In einem idealen Markt gibt es ein Gleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot. Steigt die Nachfrage, versucht die Angebotsseite, diese mit einer Mengenausweitung zu befriedigen. Das kann dazu führen, dass irgendwann das Angebot die Nachfrage übersteigt. In der Regel fallen dann die Preise, damit im besten Fall die Nachfrage wiederbelebt wird. Die Gesundheitsbranche ist weit entfernt von einem idealen Markt. Registrieren Spitäler oder Arztpraxen einen Rückgang der Nachfrage, senken sie nicht die Preise. Stattdessen führen sie mehr Behandlungen, Tests und Untersuchungen durch, um kein Sparprogramm durchführen zu müssen. Sie machen also das Gegenteil von dem, was ein Akteur in einem idealen Markt tun würde. In einem idealen Markt prüfen Hersteller ihre Kosten und streben nach Effizienz, um Verluste zu vermeiden. In der Gesundheitsbranche fehlt dieser Anreiz. Spitäler und Arztpraxen müssen nicht effizienter werden, da jede ihrer Leistungen ein Preisschild hat, das vom Staat definiert wurde. Einmal Blut entnehmen: 17 Franken und 10 Rappen.
Tarifsystem schafft Fehlanreize
Dahinter steht ein Tarifsystem namens Tarmed. Dieses verhindert zwar, dass die Ärztinnen den Preis für eine medizinische Leistung einfach erhöhen, wenn sie weniger Patienten haben. Es führt aber auch dazu, dass Arztpraxen oder Spitäler die Quantität erhöhen können: Hier noch ein Bluttest, dort ein Röntgenbild. Dass bei einem Überangebot die Preise sinken könnten, müssen sie nicht befürchten. Und die Patientinnen werden sich kaum wehren, schliesslich könnte es ja etwas Ernsthaftes sein. Die Wissenschaft spricht hier von einem «Informationsvorsprung der Leistungserbringer». Er ermöglicht es der Ärztin, für einen Teil des Marktes die Nachfrage selber zu bestimmen. Der Bundesrat hat Tarmed bereits einmal überarbeitet, doch die Fehlanreize sind geblieben, die Gesundheitskosten weiter angestiegen. Nun setzt die Politik auf ein neues System. Es heisst Tardoc und soll in Kombination mit ambulanten Pauschalen ab 2026 einen weiteren Kostenanstieg verhindern.
Das Problem dabei: Das gesamte System mit seinen einzelnen Tarifen wird von der Branche selbst gestaltet. Die Vertreter von Spitälern, Krankenkassen, Pharmaindustrie und der Ärzteschaft diskutieren seit vielen Jahren. Sie haben keine Eile, ein System richtig zu reformieren, von dem sie künftig weniger profitieren sollen. Und selbst wenn die Leistungserbringer zu einer Einigung finden: Tardoc wird die Gesundheitskosten nicht senken können. Im allerbesten Fall steigen sie nicht mehr so stark wie bisher. Ausserdem herrschen weiter Fehlanreize: «Auch Tardoc ist lediglich eine Einzelleistungsvergütung, was bedeutet, dass man nichts verdient, wenn man nichts macht», sagt der Gesundheitsökonom Heinz Locher, der sich seit Jahrzehnten mit dem Schweizer Gesundheitssystem beschäftigt. «Wie man die Körner streut, so laufen die Hühner.»
Auf der falschen Ebene geregelt
In der Schweiz gibt es gegen 180 Spitäler sowie 100 Rehabilitations- und psychiatrische Kliniken. Im internationalen Vergleich ist das sehr viel. Die Stadt London verfügt mit einer ähnlichen Bevölkerungszahl von 8,5 Millionen über 39 Spitäler. Die hohe Spitaldichte in der Schweiz führt zu einem Überangebot und dazu, dass einige Spitäler schlecht ausgelastet sind und zu viele unnötige Behandlungen durchführen. Jedem Tälchen sein Spitälchen, war lange das Motto. Die Spitäler sind Sache der Kantone. Und viele Regierungsräte machen lieber nichts, als dass sie womöglich einen Schaden anrichten. Wer will schon sein Amt riskieren, während er oder sie gegen die steigenden Gesundheitskosten vorgeht. Das würde nämlich bedeuten, dass sie unnötigen Spitälern den Hahn zudrehen.
Das Gesundheitswesen ist auf der falschen Ebene geregelt, sagt Gesundheitsökonom Locher: «Die Regionalpolitik ist mächtig. Da versagen auch die Parteien. Sie kuschen in den Regionen, während sie auf nationaler Ebene grosse Reden schwingen.» Gekuscht wird aber auch im nationalen Parlament. Viele Parlamentsmitglieder sind mit der Gesundheitsbranche verbandelt. Sie vertreten im National- und Ständerat Partikularinteressen, anstatt sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Laut der Plattform Lobbywatch weisen die Mitglieder der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit über siebzig Mandate aus dem Gesundheitswesen auf. Das sind teilweise unbezahlte Mandate in Vereinen und Stiftungsräten, aber auch lukrative Verwaltungsratssitze in Spitalgruppen und Krankenkassen. Die lukrativen Posten besetzen praktisch ausschliesslich Parlamentarier von SVP, Mitte und FDP. Etwa Mitte-Nationalrat Lorenz Hess, der als Verwaltungsratspräsident der Krankenkasse Visana amtet, Mitte-Ständerat Erich Ettlin, der im Verwaltungsrat der Krankenkasse CSS sitzt, SVP-Nationalrat Thomas de Courten, Präsident des Lobbyverbandes Intergenerika, oder FDP-Ständerat Damian Müller, der Präsident des Verbandes Swiss Medtech ist.
Die Pharmaindustrie will die Preise selber bestimmen
Das Schweizer Gesundheitswesen ist ein riesiger Markt. Jede zwölfte Person arbeitet in der Branche, die als grösste Arbeitgeberin im Land gilt. Zwölf Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung gibt die Schweiz jedes Jahr für Gesundheit aus. Das sind pro Kopf rund 10 000 Franken, die über die Steuern, die Krankenkassenprämien oder direkt aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Dieses Geld teilen sich auf: Spitäler, Arztpraxen, Physiopraxen, Pharmakonzerne, Medizinalfirmen, Psychiatrien, Apotheken, Labors und Krankenkassen. Sie alle üben – mit unterschiedlichen Mitteln – ihren Einfluss auf Politik und Verwaltung aus, um zwei Dinge zu erreichen: so wenig Regulierung wie möglich und so viele Leistungen wie möglich in der Grundversicherung.
Besonders erfolgreich sind die Pharmaunternehmen. Wegen der hohen Kaufkraft in der Schweiz bieten sie hier ihre Medikamente flächendeckend zu deutlich höheren Preisen an als im Ausland. Würden Arzneimittel parallel importiert, könnten die Gesundheitskosten gesenkt werden. Doch der letzte Versuch im Parlament, Parallelimporte zu vereinfachen, wurde im Dezember 2021 ohne Diskussion im Ständerat versenkt. Bei einer Mehrheit der Kantonsvertreter verfing ein diffuses Argument der Pharmalobbyistinnen: die fehlende Patientensicherheit.
Mehrere Versuche, die Unternehmen zu Preissenkungen zu zwingen, scheiterten bisher an der bürgerlichen Mehrheit. Ein Vorstoss, der Mengenrabatte bei Medikamenten mit grossem Marktvolumen möglich machen will, ist derzeit im Parlament hängig. Gleichzeitig versucht aber der Branchenverband Interpharma mithilfe gutgesinnter Volksvertreter das Gesetz so anzupassen, dass die Pharmaunternehmen die Preise künftig selber bestimmen können.
Neben der Pharmabranche ist die Ärzteschaft mit ihrem Berufsverband FMH einer der mächtigsten Akteure im Gesundheitssystem. Die FMH geniesst das Privileg, die Preise des neuen Tarifmodells Tardoc aktiv mitgestalten zu dürfen. Die Verhandlungspartner haben dem Bundesrat schon vier verschiedene Tardoc-Varianten zur Genehmigung vorgelegt. Viermal lehnte der Bundesrat ab, hauptsächlich, weil die Ärzteschaft tiefere Tarife verweigert. Sie hat gute Argumente auf ihrer Seite: Wenn die Politik Einsparungen vorschlägt, warnt sie vor Zweiklassenmedizin und Qualitätseinbussen in der Behandlung. Zugleich sind die Ärzte in einer Branche tätig, die der scheidende Mitte-Präsident Gerhard Pfister im Bundesparlament einmal als «einzigartiges Perpetuum mobile der Selbstbedienung, ein Paradies für Geldgierige» bezeichnete.