Vor einem Jahr haben die Abgeordneten des Waadtländer Grossen Rates ein Postulat angenommen, das das Bruttoinlandsprodukt durch das «Waadtländer Bruttoglück» ersetzen möchte. Der überraschende Entscheid kam mit einer knappen Mehrheit zustande – auch mit Unterstützung von Bürgerlichen. Ein ähnliches Projekt wird derzeit in Genf geprüft.
Eine Stelltafel auf dem Trottoir weist darauf hin, dass Ratsuchende an diesem Nachmittag willkommen sind: «amm Café Med. Wir unterstützen Sie bei medizinischen Entscheidungen. Persönlich. Unabhängig. Kostenlos», steht darauf. Nicht in eine Praxis treten die Menschen durch die Tür hinter der Tafel, sondern ins gemütliche Café Neumärt, das auch an diesem Nachmittag für alle offen ist. In fast jeder grösseren Schweizer Stadt gibt es seit ein paar Jahren ein Café-Med-Angebot. Pensionierte Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen sowie eine Psychologin und eine Sozialarbeiterin sind einmal im Monat vor Ort und nehmen sich Zeit für Menschen und ihre medizinischen Fragen und Unsicherheiten – in Zürich sogar zweimal.
Es ist kurz vor 15 Uhr, bald geht es los. Im Café mit Spannteppich sind die einen in ein intimes Gespräch vertieft, andere über eine Zeitung oder ein Handy gebeugt. Etwas aussergewöhnlich mutet hier einzig die Gruppe distinguierter Männer und Frauen an, die in einer hinteren Ecke des Lokals um drei Tische herum sitzen. Wie sie miteinander sprechen und zugleich dem Raum und dem Geschehen zugewandt sind. Es sind die neun Medizinerinnen und Mediziner, die hier während der nächsten drei Stunden Menschen zuhören werden.
Eine von ihnen ist die Gynäkologin Brida von Castelberg, die während zwanzig Jahren die Frauenklinik des Zürcher Stadtspitals Triemli geleitet hat. Mit ihnen sind Ärztinnen und Ärzte für innere Medizin, Kardiologie und Orthopädie im Café da, auch eine Chirurgin, eine Neurologin und ein Nieren-Facharzt.
Den Medizinerinnen und Medizinern stehen in diesem Raum keine Instrumente und keine Technik zur Verfügung, auch Körperbegutachtungen sind hier eher schwierig. Aber sie haben Zeit. Und offene Ohren. Sowie ihr grosses Wissen. «Wir untersuchen nicht», sagt Brida von Castelberg, «wir geben auch keine Zweitmeinung. Wir hören zu und beraten.»
Steigende Kosten wegen fehlender Hausärztinnen und -ärzte
Béatrice Guggenbühl steht in der Nähe des Eingangs an einem Stehtisch. Die Sozialarbeiterin macht die Triage – fragt also, mit welchem Anliegen die Person kommt, und weist sie der einen oder andern Fachperson zu. Von den Ratsuchenden, die kommen, sind einige im Pensionsalter, aber es hat auch jüngere.
Kurz nach 15 Uhr tritt Béatrice Guggenbühl erstmals mit einem Blatt, auf dem sie Namen und Themen notiert hat, an den Tisch, an dem Brida von Castelberg mit einer Kollegin sitzt, und sagt: «Die erste Patientin hat Fragen zur Hormonersatztherapie.» Von Castelberg nickt, erhebt sich und geht zu der Frau hinüber. An den Nebentischen sitzen plaudernde Café-Gäste – kein Problem. Nach einer kurzen Begrüssung erzählt die Frau, nennen wir sie Sabine Pauli, von ihren Hormonpräparaten und von chronischen Schmerzen. Brida von Castelberg hört aufmerksam zu, nickt, stellt Verständnisfragen. Sie geht auf Paulis Fragen zu den Medikamenten ein und spricht mit ihr über Brust- und Gebärmutterkontrollen. Pauli hört aufmerksam zu, nickt oft, fragt ihrerseits nach, erzählt wieder. Nach gut zwanzig Minuten bedankt sie sich sichtlich erleichtert, drückt die Hand der Ärztin und wartet auf die Neurologin, mit der sie ebenfalls noch kurz sprechen möchte. «Viele haben heutzutage keinen Hausarzt mehr», wird Brida von Castelberg später sagen und dass das ein Problem sei: «Zuallererst für die Betroffenen, aber auch für unser Gesundheitssystem, dessen Kosten stetig steigen.»
Die «NZZ» verglich vergangenes Jahr die Zahl der praktizierenden Hausärztinnen und Hausärzte in der Schweiz mit der Empfehlung der OECD für eine gute Versorgung und kam zum Schluss, dass hierzulande rund 4000 Hausärztinnen und Hausärzte fehlen. Das komme nicht von ungefähr sagt eine der auf ihren Einsatz wartenden Ärztinnen, und eine andere: «Sie werden überrannt und verdienen deutlich weniger als Spezialisten.» Das ist fürs Gesundheitssystem als Ganzes ungünstig, denn: «Hausärztinnen und Hausärzte sind Schaltstellen. Sie kennen die Patientinnen und Patienten am besten und können – unabhängiger als Spezialistinnen – beurteilen, ob es einen bestimmten, teuren Eingriff wirklich braucht und ob ein solcher zum Besten der Patientin ist.» Die Anreize, unnötige Behandlungen durchzuführen, seien bei Hausärzten weniger gross, sagt auch Brida von Castelberg.
Patientinnen und Patienten mutierten zu Einnahmequellen
Es war unter anderem der Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten, der sie zusammen mit der Psychotherapeutin und Präsidentin des Vereins Akademie Menschenmedizin (amm) Annina Hess-Cabalzar vor acht Jahren dazu bewegte, das «amm Café Med» zu gründen. Aber sie taten es auch, weil sie beobachten mussten, wie der Mensch im Gesundheitswesen «immer mehr durch die Brille von Wettbewerb und Leistung betrachtet wird», stellt Annina Hess-Cabalzar fest. In dieser Logik werde der Mensch zur Ware. Die Einführung der Fallpauschale 2012 habe zu einem Paradigmenwechsel geführt: «Die Patientinnen und Patienten mutierten von Hilfesuchenden zu Einnahmequellen, die bewirtschaftet werden müssen. Zu den Systemfehlern gehören Fehlanreize mit daraus folgender Mengenausweitung und wachsendem Misstrauen.» Auch deshalb brauche es immer mehr Administration, sagt die Initiantin der «amm». Dass diese radikal reduziert wird, ist eine der Forderungen, die die «amm» letztes Jahr in Form eines Manifests publizierte (siehe Kasten).
Mit dem «amm Café Med» halten Hess-Cabalzar, von Castelberg und weitere gestandene Fachpersonen auch ganz konkret und niederschwellig der kostentreibenden Entwicklung etwas entgegen. Einzig um die Menschen soll es hier gehen, um ihre Gesundheit, ihre Fragen und Unsicherheiten. Patientinnen und Patienten wüssten heute ja oft nicht einmal mehr, ob das, was ihnen empfohlen und verschrieben wird, wirklich zu ihrem Besten sei, sagt Annina Hess-Cabalzar. «Und wenn Sie als Patientin oder Patient nicht mehr unterscheiden können, ob eine Operation, Medikation oder Radiologie aus kommerziellen Gründen vorgeschlagen wird oder aus medizinischen, ob sie Ihrer Situation angepasst ist oder nicht – dann haben wir als Gesellschaft ein Riesenproblem. Ich würde auch sagen: eine Vertrauenskrise.»
«Das Interesse an der Medizin verliert sich nach der Pensionierung nicht»
Pius Senn (auch seinen Namen haben wir geändert) ist ins Café Med gekommen, weil er Wundschorf im Gesicht hat, der nicht mehr weggeht. Als Kind habe er starke Akne gehabt, der damalige Arzt behandelte sie mittels Bestrahlung. «Ich hatte in meinem Leben deshalb schon fünf oder sechs Krebsgeschwüre im Gesicht, die zum Glück keine Ableger machten. Aber es ist dieses Mal kein Krebs, oder? Ich muss nicht wieder zum Dermatologen gehen?», fragt der ältere Mann den Arzt, der ihm vis-à-vis sitzt, unsicher, aber eindringlich. Dieser lehnt sich nach kurzem Vorbeugen und Betrachten wieder zurück und sagt dann sanft, aber klar: «Doch. Sie sollten das bald zeigen.» Dann bleibt er noch sitzen, um dem geknickten Pius Senn seine weiteren Fragen zu beantworten.
Nach 17 Uhr packen jene Ärztinnen und Ärzte, die nicht mehr am Beraten sind, langsam ihre Sachen zusammen. Schon in zwei Wochen werden einige von ihnen wieder da sein. Warum engagieren sie sich im Pensionsalter auf diese Weise – mit der Verpflichtung auch, bei den medizinischen Entwicklungen stets auf dem Laufenden zu bleiben, Studien und Berichte zu lesen? Das Interesse an der Medizin verliert sich nach der Pensionierung ja nicht einfach, sind sich die anwesenden Ärztinnen und Ärzte einig – und es sei schön, etwas vom eigenen Wissen weitergeben zu können. Ausserdem treffe sie hier Berufskollegen, sagt eine: «Dieser Austausch ist interessant. Ich tue so auch mir etwas Gutes.» Und jemand sie noch: «Hier kann ich so arbeiten, wie ich mir das immer gewünscht hatte, ohne wirtschaftlichen und zeitlichen Druck. Alles Administrative fällt weg. Ich kann mich voll und ganz auf die Menschen konzentrieren. Das ist das, was ich immer schon am liebsten machte. Es ist die Essenz der Medizin.»