moneta: Herr Welzer, unsere reichen westlichen Gesellschaften beruhen auf einem Wirtschaftssystem, das übermässig viele Ressourcen verbraucht und damit unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstört. Wie schaffen wir es, dieses System umzukrempeln und die Zerstörung aufzuhalten?
Harald Welzer: (lacht) Das ist nicht die One-Million-, sondern die One-Billion-Dollar-Frage! Ich glaube, die kann man so nicht beantworten. Die Sache ist ja in einer Hinsicht noch komplizierter: Wir haben im bestehenden System ganz viele Bestandteile, die sehr, sehr gut sind. Mit der Corona-Krise haben wir in der Schweiz oder auch in Deutschland gesehen, dass unsere Gesellschaften extrem gut funktionieren, und die basieren ja auch auf diesem Wirtschaftssystem. Wenn wir nun darüber nachdenken, wie wir das Ganze transformieren, dann müssen wir doppelt denken: Was müssen wir bewahren? Und was müssen wir transformieren, damit auch das, was gut läuft, weiterhin gut laufen kann?
Ohne fundamentale Transformation wird es aber nicht gehen. Müsste man dafür nicht den Kapitalismus abschaffen?
Selbst wenn man es müsste, würde es nicht geschehen. Die Welt gestaltet sich bekanntlich nicht nach den Wünschen von Philosophen, sondern nach gewachsenen Machtverhältnissen und Interessen. Insofern hat man es sowieso mit einem langsamen Prozess zu tun, der allenfalls durch bestimmte Ereignisse beschleunigt wird. Vielleicht sehen wir gerade im Zusammenhang mit der Corona-Krise einige Elemente dessen, was wir für die Weiterentwicklung der Gesellschaft brauchen können.
An welche Elemente denken Sie beispielsweise?
Der offensichtlichste Aspekt ist sicherlich eine ganz neue Sicht darauf, welche Berufe systemrelevant sind. Oder die Verletzlichkeit wegen den globalisierten Lieferketten. Aktuell sehen wir in Deutschland gerade am schlechten Beispiel der Fleischindustrie, dass wir unsere Nahrungsmittelproduktion grundsätzlich verändern müssen.
Für die gesellschaftliche Weiterentwicklung verwenden Sie die Wendung «Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt». Wie meinen Sie das?
In einer modernen offenen Gesellschaft wie der deutschen oder der schweizerischen leben wir auf dem höchsten Niveau, das es menschheitsgeschichtlich je gegeben hat, und zwar in materieller wie in immaterieller Hinsicht: Wir haben – auch das zeigt die gegenwärtige Krise – ein historisch noch nie erreichtes Mass an Lebenssicherheit und gleichzeitig an persönlicher Freiheit und politischer Partizipation. Das ist das Ergebnis eines zivilisatorischen Prozesses, und mir geht es darum, diesen fortzusetzen. Aber um diesen Prozess fortsetzen zu können, müssen wir unser zerstörerisches Naturverhältnis verändern.
Sie plädieren in diesem Zusammenhang für einen neuen Realismus. Leben wir denn heute illusionär?
Ja, klar, wir leben in einer ganz grossen Lebenslüge: in der Illusion, dass man im 21. Jahrhundert weitermachen kann wie im 20. Aber das Klima genauso wie das Artensterben und vieles mehr zeigen uns: Das ist einfach unmöglich! Deshalb ist die Aufrechterhaltung des «business as usual» eine Illusion.
Die Illusion, dass wirtschaftliches Wachstum immer weitergehen kann?
Genau. Grenzenloses Wachstum ist in einer begrenzten Welt nicht möglich.
Wir wissen sehr viel über die Umweltzerstörung, insbesondere über die Klimaerwärmung. Auch besteht ein gewisser politischer Konsens über die Notwendigkeit, die CO2-Emissionen zu reduzieren. Trotzdem passiert wenig. Zwischen Wissen und Handeln gibt es eine grosse Diskrepanz. Warum?
Erstens, weil man keine grosse Motivation zur Veränderung hat, wenn die Verhältnisse scheinbar ganz gut sind. Veränderung heisst, man muss sich bewegen, und das will man nicht. Das ist der trivialste Grund. Zweitens sind Gesellschaften nach Interessen strukturiert, und Veränderungsforderungen tangieren immer Interessen. Am deutlichsten sieht man das bei der Mineralöl- und der Autoindustrie. Beides sind Wirtschaftsformen, die so stark an die individuellen und gesellschaftlichen Aufstiegsgeschichten des 20. Jahrhunderts geknüpft sind, dass für deren Vertreter Änderungen ganz unvorstellbar sind. Sie wehren sich mit Händen und Füssen dagegen und haben grossen politischen Einfluss. Insofern ist es ein schwieriger politischer Prozess, die Reduktion von Emissionen zu erkämpfen.
Welche Rolle spielen positive Zukunftsvorstellungen in diesem Prozess?
Im Moment leider gar keine. Wenn man über eine sozial-ökologische Transformation spricht, steht sofort der Begriff «Verzicht» im Raum. Das passiert, weil man den Status quo verabsolutiert. Wenn wir aber positive Zukunftsgeschichten hätten, hätten Menschen eine Motivation, mitzumachen und Veränderungen proaktiv zu gestalten. Wir könnten uns doch Gedanken darüber machen: Wie sieht denn eine Welt aus, in der weniger verbraucht wird? Hat die vielleicht mehr Lebensqualität? Macht es dann viel mehr Spass zu reisen als jetzt? Ernährt man sich vielleicht besser und gesünder? Solche Bilder haben wir nicht, weil fast nur negativ argumentiert wird und nicht positiv. Ohne die Idee einer besseren Zukunft kann man das zivilisatorische Projekt der Moderne aber nicht fortsetzen.
Warum mangelt es uns an positiven Argumenten und Zukunftsbildern?
Zum einen, weil wir im Vergleich zu dem, was Menschen sich vor hundert Jahren vorgestellt haben, bereits in einer Utopie leben. Unsere Lebensverhältnisse haben sich innerhalb von zwei, drei Generationen unendlich stark verbessert. Zum anderen haben sich unsere Umfeldbedingungen in den letzten Jahrzehnten so stark verändert, was die ökologische Situation, die Geopolitik, die politische Landschaft im Inneren oder die Migration betrifft, dass Politik nur noch an der Erhaltung des Status quo operiert, aber keinerlei Zukunftsvision zu bieten hat. Das ist ein sehr, sehr grosses Defizit. Deshalb kommen wir uns vor wie ein grosser Reparaturbetrieb an der Gegenwart, in dem es ziemlich muffig ist. Wenn wir aber die Türen und Fenster zur Zukunft öffnen würden, käme wieder frische Luft in den Laden.
Sie bezeichnen Wünsche und Träume als Produktivkräfte von Zukünftigkeit. Wie meinen Sie das?
Nehmen wir beispielsweise die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte». Es ist doch ein Traum, dass alle Menschen auf der Welt die gleichen Rechte haben. Auch wenn er noch nicht weltweit Wirklichkeit geworden ist, sieht man an diesem Beispiel doch, wie ein Traum produktiv wird. Genauso an anderen Beispielen, etwa am Bekämpfen von Krankheiten oder von Hunger oder an den fundamentalen Verbesserungen im Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Solche Sachen wurden erträumt, und wenn niemand sie erträumt hätte, wären sie nie Wirklichkeit geworden. Der Traum ist zwar keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für gesellschaftliche Weiterentwicklung. Man muss sich etwas anderes vorstellen können.
Die Zukunftsszenarien in Ihrem Buch «Alles könnte anders sein» zeigen, wie soziale und ökologische Fragen stets miteinander verknüpft sind. Können Sie das am Beispiel der Mobilität erläutern?
Wir haben heute ja unglaublich gute Möglichkeiten, Mobilität anders zu organisieren als über motorisierten Indivi dual verkehr. Das geht grossartig mithilfe der Digitalisierung und mit entsprechenden Verkehrsmitteln. Man könnte zum Beispiel überall kostenlosen öffentlichen Verkehr organisieren, und da kommen die Elemente Ökologie, Freiheit und Teilhabe zusammen: Man hätte eine andere, gerechtere Gesellschaft, weil alle gleichermassen an Mobilität teilhaben könnten, und gleichzeitig würde man die Ziele der Verringerung des Naturverbrauchs, der Emissionsreduzierung und so weiter mit erhöhter Lebensqualität verbinden. Dafür muss man nur eins machen: das Auto abschaffen.
Das würde auch neue Möglichkeiten für die Gestaltung des öffentlichen Raums eröffnen.
Ja, wenn die individuelle Mobilität stark reduziert wird, gewinnt man Fläche zurück. In den Debatten in Deutschland kommt erstaunlicherweise überhaupt nicht vor, dass sich sehr teure Städte wie München leisten, zwölf Prozent ihrer Fläche für parkende Autos bereitzustellen – und je teurer die Städte sind, desto mehr Parkraum stellen sie bereit – was verrückt ist, denn gleichzeitig führen wir eine intensive Diskussion über die Erhöhung der Immobilienpreise und die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsgruppen. Aber kein Mensch spricht über die Flächen, die wir für parkende und mehr noch für fahrende Autos verbrauchen.
Zudem ist öffentlicher Raum für die Demokratie ein ganz zentrales Gut. Gerade in digitalen Zeiten braucht es analoge Räume des Zusammentreffens. Wir merken jetzt beim Social Distancing in der Corona-Krise, wie extrem wichtig es für eine vitale Gesellschaft ist, dass man zusammenkommen kann. Das ersetzt die Digitalisierung nicht. Sie ist lediglich eine Überbrückung, die einem nach ein paar Wochen auf die Nerven geht. Und die analogen Räume des Zusammentreffens kann man in der autofreien Stadt ausbauen.
Aber wie lassen sich autofreie Städte realisieren?
Durch Modelle. Wie beispielsweise Kopenhagen, wo man mit der Reduktion des Autoverkehrs relativ weit vorangekommen ist, oder wie die sogenannten Superblocks in Barcelona, wo man einzelne Stadtviertel so organisiert, dass fast kein Individualverkehr mehr stattfindet. So kann man zeigen, wie es funktioniert und dass es attraktiv ist. Die Leute fühlen sich da wohl und finden es gut.
Utopien lassen sich also eher verwirklichen, wenn sie anhand von Beispielen erlebbar werden?
Genau. Reden kann man viel, aber immer im Konjunktiv. Doch wenn ich ein reales Beispiel habe und sagen kann: «Schaut euch an, wie es funktioniert!», dann ist das natürlich viel überzeugender als ein Szenario.
Um die zivilisatorischen Errungenschaften zu erhalten und weiterzuentwickeln, braucht es eine gut funktionierende Wirtschaft. Aber das auf unbegrenztes Wachstum ausgerichtete, kapitalistische System ist nicht zukunftstauglich. Was ist denn Ihrer Ansicht nach ein realistisches und zukunftsfähiges ökonomisches Szenario?
Die Frage müsste man an die Ökonomik stellen, die ja in dieser Hinsicht sanft schläft. Ein wichtiger Schritt wäre, dass in einem sozial und ökologisch aufgeklärten Kapitalismus echte Preise bezahlt würden. Gegenwärtig bezahlen wir ja als Konsumenten in den meisten Fällen keine echten Preise, weil die Umweltkosten, die Gesundheitskosten, die Mobilitätskosten usw. nicht in das Produkt eingerechnet werden.
Weil sie externalisiert sind?
Ja, die zahlt jemand anders: Leute in anderen Regionen der Welt oder Leute, die noch gar nicht auf der Welt sind. Und wenn man diese Spielanordnung ändert und sagt: Diese Externalisierung von Kosten ist nicht mehr möglich, die wird global verboten, dann existiert der Kapitalismus weiterhin, aber Unternehmen müssen andere Parameter als heute in Rechnung stellen, wenn sie günstig produzieren wollen. Beispielsweise würden sie die Produktion eher lokalisieren anstatt globalisieren.
Es ist auch interessant, dass wir durch die Corona-Krise ein Bewusstsein für Lieferketten bekommen haben. Es hängt mit den grossen Vorteilen der Globalisierung zusammen, dass man Produktion in die entferntesten Orte der Erde auslagern kann und über tausend Stationen das Produkt trotzdem erhält. Und mit der Krise hat man gelernt, dass dies zur Katastrophe werden kann. Also reden wir doch darüber, ob es nicht zivilisatorisch viel besser wäre, die Produktion in bestimmten Bereichen wieder zu lokalisieren, was auch einen unmittelbaren, positiven Effekt auf Umwelt und Klima hätte.
Sie wirken generell sehr zuversichtlich, was die Machbarkeit von positiven Veränderungen angeht. Worauf gründet diese Zuversicht?
Wir dürfen auf dem historisch höchsten Niveau mit den grössten Handlungsspielräumen leben, die es jemals gegeben hat. Was sollte einen daran nicht zuversichtlich stimmen?
Die düsteren Prognosen bezüglich Klimawandel.
Aber das ist ja nicht ausweglos und aussichtslos! Daraus kann man nur den Schluss ziehen: Jetzt ist Handeln dringend nötig. Ich glaube, es gab in der Menschheitsgeschichte schon viele Phasen und Gründe für tiefe Verzweiflung, und trotzdem ist meistens eine Verbesserung erkämpft worden. Und heute haben wir keinen Grund für Verzweiflung. Also müssten doch die Chancen für das Erkämpfen des Besseren grösser sein denn je.