis 2050». Schon 2030 soll es in der Welt wieder «mehr Natur» als im Jahr 2020 geben, mit einer weiteren kontinuierlichen Erholung in den Folgejahren.
Zentral dabei sind Messgrössen für «Natur», denn die Initiative verspricht «positive outcomes», also positive Ergebnisse, und muss diese natürlich auch quantifizieren können. Bemessen werden etwa die Erhaltung und Wiederherstellung von Arten, Ökosystemen sowie natürlichen Prozessen auf allen Ebenen (global, national und einzelne Landschaften betreffend). Bei den Beispielen für diese Grössen wird es rasch unübersichtlich: Es kann da um die Verteilung oder das Aussterberisiko von Arten gehen wie um die «ökologische Integrität von Lebensräumen», um Migrationsmuster genauso wie um die Bindung und Speicherung von CO2.

Der Schutz von Natur soll ein Marktfaktor ­werden,  damit am richtigen Ort investiert wird. Die Wirtschaft würde so selbst für die nötige Finanzierung sorgen.


Kaum Belege für Wirksamkeit
Die konkreten Vorschläge, wie man diese Messgrössen positiv beeinflussen kann, beziehungsweise wie man die Wirtschaft dazu bringen kann, nicht weiterhin negativ zu wirken, sind so innovativ dann leider nicht. Sie bedienen sich zumeist der Offset-Logik, die man bereits gut von Klimakompensationen kennt: Wenn man CO2-Emissionen an einem Ort nicht reduzieren kann (oder will), dann bleibt immerhin noch die Möglichkeit, das eigene umweltschädliche Verhalten irgendwo sonst aufzufangen. Das soll nun auch beim Naturschutz Richtschnur werden. Der Schutz von Natur soll also ein Marktfaktor werden, damit am richtigen Ort investiert wird. Die Wirtschaft würde so selbst für die nötige Finanzierung sorgen.
Das Konzept ist nicht ganz neu, in Fachkreisen wird es schon seit einiger Zeit unter dem Begriff «no net loss» (NNL, kein Nettoverlust) verhandelt. Funktioniert das? Schon bei diesem bescheideneren Ziel eines Nullsummenspiels – also noch nicht einmal «nature positive» – sind Zweifel angebracht: Forschende der Universität Kent haben unlängst einen Übersichtsartikel zur ökologischen Wirkung solcher auf der ganzen Welt verteilten NNL-Kompensationsmassnahmen für die Biodiversität publiziert und kamen zum eher ernüchternden Resultat, dass es «eine erhebliche Diskrepanz zwischen der weltweiten Umsetzung von NNL und der Evidenzbasis für die ökologische Wirksamkeit» gebe. Darf man verkürzen? Das mit «no net loss» funktioniert in der Praxis kaum, jedenfalls gibt es nur sehr spärliche (und bestenfalls punktuelle) wissenschaftliche Evidenz für konkrete Erfolge.

Die Kraft der Utopie
Überrascht das wirklich? Beim CO2 bekommen wir die (Nicht-)Wirksamkeit von Kompensationsmassnahmen ja seit Jahren vorgeführt. Die Idee mochte ja auch da im Prinzip bestechend sein, doch bei der markt­wirt­schaftlichen und politischen Umsetzung harzt es gewaltig. Der Kompensationshandel hat jedenfalls nicht dazu geführt, dass die Emissionen global im gewünschten Mass zurückgegangen wären. Deshalb warnten Umweltwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler anlässlich des Nature-Positive-Summits in einem Meinungsartikel im Wissenschaftsmagazin «The Conversation» vor der Gefahr einer zahnlosen Nature-Positive-Politik. Denn es könnte gut sein, dass sie Anreize schafft, «den Lebensraum der am stärksten bedrohten Arten zu zerstören und ihn durch andere, leichter zu ersetzende Artenvielfalt zu ersetzen – solange es insgesamt mehr ‹Natur› gibt». Die Versuchung werde gross sein, sich auf gut sichtbare «easy wins» zu konzentrieren (wie Magerweiden, kompostierbare Verpackungen, vegetarische Menus als Grundauswahl). Das sei alles gut und recht. «Aber für eine globale Erholung der Natur müssen wir den schwierigen Problemen ins Auge sehen und uns mit Optimismus, Realismus und angemessener finanzieller und institutioneller Unterstützung zu systemischen Veränderungen verpflichten.»

Systemische Veränderungen, das klingt dann allerdings nach einem radikaleren Kurswechsel. So etwas hätte im Prinzip ja auch utopisches Potenzial, wenn man denn daran glauben würde. Eines jedenfalls haben die Initiatoren der Nature-Positive-Bewegung gut erkannt: dass es letztlich vor allem um Narrative geht. In Naturschutzkonzepten steckt eben notorisch wenig Utopie drin, stattdessen dominiert konservativ-bewahrendes Denken. Und das ist ein Problem. Wie der Politologe und Publizist Johano Strasser in einem Aufsatz im Sammelband «Utopien heute?» schrieb: «Ich denke, dass es nicht genügen kann, auf die Kant’sche Frage ‹Was dürfen wir hoffen?› zu antworten, wie es Hans Jonas tut: Als Gattung zu überleben […]. Damit die Menschen […] diese grosse Kraftanstrengung wagen, muss zu der Negativmotivation die Positivmotivation durch ein attraktives Bild einer alternativen Zukunft hinzukommen.» Blosses Abwenden einer Katastrophe, das zusehends verzweifelte Bewahren des Status quo, entwickelt keinen vergleichbaren Sog.
Also wagt die Nature-Positive-Bewegung die narrative Flucht nach vorn. Naturschutz als grosses Versprechen: eine Welt mit viel mehr Natur als heute. Aber wie bei vielen Utopien muss man aufpassen, dass man dabei nicht nur schöne Bilder, sondern auch konkrete Lösungen produziert. Oder wie es im erwähnten Artikel im Magazin «The Conversation» heisst: «Ja, Kompensationen können funktionieren – in speziellen Situationen. Sie können das Unersetzliche nicht ersetzen. Und vieles in der Natur ist unersetzlich.» Und da drängt sich ein anderer Slogan auf, der an Klimademos immer wieder auftaucht: «System change, not climate change».

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