Der automobile Freiheitstraum begann um 1900 als Traum der Reichen. In der breiten Bevölkerung war die Akzeptanz des Autos angesichts exorbitanter Unfallraten bis in die 1920er-Jahre gering. Deshalb lancierten Automobilverbände in der Zwischenkriegszeit Hand in Hand mit den autofreundlichen Behörden die Verkehrserziehung an Schulen. Man brachte den Kindern bei, dass sie auf der Strasse nicht spielen dürfen – etwas, was jahrhundertelang ihr selbstverständliches Recht gewesen war. Der um 1920 eingeführte Zebrastreifen bedeutete zunächst nicht: «Hier hast du Vortritt!», sondern: «Überall sonst hast du keinen Vortritt mehr!» Die potenziellen Opfer wurden nun in die Pflicht genommen, sich nicht überfahren zu lassen – und die Täter entsprechend entlastet.
Der US-amerikanische Autopionier Henry Ford war der Erste, der den Traum der Reichen zum Traum aller machen wollte: Dank dem Fliessband konnte er Autos so billig herstellen, dass sich auch seine Arbeiter eines leisten konnten. Die italienischen Faschisten und die Nazis übernahmen das Versprechen von dem von Hitler bewunderten und Hitler bewundernden Autobauer: Mit dem Kraft-durch-Freude-Wagen – dem späteren VW Käfer – respektive dem Fiat 500 sollten alle auf den neu entstehenden Autobahnen die Schönheit der Nation er-fahren können. Freiheit im privaten Innenraum, während man sich im öffentlichen Raum in den Gleichschritt des automobilen Flusses einreiht: Das passte zur faschistischen Ideologie.
Nach dem Krieg übernahmen Regierungen jeder politischen Couleur das Ziel des Autos für alle, und mit dem Wirtschaftswunder wurde es in den reichen Teilen der Welt realistisch. Roadmovies wurden zum populärkulturellen Ausdruck von Freiheitssehnsucht schlechthin. Es war die Blütezeit des automobilen Freiheitstraums: Noch war genug Platz, weil erst wenige ein Auto besassen, und doch durften alle davon träumen, künftig auch Autobesitzer oder Autobesitzerin zu sein. Autos wurden Ikonen: 1956 schwärmte der französische Zeichentheoretiker Roland Barthes vom «Gefühl der Leichtigkeit», das die Citroën DS auslöse. Die «Déesse» sei nicht mehr so massiv und aggressiv geformt wie die frühen Automobile, kein «Bestiarium der Kraft», sondern «humanisierte Kunst».
Aber bald wurde der Platz knapp. Wie das den Automobilismus verändert hat, zeigt das Fahrzeugdesign: Heutige Autos sind die genaue Antithese zu Barthes’ Schwärmerei – luxuriös nach innen, schwer und aggressiv nach aussen; Bestiarien der Kraft. Freiheit, die man in solchen fahrenden Festungen sucht, ist keine Freiheit, die man teilt. Sondern eine, die man gegen andere behauptet.
Die Autowerbung nährt den Freiheitstraum bis heute, aber die Roadmovies haben ihre gute Zeit hinter sich, und in der politischen Debatte ist der Automobilismus in die Defensive geraten. Zu seiner Verteidigung wird heute vor allem vorgebracht, dass viele auf das Auto angewiesen seien: Man argumentiert nicht mehr mit einer Freiheit, sondern mit einem Zwang, dem man stattgeben müsse. Und tatsächlich ist, was man heute «Mobilität» zu nennen pflegt, oft nichts anderes als der Zwang, sich fortzubewegen. Das System Auto hat die Landschaft und unsere Lebensgewohnheiten radikal umgestaltet; es entstanden Siedlungen, in denen die Leute nur noch wohnen, arbeiten tun sie auswärts. Ohne Auto wären solche Schlafgemeinden nicht entstanden, und das Gerät, das ihren Bewohnerinnen und Bewohnern Bewegungsfreiheit zu gewähren scheint, hilft doch nur, dem Mobilitätszwang stattzugeben, den es geschaffen hat.