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16.06.2021 von Marcel Hänggi

Das Auto und die Freiheit

Das Auto versprach im 20. Jahrhundert viel individuelle Freiheit: Jederzeit überallhin aufbrechen zu können, war der Traum vieler. Doch heute, wo die Schattenseiten dieses Traums überdeutlich werden, findet allmählich ein Paradigmenwechsel statt: Die neue Freiheit ist nicht im, sondern vom Auto.

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Illustration: Claudine Etter
Alle Verkehrsmittel seien gleichberechtigt zu behandeln, lautet ein Gemeinplatz in Verkehrsdebatten. Wer so argumentiert, suggeriert, Verkehrsmittel seien in erster Linie Werkzeuge der Mobilität. Doch eine solche Sichtweise kann viele Aspekte des automobildominierten Strassenverkehrs nicht erklären – beispielsweise, warum es nirgends sonst im öffentlichen Raum so viel Aggression gibt, die erst noch meist in krassem Missverhältnis zum Anlass steht. Da brechen sich offensichtlich tiefer liegende Frustrationen Bahn.
Das Auto ist vieles, bevor es Verkehrsmittel ist: Prestigeobjekt, Fetisch, Sportgerät, vor allem aber – ein grosses Freiheitsversprechen. Die Aggressionen im Verkehr lassen sich zu einem guten Teil damit erklären, dass dieses Versprechen so eklatant unerfüllt bleibt: Festgezurrt in einer Kunststoffschale, bewegt man sich im Gleichschritt mit anderen in einem Raum, der so reglementiert ist wie kein anderer Bereich des öffentlichen Lebens. Da schrumpft das grosse Versprechen, jederzeit sofort überallhin aufbrechen zu können, zur kleinen Freiheit zusammen, im Innenraum seines Gefährts tun und lassen zu dürfen, was man will. Die meisten Autofahrten sind nicht Aufbrüche, sondern täglich gleiches Hin und Her. 

Vom Freiheitstraum zum Mobilitätszwang

Der automobile Freiheitstraum begann um 1900 als Traum der Reichen. In der breiten Bevölkerung war die Akzeptanz des Autos angesichts exorbitanter Unfall­raten bis in die 1920er-Jahre gering. Deshalb lancierten Automobilverbände in der Zwischenkriegszeit Hand in Hand mit den autofreundlichen Behörden die Verkehrserziehung an Schulen. Man brachte den Kindern bei, dass sie auf der Strasse nicht spielen dürfen – etwas, was jahrhundertelang ihr selbstverständliches Recht gewesen war. Der um 1920 eingeführte Zebrastreifen bedeutete zunächst nicht: «Hier hast du Vortritt!», sondern: «Überall sonst hast du keinen Vortritt mehr!» Die potenziellen Opfer wurden nun in die Pflicht genommen, sich nicht überfahren zu lassen – und die Täter entsprechend entlastet. 
Der US-amerikanische Autopionier Henry Ford war der Erste, der den Traum der Reichen zum Traum aller machen wollte: Dank dem Fliessband konnte er Autos so billig herstellen, dass sich auch seine Arbeiter eines leisten konnten. Die italienischen Faschisten und die Nazis übernahmen das Versprechen von dem von Hitler bewunderten und Hitler bewundernden Autobauer: Mit dem Kraft-durch-Freude-Wagen – dem späteren VW Käfer – respektive dem Fiat 500 sollten alle auf den neu entstehenden Autobahnen die Schönheit der Na­tion er-fahren können. Freiheit im privaten Innenraum, während man sich im öffentlichen Raum in den Gleichschritt des automobilen Flusses einreiht: Das passte zur faschistischen Ideologie. 

Nach dem Krieg übernahmen Regierungen jeder politischen Couleur das Ziel des Autos für alle, und mit dem Wirtschaftswunder wurde es in den reichen Teilen der Welt realistisch. Roadmovies wurden zum populärkulturellen Ausdruck von Freiheitssehnsucht schlechthin. Es war die Blütezeit des automobilen Freiheitstraums: Noch war genug Platz, weil erst wenige ein Auto besassen, und doch durften alle davon träumen, künftig auch Autobesitzer oder Autobesitzerin zu sein. Autos wurden Ikonen: 1956 schwärmte der französische Zeichentheoretiker Roland Barthes vom «Gefühl der Leichtigkeit», das die Citroën DS auslöse. Die «Déesse» sei nicht mehr so massiv und aggressiv geformt wie die frühen Automobile, kein «Bestiarium der Kraft», sondern «humanisierte Kunst». 
Aber bald wurde der Platz knapp. Wie das den Automobilismus verändert hat, zeigt das Fahrzeugdesign: Heutige Autos sind die genaue Antithese zu Barthes’ Schwärmerei – luxuriös nach innen, schwer und aggressiv nach aussen; Bestiarien der Kraft. Freiheit, die man in solchen fahrenden Festungen sucht, ist keine Freiheit, die man teilt. Sondern eine, die man gegen andere behauptet.

Die Autowerbung nährt den Freiheitstraum bis heute, aber die Roadmovies haben ihre gute Zeit hinter sich, und in der politischen Debatte ist der Automobilismus in die Defensive geraten. Zu seiner Verteidigung wird heute vor allem vorgebracht, dass viele auf das ­Auto angewiesen seien: Man argumentiert nicht mehr mit einer Freiheit, sondern mit einem Zwang, dem man stattgeben müsse. Und tatsächlich ist, was man heute «Mobilität» zu nennen pflegt, oft nichts anderes als der Zwang, sich fortzubewegen. Das System Auto hat die Landschaft und unsere Lebensgewohnheiten radikal umgestaltet; es entstanden Siedlungen, in denen die Leute nur noch wohnen, arbeiten tun sie auswärts. Ohne Auto wären solche Schlafgemeinden nicht entstanden, und das Gerät, das ihren Bewohnerinnen und Bewohnern Bewegungsfreiheit zu gewähren scheint, hilft doch nur, dem Mobilitätszwang stattzugeben, den es geschaffen hat.

Freiheit vom statt im Auto

Die Freiheitsbilanz des Autos ist zweifelhaft aus der Sicht der Autonutzenden; aus der Aussensicht ist sie verheerend. In einem Land wie der Schweiz, das weder Diktatur noch Krieg erlebt hat, hat nichts in den letzten 100 Jahren so viel Freiheit zerstört wie das Auto: Der Strassenverkehr ist eine gigantische Sozialdisziplinierungsmaschine. Wer sich nicht disziplinieren lässt, riskiert, überfahren zu werden. Die Erziehungsmassnahmen, mit denen wir unseren Kindern das kindliche Verhalten im öffentlichen Raum abtrainieren, sind heute überlebensnotwendig. Im 20. und 21. Jahrhundert starben weltweit mehr Menschen im Strassenverkehr als in Kriegen, und wenn in den früh motorisierten Ländern die Zahl der Verkehrstoten seit 1970 abnimmt, so vor allem, weil sich die zu Fuss Gehenden unterworfen haben.
Sie haben sich der schieren Übermacht unterworfen. Rein physisch betrachtet, ist die Fahrerin eines durchschnittlich stark motorisierten Autos (150 PS) tausendmal so mächtig wie ein Fussgänger. Wer ein solches Gerät «gleichberechtigt» behandeln will, redet seiner Privilegierung das Wort. 
Wer aussen ist, ist schwächer. Doch die Stärke derer, die aussen sind, liegt vielleicht in dem Paradox, dass alle, die das Auto von innen wahrnehmen, aus allen anderen Autos heraus betrachtet auch aussen sind. Die Unfreiheit der Autofahrerinnen und Autofahrer rührt ja daher, dass jedes Auto jedem anderen ein Hindernis ist. Automobilistinnen und Automobilisten stellen sich die ideale Welt denn auch, vom eigenen Fahrzeug abgesehen, autofrei vor: Die typische Autowerbung zeigt das zu bewerbende Auto in autofreier Landschaft.
Nach 100 Jahren Verkehrspolitik aus der Innensicht gewinnt die Aussensicht auf das Auto langsam an Gewicht. Der Paradigmenwechsel geht von den Städten aus. «Autofreiheit» bedeutet heute die Freiheit vom Auto. In der Schweiz scheiterten allein im letzten Jahr mehrere Strassenbauprojekte: Der Rosengartentunnel in Zürich fiel in der Volksabstimmung durch, die Spange Nord in Luzern lehnten Stadtluzernerinnen und -luzerner konsultativ ab, den Westast Biel begrub der Berner Regierungsrat nach langem Widerstand. In Gent, Kopenhagen, Barcelona, Paris, Curitiba oder Oslo ist man mit der Autofreiheit schon wesentlich weiter.

Antifreiheitlich

Doch der Ruf des Autos als Gerät, das Freiheit schafft, hält sich gegen alle Evidenz, und gerade Politikerinnen und Politiker aus Parteien, die die Freiheit im Partei­namen führen, brandmarken Versuche, seine physische Übermacht zurückzubinden, als freiheitsfeindlich. 
Privilegien, an die man sich gewöhnt hat, werden von ihren Nutzniesserinnen und Nutzniessern als selbstverständliches Recht und mit Zähnen und Klauen verteidigt; Zwänge, an die man sich gewöhnt hat, werden oft selbst von ihren Opfern kaum mehr als solche erkannt. Der Kampf für den Erhalt überlieferter Privilegien ist bei allem Freiheitspathos, mit dem er geführt wird, in seinem Kern unfreiheitlich – beruht doch der Liberalismus auf der Überzeugung, dass man gesellschaftliche Verhältnisse nicht so hinnehmen muss, wie sie sind. 
Plakativer gesagt: Wer glaubt, Freiheit sei an der Geschwindigkeit zu messen, mit der sich die Starken auf Kosten der Schwachen fortbewegen dürfen, hat einen armseligen Freiheitsbegriff. 

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