Einkommen, Vermögen und zum Teil auch Erbschaften werden in allen 26 Kantonen der Schweiz sehr unterschiedlich besteuert. Unser Steuersystem ist überaus föderalistisch geprägt und historisch gewachsen. Der Bund zieht zwar ebenfalls eine direkte Steuer ein. Diese gilt aber – man lese und staune – nur befristet. Zurzeit bis 2035, dann braucht es wieder eine Volksabstimmung.
Diese Zurückhaltung, dem Bund dauerhaft das Recht zur Eintreibung direkter Steuern zu übertragen, geht auf die Gründung des Bundesstaates 1848 zurück. Damals wuchs die moderne Schweiz zusammen, und Abgaben auf Brücken, Wege und zwischen den Kantonsgrenzen fielen weg. Der Bund erhielt zunächst nur indirekte Steuern wie etwa Zölle und Einnahmen aus dem Postwesen und für die Herstellung von Schiesspulver. Direkte Steuern waren den Kantonen vorbehalten. Das Beispiel zeigt, dass ein Blick zurück sich durchaus lohnt, um das heutige Steuersystem zu verstehen.
Steuern als «Stütze»
Das Wort «stiura» bedeutete laut dem digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache im Althochdeutschen «Stütze», «Pfahl» und ab dem Jahr 900 eben auch «Abgabe an die Obrigkeit». Ab dem Mittelalter existierten auf dem Gebiet der heutigen Schweiz zahlreiche Feudalabgaben, die bekannteste war der Zehnt. «Je nach Region und vorherrschender Produktionsweise musste ein Zehntel der Getreide- und Weinernte, der Produktion von Käse, Gemüse oder Textilpflanzen abgegeben werden», schreibt die Historikerin Gisela Hürlimann im lesenswerten Aufsatz «Wozu Steuern» in «NZZ Geschichte» (Ausgabe vom April 2021).
Ursprünglich wurde der Zehnt an Bischöfe und Klöster entrichtet, nach der Reformation ging er meist an weltliche Behörden über. Steuern waren auch der Grund für Aufstände, dies zeigt der Bauernkrieg vom 1653. Die aufmüpfigen Bauern zogen jedoch den Kürzeren, und viele Anführer wurden kurzerhand exekutiert.
Mit dem Ende des Ancien Regimes in der Schweiz 1798 wurden die alten Feudallasten zumindest vorübergehend abgeschafft, mit der Gründung des Bundesstaats 1848 waren sie ganz vom Tisch. Und da der Bund wie erwähnt das Postwesen und auch das Münzregal übernahm, brauchten die Kantone neue Einnahmen, wie Ruedi Brassel auf Anfrage erläutert. Brassel ist pensionierter Historiker und hat am Historischen Lexikon der Schweiz am Eintrag unter dem Stichwort «Steuern» mitgearbeitet.
Die meisten Kantonen besteuerten damals vor allem das Vermögen – mit einem proportionalen Steuersatz. Einkommenssteuern waren zunächst weniger verbreitet. Basel-Stadt war der erste Kanton, welcher 1840 eine Besteuerung des Gesamteinkommens mit Progression einführte: Wer mehr verdiente, musste auch einen proportional höheren Anteil bezahlen. Basel-Stadt brauchte dringend Geld, weil es nach der Trennung von Baselland 1833 einen Teil seines Staatsvermögens ausbezahlen musste. Viele weitere Kantone übernahmen eine solche Einkommenssteuer mit Progression, zum Teil aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gewisse Kantone kannten bis zu dieser Zeit sogar noch eine Kopfsteuer.
Einkommensunterschiede verringern
Waren Steuern bis dato primär erhoben worden, um den Staatshaushalt zu finanzieren, so verfolgten sie mit der Einführung einer Progression neu auch das Ziel, die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich zu verringern. Die progressive Einkommenssteuer wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts laut Hürlimann europaweit «zum Liebling der Liberalen und der sozialistischen Bewegung». «Beide Lager argumentierten mit der Steuergerechtigkeit», schreibt sie. Den Liberalen waren zudem die wirtschaftsfeindlichen Zölle und Gebühren ein Dorn im Auge, während die Linken sich an der unsozialen Wirkung indirekter Steuern auf den Verbrauch störten.
In der Schweiz brauchte der Bund während des Ersten Weltkriegs dringend Geld, und die aus diesem Grund eingeführte Kriegssteuer war ebenfalls progressiv ausgestaltet. Regelmässig treibt der Bund direkte Steuern seit dem Zweiten Weltkrieg ein. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts kamen zahlreiche weitere nationale Steuern dazu. Etwa die Tabaksteuer, die Verrechnungssteuer (zur Eindämmung der Steuerhinterziehung) und als wichtigste neue Einnahmequelle die Warenumsatzsteuer. Diese wurde 1995 von der Mehrwertsteuer abgelöst und erfasst seither neben Waren auch Dienstleistungen.
Kitt der Gesellschaft und Mittel gegen Krisen
Ganz grundsätzlich wurden in der Schweiz wie auch in andern Staaten Steuern zunehmend auch als Kitt der Gesellschaft betrachtet, als Mittel gegen Krisen und gegen die soziale Not, wie Hürlimann schreibt. Damit waren sie nicht länger bloss zur Sicherung staatlicher Macht da und zur Finanzierung von Kriegen – ihrem ursprünglichen Zweck. Diesen neuen Geist atmet auch das Motto, das seit 1930 über dem Eingang der US-Bundessteuerbehörde in Washington prangt: «Steuern sind der Preis, den wir für eine zivilisierte Gesellschaft bezahlen.» Eine nationale Einkommenssteuer kennen die USA übrigens seit 1913, Deutschland seit 1920.
Seit den 1990er Jahren hat die Umverteilung in der Schweiz im Zuge der Deregulierung an Rückhalt verloren. Zeugnis davon ist etwa die Abschaffung oder Reduktion der Erbschaftssteuern in den meisten Kantonen. «Zum Teil hat sich der Umverteilungsgedanke sogar in sein Gegenteil verkehrt», sagt Brassel. «Kantone wie Zug, Schwyz und Nidwalden senkten ihre Einkommens- und Vermögenssteuer stark, um Gutverdienende aus anderen Kantonen anzulocken.» Obwalden wollte gar eine degressive Steuer einführen, die hohe Einkommen zu einem tieferen Satz besteuert hätte. Da schlug vor knapp 20 Jahren die grosse Stunde von Josef Zisyadis, Nationalrat der Partei der Arbeit (PdA). Er zog von Lausanne nach Obwalden, um Gleichgesinnte zu suchen und eine gerichtliche Klage einzureichen. Das Bundesgericht stoppte diese degressive Steuer schliesslich, seither gilt in Obwalden eine sogenannte Flatrate-Tax, welche Arme und Reiche nach dem gleichen Steuersatz belastet.
Wettbewerb verlagert sich auf Unternehmenssteuern
Bis zu einem gewissen Grad Einhalt geboten hat der extreme Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen auch der neue Finanzausgleich im Jahr 2008. Jedes Jahr werden Milliarden von den reichen Kantonen und auch vom Bund zu den weniger begüterten umgeleitet.
Der Wettbewerb zwischen den Kantonen hat sich unterdessen stärker auf die Unternehmenssteuern verlagert. Für grosse, international tätige Firmen gilt zwar in der Schweiz die Mindeststeuer der OECD von 15 Prozent, die Bevölkerung hat letztes Jahr zugestimmt. «Es gibt unter den Kantonen jedoch einen Wettbewerb um Förderungsmöglichkeiten und Anschubfinanzierungen von Unternehmen», sagt Historiker Brassel, der zeitweilig auch SP-Kantonsparlamentarier in Baselland war.
Auch die Besteuerung natürlicher Personen wird weiterhin für Kontroversen sorgen. So möchten die Juso mit einer Volksinitiative Erbschaften von Superreichen schweizweit stärker besteuern – für den Umbau zu einer grünen Wirtschaft. Auf europäischer Ebene gibt es ebenfalls eine entsprechende Bürgerinitiative. Steuern bleiben also umstritten, gerade im Hinblick auf die ökologischen Herausforderungen.