Konsultiert man internationale Vergleiche, fällt die Schweiz stets durch die geringe Streikhäufigkeit auf. Dies belegt auch eine neue Statistik des Politikwissenschaftlers und Streikexperten Heiner Dribbusch von der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. Dribbusch hat unter Rückgriff auf nationale Statistiken, aber auch auf eigene Daten die Streiks in Europa untersucht. Danach belegt die Schweiz bei den arbeitskampfbedingten Ausfalltagen in den Jahren 2006 bis 2015 den drittletzten Platz. Hinter ihr rangieren nur noch die Slowakei und Lettland. Die vordersten Ränge belegen Frankreich und Dänemark. Auch wenn die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern relativ streikarm ist, nehmen die Arbeitsniederlegungen seit der Jahrtausendwende wieder deutlich zu. Aktuellstes Beispiel ist der Streik der Mitarbeitenden der Nachrichtenagentur SDA zu Beginn dieses Jahres. Dieser ist umso bemerkenswerter, als Medienschaffende nur selten zu kollektiven Kampfmitteln greifen. Auch sonst war in jüngster Zeit praktisch jeden Monat von Streikaktionen zu lesen. So streikten Taxifahrer, Angestellte eines Altersheims und Beschäftigte der ABB – alle in Genf. Das mag Zufall sein. Doch es ist offenkundig und zahlenmässig auch belegt, dass die Streikbereitschaft in der Westschweiz generell grösser ist als in der Deutschschweiz. Auch im Tessin wird öfter gestreikt. Arbeitskampf hat somit auch etwas mit der jeweiligen Kultur zu tun. Im Tessin streikten letzten Sommer auf dem Lago Maggiore sogar die Kapitäne von Kursschiffen.
Andreas Rieger spricht von einer «Renaissance der Streiks». Der ehemalige Co-Chef der Gewerkschaft Unia verfolgt die Arbeitskämpfe seit Jahren und führt auch Buch darüber. Rieger hat seit dem Jahr 2000 über 300 Arbeitskämpfe gezählt. Mehr als die Hälfte davon waren kurze Warnstreiks. Sie dauerten nicht länger als einen Tag, oft sogar nur wenige Stunden. Der längste Streik ereignete sich in der Giesserei Swissmetal in Reconvilier (BE) in den Jahren 2004 und 2006. Er dauerte insgesamt 38 Tage. Und der Streik bei den SBB-Werkstätten in Bellinzona im Jahr 2008 endete erst nach 33 Tagen.
Der Anstieg der Anzahl Streiks hat einerseits mit dem schwindenden Streiktabu zu tun. Lange herrschte die Meinung vor, Streiks seien in der Schweiz verboten. Seit das Streikrecht im Jahr 2000 in der Bundesverfassung verankert wurde, sind die Gewerkschaften zu einem offensiveren Vorgehen in Konflikten motiviert. Andererseits sind die vermehrten Streiks auch ein Spiegel der verschärften Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz. Charakteristisch für die heutige Situation ist, dass quer durch alle Branchen hindurch gestreikt wird. Selbst dort, wo es wegen der starken Vereinzelung und des fehlenden gewerkschaftlichen Bewusstseins niemand für möglich gehalten hätte. So verweigerten die Pflegerinnen einer privaten Spitexfirma in Küsnacht im Juni 2014 zwei Wochen lang die Arbeit, weil sie Überstunden nicht ausbezahlt erhielten. Die geschilderten Streiks im Detailhandel beim Grossverteiler Spar sind ein weiteres Beispiel. Oder auch die Angestellten von Merck Serono in Genf – lauter hoch qualifizierte WhiteCollar-Beschäftigte, die im Sommer 2012 fünf Tage lang gegen die Schliessung ihres Betriebes protestierten. Es gibt heute praktisch keine Wirtschaftszweige mehr, in denen sich Arbeitnehmende nicht gegen Zumutungen aus der Chefetage zur Wehr setzen würden.