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13.03.2019 von Daniel Bütler

Die Schweiz ist familienfeindlich

1945 schrieb sich die Schweiz eine Mutterschafts­versicherung in die Verfassung – umgesetzt wurde sie sechzig Jahre lang nicht. Und noch heute ist die Schweiz im internationalen Vergleich nirgendwo bei der ­Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Warum, erläutert Historikerin Elisabeth Joris.

Artikel in Thema Frauen und Geld
Titelbild: Claudine Etter
Ein Montagvormittag in einem Stadtzürcher Café, Interview mit der Historikerin Elisabeth Joris. An den Nebentischen sitzen viele Mütter mit Kleinkindern. Ein betreuender Vater ist nicht zu sehen. Offizielle Zahlen zeigen: Zwar sind die meisten Kinder an manchen Tagen in einer Betreuungseinrichtung, aber «die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie ist in der Schweiz bis heute ein Frauenthema», sagt Elisabeth Joris, die später ihre Enkelinnen von der Schule abholen wird.
Dabei war die Schweiz in Sachen Frauenrechte einst Pionierin, wie die auf Frauengeschichte spezialisierte Zürcher Historikerin sagt. Schon im späteren 19. Jahrhundert forderten Frauen- und Arbeiterinnenvereine neben dem Frauenstimmrecht mehr Mutterschutz. Im Fabrikgesetz von 1877 wurde – international vorbildlich  – ein achtwöchiges Arbeitsverbot für Frauen nach der Geburt verankert. Damals waren hierzulande so viele Frauen ausserhäuslich erwerbstätig wie kaum sonst in Europa, vor allem der Textilfabriken wegen. Und die Schweiz verfügte laut Joris «über einen im Gegensatz zu heute fortschrittlichen linksliberalen Freisinn, der den Arbeiterinnenschutz unterstützte». Das Fabrikgesetz wurde vom Volk knapp angenommen. Allerdings sah es lediglich ein Arbeitsverbot vor, aber keine Entschädigung des Lohnausfalls oder Beteiligung an den medizinischen Kosten der Mutterschaft. Für die Arbeiterinnen war dies ein Problem. Für die anfänglich fortschrittliche Sozialpolitik markierte dann der niedergeschlagene Generalstreik 1918 den Wendepunkt. Von nun an wurden linke Anliegen hart bekämpft. Immerhin konnte noch die AHV realisiert werden.

Viermal vom Volk abgelehnt

Verbesserungen für den Mutterschutz brachte in vielen europäischen Staaten paradoxerweise der Zweite Weltkrieg. Deutschland etwa unterstützte nach Kriegsende Zehntausende von Witwen mit «Muttergeld». Auch in der Schweiz wurde 1945 der Mutterschaftsschutz gesetzlich verankert – auf dem Papier. Der von den Stimmberechtigten (ausschliesslich Männern) mit grosser Mehrheit angenommene Familienschutzartikel gab dem Bund den Auftrag, Familienzulagen und eine Mutterschaftsversicherung einzuführen. Während die Kantone Kinderzulagen in den nächsten Jahrzehnten realisierten, passierte bei der Mutterschaftsversicherung wenig, wie Joris sagt: «Man hatte zwar einen Familienartikel, aber umgesetzt wurde nur, was direkt den Männern in die Tasche floss – die Kinderzulagen wurden den Männern ausbezahlt.»
Ab Mitte der 1960er-Jahre deckte die Versicherung nun immerhin die medizinischen Kosten bei Mutterschaft. Mehr als diese Leistungen gab es aber nicht. «Kinderkriegen wurde vom Gesetzgeber wie eine Krankheit behandelt», sagt Joris. Eine Mutterschaftsversicherung mit Lohnfortzahlung nach der Geburt lehnte das Volk viermal ab: 1974, 1984, 1987 und 1999. Erst 2004 stimmten 55 Prozent einem bezahlten Mutterschaftsurlaub zu. Entscheidend war wohl, dass der Gewerbeverband nach langer Opposition auf die Ja-Seite gewechselt hatte und die Leistungen minimal gehalten wurden. Seither erhalten erwerbstätige Mütter während 14 Wochen 80 Prozent ihres vorherigen Lohnes. Mütter ohne Einkommen gehen leer aus. Viele andere Länder kennen mehrmonatigen Urlaub für Mütter und Väter.

Gewerkschaften bremsten Frauenanliegen

Dass der Mutterschaftsurlaub bei uns so spät eingeführt wurde, ist empörend – und vor dem Hintergrund der rechtlichen Stellung der Frau in der Schweiz wenig erstaunlich. Bis zur Einführung des Frauenstimmrechts 1971 hatten Frauen keine Lobby und waren im politischen Leben kaum präsent. Der Mutterschaftsschutz kam erst dank der neuen Frauenbewegung in den 1970er-Jahren wieder aufs politische Parkett.
Zwar unterstützte die Linke Frauenanliegen, doch die Gewerkschaften blieben passiv. «Sie waren konservativ und systemkonform, konzentrierten sich aufs Ernährer-Lohn-Modell und versuchten, mit Gesamtarbeitsverträgen höhere Mindestlöhne für Männer durchzubringen», sagt Elisabeth Joris. «In Bezug auf Frauenanliegen bremsten sie. Manche Gewerkschaften verboten den Frauen sogar, «Männerberufe» wie Tramführer oder Uhrmacher auszuüben. Die Männer an der Spitze der Gewerkschaften waren lange mehrheitlich ‹rote Patriarchen›.»

Abwehrhaltung gegen Menschen- und Frauenrechte

Beigetragen zum schweizerischen Geschlechterkonservatismus hat laut Joris, dass das Land vom Krieg verschont blieb. Es gab keine gesellschaftlichen Brüche, die alten männlichen Eliten konnten an der Macht bleiben. Während sich in anderen Ländern nach 1945 die Politik unter Beteiligung der Frauen neu formierte, dominierte in der Schweiz eine Haltung der «Selbstgenügsamkeit»: «Man sagte sich: Dass es uns so gut geht, ist unser Verdienst und der unseres Systems. Daran wollen wir nichts ändern.» So entwickelte sich eine starke Abwehrhaltung gegen Menschen- und Frauenrechte. Der Uno blieb die Schweiz fern, internationale frauenrechtliche Abkommen ratifizierte sie nicht. Dank dem hohen Wohlstand konnte man es sich leisten, Frauen von der Erwerbstätigkeit fernzuhalten. Bremsend wirkte auch die direkte Demokratie: Wurden mutterschaftsfreundliche Vorstösse im Parlament angenommen, scheiterten sie an der Urne.
Im jahrzehntelangen Kampf um den Mutterschaftsurlaub habe das Hauptargument der Gegner gelautet: «Die Mutter muss zu Hause bei den Kindern sein», sagt Regina Wecker, emeritierte Geschichtsprofessorin der Universität Basel und Spezialistin für Geschlechterforschung. Damit verknüpft sei die Vorstellung einer ländlichen Schweiz mit traditionellen Familienbildern: Eine Mutter geht keiner Erwerbsarbeit nach. Die SVP pflege dieses Familienbild bis heute. Mit dem SVP-Propagandabegriff «Staatskinder» verbunden sei die Botschaft: «Die Familie ist Privatsache. Eine staatliche Unterstützung können und wollen wir uns nicht leisten.»

Auch der Vaterschaftsurlaub hat einen schweren Stand

Der Mutterschaftsurlaub sei von einer Koalition von Konservativen und Wirtschaftsliberalen verhindert worden, fasst Joris zusammen: «Die Konservativen wollten das Patriarchat schützen und die Erwerbstätigkeit der Frau verhindern. Die Wirtschaftsliberalen stellten sich gegen jede Ausdehnung der ‹Soziallasten›, wozu Beiträge an Familien gezählt werden.» Heute vertrete die SVP den Konservatismus und den Wirtschaftsliberalismus in Personalunion.
Die Rechtspartei bekämpft auch den Vaterschaftsurlaub. In der Schweiz bekommt heute ein Mann gleich viel Urlaub für ein neu geborenes Kind wie für einen Wohnungswechsel: einen Tag. Bisher sind Vorstösse für eine weniger familienfeindliche Lösung auf nationaler Ebene gescheitert. 2017 hat ein Zusammenschluss von Frauen-, Männer- und Familienorganisationen eine Volksinitiative für einen 20-tägigen Vaterschaftsurlaub eingereicht. Das Parlament ist aktuell daran, einen Gegenvorschlag auszuarbeiten.

Noch weit entfernt von der Gleichberechtigung

Die Situation der Mütter bleibt ungenügend: In internationalen Rankings zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf landet die Schweiz regelmässig auf den hinteren Rängen. Heute gehen hierzulande rund 80 Prozent aller Frauen einer Erwerbsarbeit nach – fast alle Mütter in Teilzeit. Die grosse Mehrheit der Väter dagegen arbeitet nach wie vor Vollzeit. Ein Urlaub für beide Elternteile, der es ermöglichen würde, die Betreuungsarbeit besser zu verteilen, ist noch weit davon entfernt, mehrheitstauglich zu sein, so wie weitere familienfördernde Massnahmen. Von Gleichberechtigung seien wir noch weit entfernt, resümiert Elisabeth Joris: «Frauen tragen immer noch die Hauptverantwortung für die Familie. Wenn die Kinder krank sind, müssen sich die Mütter organisieren, nicht die Väter. Die Rollenverteilung ist immer noch dieselbe.»
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