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12.06.2024 von Roland Fischer

Willkommen im globalen Dorf

Ist die Welt mit dem Internet zusammengeschrumpft oder im Gegenteil fragmentiert worden bis zur voll­kommenen Unübersichtlichkeit? Es ist nicht ganz einfach, das Raumgefühl im Digitalen korrekt zu be­schreiben. Also noch mal zurück zum einflussreichen Medientheoretiker Marshall McLuhan: Vor mehr als 50 Jahren entwickelte er die Vorstellung von digi­talen Stammesgesellschaften.

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Illustration: Claudine Etter

Im November sind Wahlen in den USA. Bedeutungsvolle Wahlen. Es ist ja immer ein wenig ungerecht, alte ­Zitate von Gegenwartsdeutern und Zukunftspropheten hervorzukramen wie dieses hier aus dem Jahr 1969 (­erschienen im «Playboy», das damals noch ein gesellschaftspolitisch relevantes Magazin war): «In unserer Software-Welt unmittelbarer elektronischer Kommunikationsübertragung verändert sich die Politik vom alten Modell der politischen Repräsentation hin zu einer neuen Form von spontaner und sofortiger gemeinschaftlicher Beteiligung. (...) Wahlen, wie wir sie heute kennen, werden keine Bedeutung mehr haben.» Dieser festen Überzeugung war der Medientheoretiker Marshall McLuhan, ein akademisches Enfant terrible, von der Fachwelt lange nicht ernst genommen. Aber nie um eine knackige Deutung des Jetzt verlegen.

Fernsehen: Beginn einer kulturellen Revolution
Seine Ideen aus der Urzeit der digitalen Revolution hatten es allerdings in sich. Am prägendsten sollte vielleicht der Begriff des «globalen Dorfs» werden, in das sich die Welt durch «die neue elektronische Interdependenz» verwandelt, wie es McLuhan ein wenig umständlich formulierte. Der Begriff wird bis heute gern gebraucht, um die Distanzlosigkeit im Digitalen zu beschreiben, die Möglichkeit, alles jederzeit zu wissen und mit Menschen überall auf der Welt in unmittelbarem Austausch sein zu können. Der mitteilsame Facebook-Freund aus Australien: fast so etwas wie ein Nachbar; die Telegram-Gruppe zu veganem Aktivismus: ersetzt den engen Freundeskreis. McLuhan kannte davon natürlich noch nichts, als er in den frühen 1960er-Jahren seine Ideen entwickelte. Damals war er noch ganz vom Fernsehen beeindruckt, als einem Medium, das «eine starke Beteiligung und Einbeziehung der ­Gesamtperson» verlange und «unser allgemeines Bewusstsein für Sinn und Form des Lebens und der ­Weltgeschehnisse bis zur äussersten Empfindlichkeit gesteigert» habe. Seltsam, das 60 Jahre später zu lesen. Aber vielleicht hatte er ja recht, dass die kulturelle Revolution schon mit dem Fernsehen eingeläutet worden war. Dessen Erfolg markierte für McLuhan das Ende der auf Schrift basierenden «Gutenberg-Galaxie», die uns Aufklärung, analytisches Denken und distanziert objektive Weltbetrachtung gebracht hatte. Nun begann, wie der Medientheoretiker glaubte, eine neue Zeit, die uns wieder nah an den zivilisatorischen Ursprung bringen würde. Dafür prägte er den Begriff der «Retribalisierung», der Wiedervereinigung der Menschen «in einem neuen Zustand vielfältiger Stammesexistenzen». Der alphabetisierte Mensch sei ein entfremdeter, verarmter Mensch, glaubte McLuhan und setzte diesem den «retribalisierten» Menschen gegenüber, der «ein viel reicheres und erfüllteres Leben führen kann – nicht das Leben einer geistlosen Drohne, sondern das eines Teilnehmers an einem nahtlosen Netz der gegenseitigen Verbundenheit und Harmonie».

Streit wird belohnt
Nun ja, «geistlose Drohnen». So klingt das sonst eher, wenn es um die Belohnungszentren der Teenies geht, die von den Social-Media-Algorithmen nahezu perfekt gekitzelt werden, sodass sie Stunden um Stunden durch endlose Feeds voller Belanglosigkeiten scrollen. Aber muss man das unbedingt kulturpessimistisch sehen? Lebt es sich nicht vielleicht ganz gut, aufgehoben im globalen Dorf, in der digitalen Stammesgesellschaft? Philipp Meier kennt sich damit aus, er ist Social-Media-Spezialist und Community Developer der Nachrichten- und Informationsplattform swissinfo.ch. Angesprochen auf McLuhans schöne neue elektronische Welt, ist auch er skeptisch, zunächst: «Wenn ich ‹tribe› höre, dann denke ich an Polarisierung.» Es gehe auf den digitalen Kanälen eigentlich immer bloss um die eine Frage: Welchem Stamm («tribe») gehört man an, «deinem oder meinem»? Dies wundere ihn angesichts der Funktionsweisen der Algorithmen nicht, sagt Meier, auch er finde sich Mal für Mal «in diesen Strudeln» wieder. Es seien immer die heftigen Debatten, die zuoberst aufpoppten, erklärt der Spezialist weiter: «Streit haben, eine emotio­nale Auseinandersetzung führen – das wird belohnt.»

Die Bubble als geschützter Ort
Das wusste auch schon McLuhan, seine elektronische Utopie war eine widersprüchliche (wie überhaupt seine Ideen nie stringent waren und es auch nicht sein wollten): «Das globale Dorf ist ein Ort mit sehr schwierigen Schnittstellen und sehr aggressiven Situationen.» Keine heile Welt also. Auch David Bosshart, Leiter des Gottlieb-Duttweiler-Instituts, sagte kürzlich in einem Interview, moderne «tribes» würden vor allem durch Gefühle getrieben und gäben im Alltag wenig Halt; und: «Um moderne Stämme zusammenzuhalten, müssen die Emotionen daher ständig kochen – geteilte Emotionen verbinden, daran hat sich seit den Jägern und Sammlern nichts geändert.» Dies sei Fluch und Segen zugleich, sagt Social-Media-Spezialist Philipp Meier. In der digitalen Unübersichtlichkeit fänden sich viele Minoritäten und Subkulturen zusammen, Social Media habe eine identitätsstiftende Wirkung. Anstatt von Stämmen spricht Meier lieber von «Bubbles». Auch diese Metapher hat inzwischen zwar eine negative Konnotation: Man verbindet damit die Fragmentierung der Öffentlichkeit, die Gefährdung des demokratischen Austauschs, die Abschottung der Meinungsräume. Meier hingegen stellt sich Bubbles gern als «geschützte Orte» vor, zum Beispiel für queere Menschen. So habe zum Beispiel die Autorin und Neu-Nationalrätin Anna Rosenwasser einen solchen Raum geschaffen («oder meinetwegen auch einen Stamm gegründet»), wo sich alle daheim fühlen könnten, die in der öffentlichen Wahrnehmung sonst kein Zuhause hätten. Solche positiven Beispiele würden in der medialen Öffentlichkeit viel zu wenig beleuchtet, findet Meier. Es habe kaum eine Analyse dazu gegeben, wie Rosenwasser aus dieser Bubble heraus sehr erfolgreich einen Wahlkampf geführt habe. Anna Rosenwasser ist, wenn man so will, die erste Influencerin im Bundeshaus. Und dieses Kleinräumige, das plötzlich im Grossen spürbar werde, funktioniere durchaus global, erklärt Meier und erwähnt als Beispiel Musik-Memes mit spezifischen Tänzen, die auf Tiktok viral gehen. Wenn «gefühlt alle Kulturen zum Gleichen tanzen», dann sei das für ihn eine neue Art von Völkerverständigung – vielleicht sogar das, «was die Uno einmal hätte sein wollen»?

Zwingend zurück zum Stammeswesen?
Das Konzept der Retribalisierung wendet auch Te­bu­ho Winnie Kanyimba von der Universität Basel an. Retribalisierung beziehe sich auf die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, sagt die Soziologin. Dabei spielten Faktoren wie «gemeinsame Ethnizität, gemeinsame Kultur oder gemeinsame Werte» eine Rolle. In ihrer Forschung interessiert sich Kanyimba zum Beispiel für Einbürgerungsverfahren – die Mechanismen der Aufnahme in den «Stamm» einer Gemeinde. Die Stammesmetapher bleibt dabei eine zweischneidige Sache. Verbindend oder ausschliessend? «Der Begriff ‹Stamm› wurde verwendet, um afrikanische Gemeinschaften als primitiv oder rückständig zu beschreiben», sagt die Soziologin. Es sei wichtig, sich diesem negativen Bild kritisch zu nähern und genau zu verstehen, wie sich diese Gemeinschaften organisiert hätten. Was man gemeinhin als Stamm bezeichne, könne in ganz verschiedenen Formen auftreten. 
Ganz unabhängig von digitalen Medientheorien hatte übrigens schon der französische Soziologe Michel Maffesoli vom sogenannten Neotribalismus gesprochen, und zwar in seinem Buch «The Time of the Tribes» aus dem Jahr 1988. Er war der Überzeugung, dass Gesellschaften sich immer stärker an Organisationsformen aus ferner Vergangenheit orientieren würden, wenn die modernen Kulturen und Institutionen an Strahlkraft verlören. Die postmoderne Ära würde deshalb zwingend zurück zum Stammeswesen finden. Wie auch immer man zu dieser Deutung stehen mag, diese Ära verlangt auf jeden Fall nach neuen Verhaltensweisen. Social-Media-Spezialist Meier sagt: «Wenn das dauernde Freund-oder-Feind zu heftig wird, dann schütze dich, stelle Kanäle auf lautlos.» Man müsse auch mal raus aus diesen Debatten, das gehöre zur Medienkompetenz. Und vielleicht einen Spaziergang in den Wäldern machen, da draussen vor dem globalen Dorf? 

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