Steve Abercombie erinnert sich noch genau an den Anruf. An einem heissen Julitag im Jahr 2020 war es, die Menschen schienen sich angesichts der immer extremeren Temperaturen nicht so recht zwischen Achselzucken und Panik entscheiden zu können. Steve ging im Londoner Greenpeace-Büro gerade seine Mails durch – als Kommunikationschef war er einer der wenigen, die auch im Sommer die Stellung hielten. Der Assistent nannte einen Namen und eine Firma in San Francisco, Steve hatte noch nie davon gehört, er nahm den Anruf trotzdem entgegen. Zehn Minuten später hatte sein Leben eine entscheidende Wendung genommen, aber noch wusste er das nicht. Als er aufhängte, hatte er tausend Fragen und einen Termin für den nächsten Tag in einem edlen Hotel in der Innenstadt.
Kleinhertz Johnson Williams, KJW. Die Website der Firma kam genauso hochtrabend und vage daher wie das, was Jeff Johnson ihm am Telefon skizziert hatte. «Leading the world economy into a different, progressive future.» Sie seien im Leveraged-Buyout-Business tätig: Firmenübernahmen, Kontrolle über das Management, Umstrukturierungen hin zu einer klimafreundlichen Geschäftspraxis. Die Take-over seien vielleicht mitunter ein wenig «unfriendly», sagte Johnson (er sprach das Wort seltsam distanziert aus), aber eines sei sicher: «Was das Klima angeht, sind wir ausgesprochen freundlich.» Und sie bräuchten einen Kommunikationsprofi, einen, der etwas von Wirtschaft und Umwelt verstehe.
Bevor er bei Greenpeace eingestiegen war, hatte Steve ein paar Jahre auf dem Londoner Finanzplatz gearbeitet, sinnleere, bestens bezahlte Jobs, bis ihm jemand von der Kommunikationsstelle bei Greenpeace erzählt hatte. Steve sagte immer, es habe sich so angefühlt, als hätte der Job ihn gewollt und nicht umgekehrt. Er liebte seine Arbeit und dachte, Johnson wolle ihn für irgendein Beratungsmandat anheuern, was er höflich und mit einem Lächeln ablehnen würde. Bloss noch mehr heisse Luft.
Als sie sich am nächsten Tag in der Hotellobby gesetzt und die üblichen Nettigkeiten ausgetauscht hatten («Friends call me JJ», sagte Johnson zur Begrüssung. Sind wir denn schon Freunde?, dachte Steve und nickte), kam JJ gleich zur Sache: «Steve, finden Sie, Sie können bei Greenpeace genug fürs Klima tun? » – «Aber ja, erst kürzlich haben wir erreicht, dass ein Kohlekraftwerk stillgelegt wird.» Nein, er meine, ob Steve glaube, dass die Weltwirtschaft den Umschwung hin zu netto null schaffen werde. «Das kommt auf die Politik an», antwortete Steve, «ich bin vorsichtig optimistisch.» Nun, er eher nicht, entgegnete JJ. Also, was die Politik angehe: zu träge, zu sehr auf Wähleranteile fixiert. «Wir haben keine Zeit mehr, um auf die Politik zu warten, Steve.»
Er erinnert sich noch genau, wie sie sich anschauten und schwiegen. Und wie er dachte: Dieser Mann in seinem edlen Zweireiher sieht so gar nicht nach einem Klimaaktivisten aus. «Ich glaube, wir sind uns da gar nicht so uneinig», sagte JJ noch und legte wortlos einen Vertrag auf den Tisch. «Moment», protestierte Steve, «ich brauche keinen neuen Job!» JJ stand auf und reichte Steve seine Karte. «Ich habe leider noch andere dringende Meetings. Schauen Sie sich den Vertrag an, und rufen Sie mich an. Wir brauchen Sie. Das Klima braucht Sie.» Was für ein Schaumschläger, dachte Steve, als er Johnson nachschaute. Das Klima braucht uns alle! Dann nahm er den Vertrag und begann zu lesen – und sank immer tiefer in seinen Ledersessel.
Am nächsten Tag schrieb er seine Kündigung. War es das Gehalt, das ihn lockte? Oder der zweite Anruf, in dem JJ ein wenig konkreter wurde? War es diese Mischung aus Grössenwahn und kühler klimapolitischer Vernunft, die aus jedem seiner Worte sprach? Einen Monat später schon zog Steve um, von London nach Kalifornien. Er nahm nur das Nötigste mit, seine Wohnung vermietete er unter. Er hatte überhaupt keine Zeit, am neuen Ort anzukommen, an seinem dritten Tag bei KJW ging die Nachricht raus: «Unbekanntes Finanzinstitut will Shell übernehmen».
Die Wogen gingen hoch. Steve wusste schon, dass die Methoden, die KJW anwandte, nicht über alle Zweifel erhaben waren. Findige Finanzjongleure hatten in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder neue Wege gefunden, eigentlich gesunde Firmen gegen den Willen des Managements zu übernehmen, umzustrukturieren und wieder zu verscherbeln. Die Volkswirtschaft hatte davon gar nichts, im Gegenteil: Nicht selten gingen in dem Prozess jede Menge Arbeitsplätze flöten.
Nun lernte Steve die Feinheiten der Branche kennen, die juristischen Winkelzüge, die Eigendynamik der Hebel, die, richtig im Markt angesetzt, auch mächtigste Brocken mit einer geradezu unheimlichen Leichtigkeit bewegen konnten. Steve staunte, wie dieses Business sich eher wie ein Uhrmacherhandwerk als wie ein Einbrecherjob mit Stemmeisen anfühlte. Und worüber er ebenso staunte: Sie konnten immer noch weitermachen, als hätte es die Finanzkrise nie gegeben. Der späte Neoliberalismus hatte den «activist shareholders» zwar ein katastrophales Image beschert, aber Regulationen gab es absurderweise fast nicht.
Abends, in den Bars, bei teurem Whisky (Was für ein Klischee, hatte Steve am Anfang gedacht und war dann doch immer öfter mitgegangen) erzählten JJ und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter gern, dass ihnen an den Pionieren der Branche beides gefallen habe, der Aktivismus ebenso wie die Gerissenheit. Als der Boom einige Jahre nach der Finanzkrise vorbei war und niemand mehr an die aggressive Geschäftspraxis glaubte, hatten sie begonnen, still neue Fonds aufzubauen, und sie überzeugten ihre Geldgeber eben mit jenem Aktivismus, der bis dahin nur hohle Phrase gewesen war: Gebt uns euer Geld, und wir tun etwas fürs Klima.
Die Jongleure des Finanzcrashs hatten vorgemacht, wie es geht, egoistisch bis zum Gehtnichtmehr. Let’s do it again, für eine bessere Welt. Und sie hatten tatsächlich immer mehr reiche Leute, die gerne an diesen Übernahmen mitverdienen wollten: Silicon-Valley-Millionäre vor allem, Digitalpioniere, die sowieso alles toll fanden, was nach Disruption klang.
Rasch wurde klar: Shell wurde zur Pièce de Résistance für die Idee. Bislang waren die Ökoversprechen des Konzerns im Grunde Makulatur gewesen, doch KJW schlug einen radikalen Umbau vor, raus aus dem Öl, hin zu sauberen Energien. Kein Stein blieb auf dem anderen, Widerstand formierte sich, KJW wurde angegriffen und musste sich als Klima-David gegen die Karbon-Goliaths inszenieren. Das war Steves Job. Feindliche Übernahmen? Da griffen nach wie vor die alten Feindbilder, doch er schaffte es, die Narrative umzudeuten: KJW wurde in der öffentlichen Wahrnehmung zum Robin Hood, zum selbstlosen Kämpfer für das Gute. Stimmte zwar nicht ganz, weil alle bestens an den Deals verdienen, aber das stand nun nicht mehr im Zentrum. Die Story war eine andere – und damit schmolzen nach und nach die Widerstände in den Aufsichtsräten, bei den Aktionärinnen und Aktionären.
Nach nur fünf Jahren war Shell nicht mehr wiederzuerkennen, nun steckte man das Kapital in riesige Solarkraftwerke und im kleinen Massstab in die Gewinnung von Strom aus Wind und Wellen, Megastrukturen neben partizipativen Modellen. Es war nach wie vor ein sehr profitables Business; manch ein Klimapolitiker rieb sich die Augen. Die Fondskasse von KJW füllte sich mehr und mehr, die grosse Einkaufstour konnte beginnen, KJW hatte immer mächtigere Hebel zur Verfügung.
Inzwischen ist Steve Abercombie Mitte fünfzig, und die Welt hat den CO2-Ausstoss gerade noch in den Griff bekommen. Und er hat einen kleinen Anteil daran. Er sitzt in seinem Büro in San Francisco, schaut aus dem Fenster über die Bay und überlegt sich, wieder einmal Ferien zu machen. Vielleicht sogar irgendwohin fliegen? Virgin fliegt ja seit Neustem elektrisch.